Internationale Politik und Gesellschaft
International Politics and Society 1/2003

 

 

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Israel: Ethnischer Staat und Pluralistische Gesellschaft

Natan Sznaider*


Israels extrem heterogene Gesellschaft braucht für ihren Zusammenhalt die Klammer der ethnischen Identität. Ein von Liberalen angestrebter, säkular neudefinierter Staat kann die disparaten jüdischen Bevölkerungsgruppen nicht integrieren. Aber der jüdische Staat hat kein Konzept für seine Araber. Dass ihm von außen die Legitimität mehr und mehr abgesprochen wird, stärkt wiederum die Kohäsion im jüdischen Staatsvolk.

 

Die Verankerung von Israels Legitimität in der globalen Moralität

Es gibt wenige Staaten, die ihre Existenz so sehr der internationalen Moralität verdanken wie Israel. Zwar ist das Bestreben, Juden vor Antisemitismus zu schützen, eine der Existenzgrundlagen des Staates Israel. „Nur ein starkes Israel kann einen erneuten Holocaust verhindern“ wurde zu einem der Pfeiler der israelischen Identität. Aber die Verurteilung des Holocaust und des ihn begründenden Antisemitismus verdankt seine Kraft einer Revolution der globalen Moralität. Jenseits der zionistischen Bemühungen der Juden, sich selbst als Nation zu definieren, hat die jüdische Nation ihre internationale Legitimation durch diese weltweite Verurteilung erhalten. Ohne sie kann sich Israel nur auf die gemeinsame Religion oder ethnische Identität berufen, eine Legitimationsbasis, die vom Großteil der Welt nicht akzeptiert wird.

Die Verankerung von Israels staatlicher Legitimität in der globalen Moralität des
Anti-Antisemitismus impliziert, dass dieser Staat mit höheren moralischen Maßstäben gemessen wird als andere Staaten. Durch den Holocaust wurde Antisemitismus zum Gesinnungsverbrechen par excellence, damit aber zu einem Verbrechen, das auch Verpflichtungen an die ehemaligen Opfer stellt. Das globalisierte Verständnis der Holocaust-Erinnerung nimmt Opfern und Tätern ihre ethnische Zugehörigkeit und sieht sie in allgemeinen Kategorien von Recht und Unrecht. Auch Israel sieht sich als rechtlicher und moralischer Nachfolger der Opfer. In diesem Sinne wird von den jüdischen Israelis eine moralische Sensibilität eingefordert, wie sie von anderen Völkern nicht verlangt wird. So kann Israel von der Welt nie erwarten, als ganz normaler Staat behandelt zu werden, und die jüdische Existenz in Israel kann nie eine normale sein.  Das heißt andererseits auch, dass die Existenz Israels der lebendige Beweis dafür ist, dass globale Moralität und Rechtsvorstellungen sich tatsächlich durchsetzen können. Die Existenz des Staates kommt einer schon fast metaphysischen Gerechtigkeit gleich.

Aber: Israel bekommt heute Konkurrenz durch die Palästinenser, die versuchen, ihre staatliche Existenz aus der selben Quelle einer globalen Moral zu schöpfen, nämlich durch den Vergleich Israels mit den Nazis und den Versuch, sich als die neuen Juden des 21. Jahrhunderts darzustellen. Auch das ist Teil eines neuen Globalgedächtnis des Holocaust. Das heißt aber auch, dass die historischen Gedächtnisse von Israel auf der einen Seite und der beobachtenden Welt auf der anderen Seite sich auseinander dividieren. Damit entsteht eine Diskrepanz von Innen- und Außenansicht, die sich auch im Innern der israelischen Gesellschaft reproduziert.

 

Friedensprozess und innerisraelischer „Kulturkampf“

Israel ist noch immer ein "von Feinden umzingelter Staat", und die soziologischen Gesetze des „feindlosen Staates“, wie man sie heute in vielen Gesellschaften Europas vorfindet, treffen dort nicht zu. Dazu kommt noch der spezifisch jüdische Charakter des Staates, eine Verknüpfung zwischen Staat, Staatsbürgerschaft und Religion, die Israel klar von den nachaufklärerischen Staaten des sogenannten Westens unterscheidet. Damit können die nicht-jüdischen Bürger im besten Falle gleichberechtigt sein, mehr aber auch nicht. Aus dem grundlegenden Selbstverständnis des Staates sind sie ausgeschlossen.  Die gesellschaftlichen Spannungen und Widersprüche Israels können daher von zwei verschiedenen „Bürgermodellen“ her verstanden werden: Auf der einen Seite steht der kosmopolitische, individualisierte, liberale Bürger, auf der anderen der religiöse und traditionalistische Wehr- und Gottesbürger. Das ist einer der Hauptgegensätze des Staates. 

