Nach dem Fall der Berliner Mauer vor über dreizehn Jahren
sahen vor allem Europäer eine Weltordnung nach europäischem
Vorbild voraus: eine Welt, in der sich die Staaten zu
globaler Kooperation zusammenfinden, um gemeinsame Probleme
gemeinsam zu bewältigen; eine Welt, in der nicht mehr
der mächtige Staat den schwachen seinen Willen aufzwingt,
sondern Konflikte nach Regeln beigelegt werden, die die