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Der Friedensprozess war nicht nur ein politischer Prozess, wo zwei Parteien Konfliktbeseitigung betreiben, sondern gleichzeitig ein kultureller Kampf der Moderne gegen die Tradition.
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So lassen sich auch die Spannungen des sogenannten Friedensprozesses verstehen. Als dieser 1992 begann, wurde Israel von einer Koalition aus Linksliberalen und Sozialdemokraten regiert. Diese Koalition war nicht nur die treibende Kraft in dem damals beginnenden Friedensprozess zwischen Israelis und Palästinensern, sie war darüber hinaus eine der wenigen Regierungen, die ohne religiös orientierte Koalitionspartner auskam. Das sollte symbolische Konsequenzen haben. In den Jahren des Friedensprozesses wollte die Regierung ganz bewusst ein nicht-traditionelles Israel schaffen, nämlich ein Israel, das verbraucherorientiert, „high-tech“ und modern sein sollte. Die Losung war der „Neue Nahe Osten“, die zur Zauberformel des Friedenslagers wurde: Israel als "feindloser" Staat. Auch ohne den bewussten Rekurs auf die Ideengeschichte wurde dieser Friedensprozess durch die frühbürgerlichen Theorien über die pazifizierenden Wirkungen des Kapitalismus gesteuert, wo internationale Handelsbeziehungen und Kosmopolitismus Krieg und regionalen Nationalismus ablösen sollten.

Gerade in Israel sind in den letzten Jahren neue soziale Gruppen aufgetaucht, man kann sogar sagen: neue Helden einer individualisierten Kultur. Für diese Menschen wurde „Lebensstil“ zum neuen Projekt. In gewissen Nischen der Gesellschaft haben Individualisierungsschübe stattgefunden, besonders in Israels Konsumhauptstadt Tel Aviv. Diese individualistischen Lebensstile kämpfen gegen die Überreste einer immer noch funktionierenden kollektivistischen Identität, sie stehen jeder Art von traditioneller oder religiöser Ereiferung ablehnend gegenüber. In diesem Sinne kann man diese Individualkultur auch als Gegenmodell verstehen – als Gegenmodell zur Religion, das den Identitätsschwerpunkt auf Vergnügen und Gegenwartsbezogenheit legt, aber auch als Gegenmodell zur „bewaffneten Nation“ mit dem Schwerpunkt auf Lebens-, nicht auf Opferbereitschaft. Der Friedensprozess war daher nicht nur ein politischer Prozess, wo zwei oder mehrere Parteien Konfliktbeseitigung betreiben, sondern gleichzeitig ein kultureller Kampf der Moderne gegen die Tradition. Deshalb wurde der Friedensprozess vor allem von dem Teil der Bevölkerung unterstützt, der am meisten Ähnlichkeit mit westlichen „bürgerlichen“ Klassen hat. Für diese neuen Yuppies war die Aussicht auf mehr Freiheit und westliches Lebensgefühl das Hauptmotiv für die Unterstützung des israelisch-arabischen Friedensprozesses. Kaum ein Bürger westlicher Gesellschaften wäre heute noch freudig bereit, sein Leben oder das seiner Kinder für den Staat zu opfern. Dieser westlichen Situation des „feindlosen Staates“ sollte – wäre es nach den Liberalen gegangen – gefolgt werden.

Aber jeder politischen Aktion folgt eine soziale Reaktion. Dem Friedensprozess in seiner bisherigen kulturellen Einbettung wurde eine Absage erteilt. Menschen, die sich von den neuen Marktprozessen betrogen fühlen, begannen mit religiösen und ethnischen Bewegungen der Gegenmoderne zu sympathisieren, die die alte Regierung und die diese unterstützenden sozialen Gruppen rigoros ablehnen. Sie wählten kommunitaristisch orientierte Parteien, die politische Organisation mit lokaler Erziehungs-, Religions- und Wohlfahrtsarbeit kombinieren. Aber sie wählten nicht nur, sondern sie identifizieren sich kulturell mit diesen Strömungen.

Das liberale Projekt und die israelische Identität

Liberalismus beginnt mit der Todesangst. Das haben schon die Vorläufer des Liberalen Denkens wie Thomas Hobbes im 17. Jahrhundert gewusst, als sie angesichts des vom Kriege zerstörten Europas die theoretischen Grundlagen des liberalen Systems erkundeten. Die Todesfurcht sollte sich über Despotismus, Krieg und Gewalt hinwegsetzen. Eigennutz, nicht Opferbereitschaft, sollte zum neuen Antrieb gesellschaftlichen Zusammenlebens werden und die Basis des neuen Heldentums bilden. Dieser Liberalismus sollte auch die Grundlage der Versöhnung zwischen Palästinensern und Juden sein. Das Konzept des "Neuen Nahen Ostens" verhieß ja auch dieses liberale Paradies, wo man, sich über Ethnos hinwegsetzend, gemeinsam reich werden sollte. Dazu kommt noch, dass viele Israelis glauben, ihr Land sei Teil des sogenannten Westens, eine zivilisierte Insel inmitten der Barbarei, die einzige Demokratie im Nahen Osten.

Aber Demokratien existieren nicht losgelöst von ihrer Umgebung. Die wirklichkeitserzeugende Kraft der Gewalt erzeugte ein neues Universum in Israel, in dem liberale Grundprinzipien es zunehmend schwer haben. Es besteht daher die Gefahr, dass viele Bürger des Landes sich zunehmend radikalisieren; sie fallen auf ihre ethnische Identität zurück. Dies hat mit der Sprachlosigkeit des Liberalismus in Krisenzeiten zu tun. Der Liberalismus hat eine Feindbildaversion. Er kennt keine Feinde, sondern nur Partner. Toleranz und Völkerfreundschaft sind eng mit seinem Selbstbild verknüpft. Nach seinem Grundverständnis gilt Krieg als irrational und sollte durch vernünftiges Handeln beendet werden. Dieses liberale Credo bricht im Nahen Osten zusammen.

Es gibt natürlich Israelis, die sich einen säkularen oder neutralen Staat und eine dem entsprechende Kultur wünschen, und oft wird das amerikanische oder das französische Modell dafür beschworen. Die Frage bleibt aber offen, ob diese Modelle, sei es das amerikanische des Pluralismus und der Toleranz, oder sei es das französische eines dezidiert säkularen Staates, identitätsbildend für Israel sein können. Denn sie kommen schnell mit dem Modell des „jüdischen“ Staates in Konflikt. Dieser entsprang der zionistischen Revolution, einer Revolution, die einerseits einen neuen jüdischen Menschen auf eigenem Territorium begründen wollte, dies aber andererseits nur durch Berufung auf die alte jüdische Symbolik tun konnte. Ethnizität und Religion sind in Israel nicht zu unterscheiden. Der Zionismus war nie eine universale Ideologie, sondern wandte sich immer nur an eine bestimmte ethnisch-religiöse Gruppe. Nationale Symbole sind gleichzeitig religiöse Symbole. Das „Land Israel“ ist gleichzeitig säkulare Heimat und heiliger Boden. Als der Zionismus mit seiner nationalen Befreiungsidee Heimat schuf, befreite er zugleich das Heilige. Während also anderswo die Moderne die Religion als Integrationsfaktor untergrub, machte die jüdische Nationalbewegung die Religion zum zentralen Integrationssymbol. Ohne dieses kann der Staat Israel sich von innen heraus kaum legitimieren. Die säkulare „Normalisierung“ des jüdischen Volkes auf eigenem Territorium konnte nur durch Rückgriff auf eine religiöse Symbolik geschaffen werden.

Ein weiteres kommt hinzu: Aufgrund seiner immerwährenden Kriegsbereitschaft ist Israel immer noch eine „bewaffnete Nation“. Die Unterscheidung zwischen dem Militärsektor und dem Zivilsektor ist in der israelischen Gesellschaft sehr schwach. Militärisches Heldentum und seine Symbolik sind immer noch Teil der offiziellen Kultur Israels. Die Annahme, dass die Existenz Israels nur durch militärische Mittel garantiert werden kann, ist immer noch vorherrschend. Da fast jeder jüdische Bürger in der Armee dient, ist die Militärerfahrung ein integraler Teil des Selbstverständnisses der meisten Israelis. Der Wehrdienst verbindet Generationen, ethnische Gruppen, Klassen, Rechte und Linke sowie religiöse und weniger religiöse Menschen. Da die meisten israelischen Männer auch noch in der Reservearmee dienen, ist der „Wehrbürger“ ein allumfassender Aspekt der nationalen Identität. Wehrdienstverweigerung kommt in der israelischen Gesellschaft so gut wie nicht vor. Das bedeutet, dass die Bindungskräfte von Religion und Opferbereitschaft in Israel im Gegensatz zu anderen westlichen Ländern noch sehr stark sind. Hier herrscht nach wie vor die ethnische und nationalstaatliche Moderne, die sich in anderen westlichen Gesellschaften schon im Aufbruch befindet. 


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Während anderswo die Moderne die Religion als Integrationsfaktor untergrub, machte die jüdische Nationalbewegung die Religion zum zentralen Integrationssymbol. Ohne dieses kann der Staat Israel sich von innen heraus kaum legitimieren.
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Zwar ist der liberale Teil der Bevölkerung, der sich neuen hedonistischen Lebensentwürfen verschrieben hat, kriegsmüde geworden. Er stellt sich gegen die Wehrbürgerschaft, die dieses Land bis heute charakterisiert. Aber auch dieser Teil kann immer wieder aufs Neue mobilisiert werden.

Nun sah es lange so aus, als ob der Zionismus seine frühere Integrationskraft eingebüßt habe, aber die Kriegssituation hat die zionistische Identität reaktiviert. Der Friedensprozess hatte dazu geführt, dass die israelischen Gesellschaften nicht mehr die festgefügte Nation bildeten, die sie einmal waren. Zugleich verschärfte der durch den Friedensprozess geförderte Wohlstand die sozialen und kulturellen Gegensätze. Israel wurde zur sozial und kulturell gespaltenen Gesellschaft. Die militärische Reaktion auf den Friedensprozess kann jetzt die Gesellschaft wieder zusammenhalten.

Postzionismus: Versuch einer alternativen Identität

Unbeeindruckt davon entfaltete sich die neue intellektuelle Bewegung des sogenannten Postzionismus, die mit ihren akademischen und journalistischen Arbeiten das Unbehagen an der vorherrschenden Kultur zum Ausdruck bringen will. Westlich orientierte Universalisten enttradionalisieren sich aus dem israelischen Kollektiv heraus und versuchen es bewusst aufzulösen. Die westliche Modernität, die dominant, progressiv, zukunftsträchtig und bewundernswert sein soll, wird zum intellektuellen wie auch zum praktisch-handlungsbezogenen Leitmotiv. Identitätstragende Mythen werden zerstört, indem zum Beispiel die „glorreichen“ Kriege der Vergangenheit als Eroberungs- und Kolonialkriege neu interpretiert werden. Nationale Mythen werden als solche analysiert und damit ihrer mythischen Funktion beraubt.

Postzionistische Intellektuelle spielen eine wichtige Rolle dabei, den Modernisierungsprozess zu formen und eine neue Tradition zu erfinden. Diese neue akademische Protestkultur, die auch gerade in den ausländischen Medien oft und gerne zitiert wird und sich damit einen überrepräsentativen Eindruck verschafft,  ist auch Teil einer neuen Auffassung vom Staatsbürgertum, die das ethnische Prinzip der israelischen Identität ersetzen soll. Postzionisten suchen nach einer posttraditionellen Identität, einer israelischen Variante des Verfassungspatriotismus. Solidarität soll sich durch Praxis bestimmen, nicht durch Zugehörigkeit. Diese Praxis soll in Zivilität und aufgeklärtem Selbstinteresse ihre Wurzeln haben. Postzionismus hieße dann nicht nur intellektuelle Kultur, sondern auch Veränderung im Lebenswandel. Teil dieses Prozesses ist die Normalisierung des israelischen Kapitalismus. Enttradionalisierung heißt ja auch, dass Metanarrative unterlaufen werden, was zum Zusammenbruch von Konsens und Identität führen kann. Das trifft auch auf die israelische Gesellschaft zu. Für praktizierende Posttraditionalisten in Israel heißt das vor allem die Umarmung der westlichen Modernität inklusive dessen, was für einen universalistischen Lebensstil gehalten wird. Frühere Entbehrungen werden nicht mehr als patriotische Notwendigkeit hingenommen.

Die rechte israelische Analyse: Handeln und Gegenhandeln

Die israelische Rechte hat diese Formel jedoch nie akzeptiert. Sie war schon immer kompromisslos, weil sie von der Kompromisslosigkeit der anderen Seite ausging. Dreh- und Angelpunkt der Auseinandersetzungen war in ihren Augen nicht 1967, das Datum des Sechstagekrieges und der Beginn der Besatzung, sondern 1948 - die Staatsgründung. Oder noch klarer: die jüdische Existenz selbst. Als die palästinensische Führung in der letzten Verhandlungsrunde das "Recht auf Rückkehr" auf die Tagesordnung setzten (das heißt die Rückkehr der 1948 vertriebenen Palästinenser), schienen sie die Analyse der Rechten zu bestätigen, wonach es den Palästinensern nicht um die Besatzung der Gebiete gehe, sondern um die Illegitimität des Staates Israel. Die israelischen Liberalen verfielen in Schweigen und kamen zu der Einsicht, dass sie sich mit diesem Konflikt aus dem politischen Raum verabschieden müssen. Die Intellektuellen Israels sahen sich mit einer Gewalt konfrontiert, die zwar durch die israelische Besatzung ausgelöst war, sich aber längst von ihrem ursprünglichen Motiv losgelöst und verselbständigt hat. Der Terror verwandelte sich aus einer politischen Waffe in ein antipolitisches Instrument, das jegliche Kommunikation auslöscht. Verständnis beginnt da, wo die Gewalt aufhört, doch die anhaltende Gewalt hat langsam jedes Verständnis untergraben. Friedenswillige und kompromissbereite Israelis zogen sich aus der Öffentlichkeit zurück und begannen allen Ernstes zu überlegen, ob nicht die Rechte Recht hat - und sie selbst jahrelang einem Irrtum aufgesessen sind.

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Die Globalisierung Israels geht Hand in Hand mit seiner Re-Ethnisierung und Distanzierung von Europa.
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So bildete sich die Ungleichzeitigkeit der Gleichzeitigkeiten heraus, auf der die politischen Miss- und Unverständnisse, was Israel angeht, beruhen. Auf der einen Seite hatte sich in den letzten Jahren über die nationalstaatlichen Grenzen hinweg ein globales Gedächtnis konstituiert, transnational ausgeprägt in der Erinnerung an Holocaust, Völkermord, Sklaverei und Kolonialismus. Auf der anderen Seite ist im offiziellen israelischen Gedächtnis der Holocaust nach wie vor ein Verbrechen gegen das jüdische Volk. Die auf dem Nationalinteresse beharrende israelische Position definiert sich heute geradezu als Gegenstück zum globalen Kosmopolitismus. Gleichzeitig-ungleichzeitig hinkt das in Kategorien des 19. Jahrhunderts verfangene Israel dem 21. Jahrhundert hinterher. Von Beginn an wollte das sich gründende Israel das Exil als jüdische Existenzweise überwinden, wollte diese durch Ethnonationalismus aufheben. Wie gesagt, konnte sie dies aber nur im Rückgriff auf schon vorher existierende jüdische Symbolik.

Universale Moralvorstellungen haben daher in der israelischen Gesellschaft einen schweren Stand. „Universalisten“, wie die oben genannten Postzionisten können dann schon als Nestbeschmutzer und als „un-jüdisch“ gelten. Der Universalismus wird als der Versuch der nichtjüdischen Welt gedeutet, Juden ihrer kulturellen Identität zu berauben.  Die breite Unterstützung, die die israelische Regierung derzeit bekommt, ist also nicht nur Ausdruck steigender Existenzängste, die der Terrorismus erfolgreich erzeugte, sondern auch eine Rückbesinnung Israels auf seine jüdischen partikularen Wurzeln.

Der Zionismus und die Staatsgründung Israels sollte aus Juden Israelis schaffen und damit das Judentum „aufheben“ und national universalisieren. Der Friedensprozess hat dies noch mehr beschleunigen wollen. Ein post-zionistisches Zeitalter lag geradezu in der Luft. Doch es sollte anders kommen. Israels ideologisch motivierte Besatzungspolitik und die religiös aufgeladene Identitätspolitk um Jerusalem herum brachten die „Hellenisierung“ Israels zum Stillstand. Und wie damals hellenistische Moral und Politik in den Augen vieler als Universalismus gefeiert wurde, so wird die heutige globale und universale Menschenrechtspolitik, die auf moralischem und marktorientiertem Kosmopolitismus beruht, von den einen gefeiert und den anderen bewusst abgelehnt. Der Schulterschluss der israelischen Bevölkerung hat daher lange historische Wurzeln und ist nichts anderes als die Rückkehr des ethnischen historischen Gedächtnisses, welches durch die „hellenistischen“ und hedonistischen Friedensbemühungen aufgeweicht wurde. Deswegen spielt auch Vernunft keine Rolle mehr, da sie ja selbst zum anderen Lager gehört. Vernünftig wäre, dass der Stärkere die Einsicht in die Ausweglosigkeit der Gewalt findet. Aber genau das Gegenteil ist der Fall. Terror und Gegenschläge entwickeln ihre eigene Gegenvernunft, die gerade in Europa kaum verstanden wird.

Israel aus Europa, aber nicht in Europa:
Die Aporien des israelischen Liberalismus

Nun ist Israel ja in Europa gegründet worden - stammt sozusagen aus Europa, ist aber nicht mehr in Europa. Im neuen Land gab es plötzlich Araber und orientalische Juden – so uneuropäisch, so unpassend. Gegen die einen musste man kämpfen, und die anderen passten gar nicht in das europäische Weltbild. So wurden Bilder und Begriffe heillos durcheinander geworfen. Säkularismus wurde aus der Sicht der Juden, die aus Europa einwanderten, mit Frieden verwechselt, da man zivilisierten Umgang an europäischer Aufklärung festmachen wollte. Aber „säkular“ und „aufgeklärt“ – also europäisch – zu sein, wurde bald nur noch zum Vorwand für diejenigen, die nicht nur orientalische Juden als primitiv und mittelalterlich beschimpften, sondern in bester europäischer kolonialer Manier auch die Araber aus dem europäischen Israel ausschlossen. So sehen es auf jeden Fall die Gegner des so genannten europäischen Israels.

Aber wie geht man mit diesen Lebensformen um, die so grundverschieden sind und die man nicht einfach mit den Kategorien "Fundamentalismus" und "Liberalismus" erfassen kann? Was heute in Israel vorgeht, ist nicht nur für Israel selbst bedeutsam, sondern für ein dynamisches Modernitätsverständnis im allgemeinen. Nicht nur in Israel gibt es Probleme mit der Definition der Zivilgesellschaft als einer auf Gleichheit und Universalismus beruhenden Vergesellschaftungsform, welche die partikularistischen Eigenheiten verschiedenster Gruppen im Namen universaler Rechte wegdefinieren möchte.

An die Stelle liberaler Verantwortlichkeit ist die Lust am Kampf für die „richtige“ Gesinnung getreten. In Israel sind es heute „Rechtsstaat“ und „Verfassung“, die gegen den religiösen Fundamentalismus zu verteidigen sind. Dies ist zum neuen liberalen Mantra im Land geworden und hat das Friedensmantra abgelöst, da der „Frieden“ für die meisten Israelis sowieso aussichtslos geworden ist. Als Universalprinzipen gehören beide Ideen zu einem höheren Moralgesetz, zu einer Art letztbegründeter Wahrheit. Das erlaubt es Liberalen, zu fundamentalistischen Extremisten zu werden und sich nicht um die Konsequenzen ihres Tuns kümmern zu müssen. Liberale leiden überall unter einem gewissen „Fundamentalismus-Neid“. Sie wollen endlich auch einen Gewissheitsrausch erleben. Vielleicht haben die religiösen Kritiker der Moderne recht, wenn sie behaupten, dass moderne Menschen nach absoluten Werten hungern. In dieser Hinsicht vollzieht sich die liberale Politik einiger Israelis auch im Rausch der richtigen Gesinnung. Liberale in Israel sind aufgebracht, wenn es um die Vorurteile der orientalischen Bevölkerung geht. Und sie glauben in ehrlichster und aufrichtigster Art, dass sie selbst keinen Vorurteilen aufliegen. Wie könnten sie auch? Ihre Prinzipien sind die Grundvoraussetzungen der Aufklärung. Die anderen müssen das Gegenteil der Aufklärung verkörpern.

Auf der anderen Seite sehen die orientalischen Juden Israels zum Beispiel die israelischen Gerichte heute nicht mehr als übergeordnete Instanzen eines universalen Weltbilds, sondern als kulturellen Ausdruck einer hegemonialen Elite, die die eigene Kultur brutal zu unterdrücken sucht. Der Universalismus selbst wird als partikularistische und anti-jüdische Ideologie verstanden. Der Erfolg religiöser und ethnischer Parteien in Israel ist nur ein kleines Beispiel dafür, wie falsch es war, das westliche Modell als den einzig gültigen Standard zu setzen. Es war und ist sinnlos, sich vorzumachen, dass Tel Aviv Paris oder New York sei.

Liberale Prinzipien sind auch nichts anderes als Vorurteile, gleich den Grundvoraussetzungen aller Weltanschauungen. Solange Liberale nicht verstehen, dass das, was vor sich geht, nicht ein Kampf der vorurteilsvollen Religion gegen wertfreie Wissenschaft ist, sondern ein Kampf zwischen verschiedenen Wert- und Weltanschauungen solange werden Liberale ebenso intolerant sein wie ihre Gegner und blind obendrein. Die Liberalen, und nicht nur in Israel, irren sich in ihrer Illusion, dass wir uns ständig der Aufklärung nähern, dass wir uns langsam aber sicher aus unseren partikularistischen Standpunkten zu einem wertfreien Universalismus der Wahrheiten erheben, der von allen verstanden und erkannt wird.

Aber: Sobald man begriffen hat, dass jede Perspektive auf unhinterfragten Voraussetzungen beruht, einschließlich der eigenen, kann man zu einem neuen Toleranzniveau vorstoßen. Wenn Liberale nur bereit wären, die eigene Irrationalität als die Basis ihres eigenen modernen Glaubens zu verstehen, dann würden sie bestimmt verstehen, wieviel Opferbereitschaft damit verbunden ist, diesen Glauben oder auch nur Teile davon aufzugeben. Das heißt auch, dass sie endlich verstehen würden, wieviel Opferbereitschaft sie von ihren Gegnern einfordern, ohne dass diese hoffen können, dafür entlohnt zu werden. Wenn sie dazu imstande wären, sich wirklich von außen her zu betrachten die ultimative Reflexivität, nur dann könnten sie wirkliche Kompromisse schließen, nicht aus Schwäche heraus, sondern aus wahrem Verständnis. Das ist echter Liberalismus und kein liberaler Fundamentalismus: eine „zweite Aufklärung“ sozusagen. Die Einsicht, dass die Grundlage des Rationalen in der Irrationalität liegt, heißt nicht, den Liberalismus zum Tode zu verurteilen. Ganz im Gegenteil: Es wird möglich, einen Kompromiss zwischen den verschiedenen „Glaubensrichtungen“ zu finden. Dies ist die einzige Möglichkeit, eine neue Form der Gemeinschaft aus den sich bekriegenden Seiten zu erschaffen. Oder man kann bis zum bitteren Ende kämpfen. Aber das ist kein Liberalismus. Liberale Israelis sollten sich klar werden, dass sie, was zum Beispiel die Religion im Lande angeht, einen Kompromiss eingehen müssen, um ihr Land in Frieden mit sich und seinen Nachbarn zu erneuern. Israel könnte dann ein Land sein, welches im Frieden mit seinen jüdischen Ursprüngen und gleichzeitig zivilisiert in seiner Modernität lebt.

Multikulturalismus oder ethnische Vielfalt?

Aber kann das bei dieser ethnischen Vielfalt überhaupt möglich sein? Schon ein Blick auf das allabendliche Fernsehen kann ziemlich verwirrend sein. Man hört Russisch, Arabisch, Englisch und manchmal  sogar die hebräische Landessprache. Spielt sich im Staat der Juden etwa das Zukunftsszenario einer multikulturellen Melange ab, ein Babel in Zion? Gilt Israel nicht als der Inbegriff einer ethnischen Nation, in der Diasporajuden zu Israelis wurden? Ist das in Israel gültige Rückkehrer-Gesetz, welches jedem einwandernden Juden sofort die israelische Staatsbürgerschaft zuspricht, nicht das klarste Zeichen dieser ausschließlich ethnischen Nation, die ihre Kritiker sogar veranlasste, den Zionismus als Rassismus zu verurteilen?

Israel ist in den mehr als fünfzig Jahren seiner Existenz zu einer Melange der verschiedensten sprachlichen und kulturellen Gruppen geworden, die durch gegenseitige tiefe Abneigung, mitunter gesteigert zum Hass, zusammengehalten werden. Dazu kommt noch, dass in den letzten zehn Jahren mehr als 700.000 Menschen aus der ehemaligen Sowjetunion in Israel eingetroffen sind, welche wiederum auf die schon in den 1970er Jahren eingetroffenen 200.000 ehemaligen Sowjetjuden stießen. Sie stellen ein Fünftel der israelischen Bevölkerung dar. Dieser Prozess ist Teil des Globalisierungsprozesses, dessen Sog sich auch Israel nicht entziehen kann. Er impliziert, dass sich ethnische Identitäten jenseits des Nationalstaats entwickeln, die den Nationalstaat von oben und unten unterlaufen. Israeli sein, bedeutet heute dann auch, dass man russische Zeitungen liest, russisches Fernsehen sieht, ins Russische Theater geht und sich russische Rockmusik anhört. Aber Israeli sein bedeutet ebenso, dass man seine jüdisch-orientalische Identität ernst nimmt und  dass man, paradoxerweise beeinflusst durch westliche Multikulturalität, alles Westliche ablehnt. So entsteht Individualität durch Überschneidungen und Konflikten mit anderen Identitäten. Jeder einzelne erbringt dabei eine kreative Leistung. Die israelische Öffentlichkeit wird zu einem Raum, wo Spaltungen durch Konflikte überwunden werden  können und wo bestimmte Arten von Gleich-Gültigkeit und sozialer Distanz einen positiven Beitrag zur Integration der Gesellschaft leisten. Konflikt ist die treibende Integrationskraft. Die Gesellschaft hält stärker zusammen, weil sie stärker gespalten ist; die Spannungen werden dadurch kleiner und nicht etwa größer.

_____________________________________________________________ Die stetig wachsende Zahl der arabischen Bürger Israels koppelt sich langsam ab. An dieser Frage werden in Zukunft auch alle multikulturellen Hoffnungen scheitern. _____________________________________________________________

Aus der Perspektive der neuen Israelis bedeutet das, dass es einfacher wird, verschiedene Kombinationen auszuprobieren und neu zu kombinieren. Der geschlossene Raum Israel existiert nicht mehr. “Russen” halten ständige Verbindungen zu ihrem Herkunftsland. So auch  “Marokkaner”. Putin und König Hassan sind längst Teil der israelischen Öffentlichkeit geworden. Der entscheidende Punkt dabei ist, dass “Öffentlichkeit” in diesem Sinne nichts mehr mit “kollektivem Entscheiden” zu tun hat. Es geht nicht um Solidarität oder Verpflichtung, sondern um das konfliktvolle Zusammenleben. Öffentlichkeit ist nicht Konsens über kollektive Entscheidungen, sondern die Auseinandersetzung über die Konsequenzen dieser Entscheidungen. Die Gesellschaft ist von kleinen Konflikten zusammengenäht, wobei jede kulturelle Gruppe ihre eigene Version des “Israeli-Seins” lebt. Aber es ist auch Vorsicht angebracht. Israel ist bei weitem kein multikulturelles Paradies. Israeli sein bedeutet auch, dass nicht-jüdische Israelis, die Palästinenser israelischer Staatsbürgerschaft,  kulturelle Autonomie für sich fordern und sich mit den Feinden Israels solidarisch erklären können.

Die Globalisierung Israels geht Hand in Hand mit seiner Re-Ethnisierung und Distanzierung von Europa. Der Zionismus präsentierte die nicht-jüdische Gesellschaft Europas als Feind der Juden. Er wollte einen neuen nicht-europäischen Menschen schaffen, während auf der anderen Seite Europa als Zivilisation auch dazu diente, sich von der orientalischen Wirklichkeit des Nahen Ostens zu distanzieren. Heute verliert der Staat, der lange Zeit im Zentrum der israelischen Identität stand, seine identitätsstiftende Funktion mehr und mehr. Der Schmelztiegel schmilzt langsam dahin. Aber der Staat und die alten Eliten sind immer noch sehr stark, und ihre monokulturelle Vision des Staates ist immer noch wirkungsvoll, auch wenn ihr ein langsamer Niedergang bevorsteht. Israelische Politik und Gesellschaft kann daher weiterhin von einem alten und traditionellen Feindbild her bestimmt werden. Der „Feind“ ist Schicksal, ist vorbestimmt und unausweichlich. Den Feind wählt man nicht, er ist vorgegeben. Fremde kommen im israelischen Diskurs entweder überhaupt nicht vor oder werden in der Kategorie des Feindlichen eingeordnet; und eine gemeinsame Geschichte soll als Grundlage für die Schaffung gemeinsamer Werte dienen.

Einerseits entstehen kulturelle Alternativen und damit Identitätsmuster, die sich jenseits des nationalen Containers abspielen. Andererseits bestehen die Feindseligkeiten fort und die stetig wachsende Zahl der arabischen Bürger Israels koppelt sich langsam ab. An dieser Frage werden in Zukunft auch alle multikulturellen Hoffnungen scheitern.

Unlösbare Widersprüche?

Die Angst vor der demographischen Frage hat die jüdisch-israelische Gesellschaft schon immer bestimmt. Alle Diskussionen um den jüdischen Charakter werden von dieser demographischen Frage mitbestimmt. Auf der einen Seite ist Israel eine weltoffene Gesellschaft und zwar im wirtschaftlichen, politischen und kulturellen Sinn, aber auf der anderen Seite ist es auch eine Gesellschaft, die durch den Konflikt mit der arabischen Bevölkerung bestimmt ist. Dieser Konflikt lässt keine „Zivilgesellschaft“ im eigentlichen Sinn entstehen, da diese eben eine befriedete Gesellschaft ist. Zivilgesellschaften können keine Kriegsgesellschaften sein. Der Konflikt mit den Feinden Israels baut daher auch zivilgesellschaftliche Errungenschaften ab. Dies betrifft Menschrechtsverletzungen, Zensur und andere undemokratische Maßnahmen.

Diese Feindschaft ist zugleich integraler Bestandteil der Legitimation des Staates Israel. Andererseits existiert dieser Staat, ohne dass ihm von seinen Nachbarn Legitimität zugestanden wird. Denn ein jüdischer Staat ist heute von arabischer Seite schon fast nicht mehr akzeptierbar. Auch ein Staat, der seine Legitimation durch in Europa begangenes Unrecht erhält, kann im Nahen Osten von arabischer Seite nicht akzeptiert werden. Ein jüdischer Nationalstaat ohne die religiöse Komponente – lediglich als Schutz gegen Antisemitismus und Pogrome, ganz gleich wo, in anderen Worten: ein Zionismus ohne Zion – wäre im Nahen Osten nur noch illegitimer Kolonialismus, so wie er auch von der arabischen Seite gesehen wird. Aber auch das jüdische Argument, von dem Israel nicht abweichen kann, ist für die andere Seite nicht legitim. Dieser Konflikt bestimmt dann die gesamte gesellschaftliche Situation des Landes. Daher auch die beiden gesellschaftlichen Imperative, die die israelische Gesellschaft bestimmen: der demokratische und zivile einerseits und der an der Kriegs-und Konfliktsituation orientierte Imperativ des Ausschlusses andererseits.

In dieser Hinsicht wird Israel der USA immer ähnlicher und entfernt sich damit politisch und gesellschaftlich von Europa. Die Unsicherheit der eigenen Existenz, das Misstrauen, das man gegenüber einer wahrgenommenen gleichgültigen oder feindseligen Welt einnimmt, führt zu gesellschaftlichen und politischen Alleingängen, die von Europäern missbilligt werden. Gleichzeitig bedeutet es, dass man sich auf eigene Traditionen besinnt. Auch das ist die Bedeutung der Amerikanisierung Israels.


_____________________________________________________________ Die innerjüdischen ethnischen und kulturellen Konflikte sind unter dem Imperativ des ethnischen Staates zu verstehen. Dort sind diese Konflikte integrationsfähig, außerhalb des Ethnos sind sie es nicht.
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Israel ist ein ethnischer Staat. Als solcher erkennt er letztlich keine Minderheiten an. Die kulturell Anderen werden nicht in einer universalistisch verstandenen „nationalen“ Identität integriert. Der ethnische Staat kappt seine universalistischen Wurzeln und wird auf die Interessen und Identitäten der je dominanten ethnischen Gruppe in allen Bereichen des Staatsapparates (Bildung, Polizei, Militär, Recht, Außenpolitik) ausgerichtet. Der ethnische Staat ist in diesem Sinne der entpolitisierte Staat - jedenfalls in dem Sinne, dass in ihm der lebendige, öffentliche Austausch und der Gebrauch nationaler Bürgerrechte und Bürgerfreiheiten erlischt. Daher kann es eine Zivilgesellschaft in Israel nicht geben. Auch die innerjüdischen ethnischen und kulturellen Konflikte sind unter dem Imperativ des ethnischen Staates zu verstehen. Dort sind diese Konflikte integrationsfähig, außerhalb des Ethnos sind sie es nicht. Solange der Nahostkonflikt anhält, kann Israel kein Teil des multiethnischen, multinationalen, kosmopolitischen Europa sein, das seine weltpolitische Rolle selbstbewusst definiert und entfaltet. Der europäische Blick auf Israel sollte diese Gesichtspunkte in Betracht ziehen, bevor er sich seine soziologischen und politischen (Vor)urteile bildet.

Israel muss sich zwischen widersprüchlichen Prinzipien hin- und herbewegen. In Europa gegründet und damit Teil des europäischen Ethno-Nationalismus, ruht ein Großteil der Existenzlegitimität auf der europäischen Katastrophe des Holocaust. Diese macht aus dem Staat Israel ein moralisches Projekt. Auf der anderen Seite hat die Globalisierung der Holocausterinnerung dazu geführt, dass heute Menschenrechtsverletzungen von einer immer größeren liberalen Öffentlichkeit nicht mehr geduldet werden. Die israelische Gesellschaft sieht sich aber auch immer stärker werdenden Terrorangriffen ausgesetzt, die Menschen in allen Lebenslagen auf allen öffentlichen Orten treffen. Was auch immer die kausalen Vorbedingungen dieser Anschläge sind, der israelische Staat muss darauf reagieren, da seine Legitimation auch darauf beruht, das Leben seiner Bürger zu schützen. Überleben hat daher oft Vorrang gegenüber dem zivilen Leben und seinen demokratischen Institutionen.

Israel ist ein ethnischer Staat, aber innerhalb dieses ethnischen Gebildes herrscht die Pluralität der verschiedensten Lebensformen und Auffassungen, ob sie nun modern, vormodern oder postmodern sind. Nach außen verschließt sich der ethnische Staat und erkennt den ethnisch Anderen nicht an, kennt keinen Universalismus. Auch das wird durch den Existenzkampf und dem Legitimationsentzug seitens der Feinde Israels noch verstärkt. Aber Israel ist gleichzeitig ein neoliberaler Staat mit einer neoliberalen Gesellschaft. Insofern gelten auch dort die Gesetze des Marktes und des Wettbewerbs. Israel muss sich, wie andere Staaten auch, den Gesetzen des internationalen Kapitalismus unterwerfen. Der Friedensprozess im Nahen Osten war Teil dieser neoliberalen Bewegung und steht mit den Ansprüchen des ethnischen Staates im ständigen Widerspruch.

Israels Kritiker von innen und außen fordern ein Modell ein, das unter Liberalen zur neuen Utopie wird: den kosmopolitischen Staat und die kosmopolitische Gesellschaft. Beide sind durch nationale Indifferenz und das Nebeneinander verschiedensten Identitäten gekennzeichnet. Auch das gibt es in Israel, aber – der immer wiederkehrende Widerspruch – nur innerhalb der herrschenden ethnischen Gruppe. Diese Form des gesellschaftlichen und politischen Lebens ist ein Kennzeichen befriedeter Gemeinwesen. Davon ist Israel noch lange entfernt und solange wird es auch mit den Widersprüchen seiner eigenen Existenz umgehen müssen.

Weiterführende Literatur:

Al-Haj, Majid (2002): “Ethnic Mobilization in an Ethno-National State: The Case of Immigrants from the Former Soviet Union”, in: Israel Ethnic and Racial Studies 25, 238-257.

 

Ben-Eliezer, Uri (1997): “Rethinking the Civil-Military Paradigm”, in: Comparative Political Studies 30, S. 356-374.

 

Ben-Yehuda, Nachman (1995): The Masada Myth: Collective Memory and the Making of the Israeli National Tradition. Madison: The University of Wisconsin Press.

 

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Nathan Sznaider *1954;

Professor für Soziologie, Academic College of Tel-Aviv-Yafo, Israel natan@serverm.soc.mta.ac.il

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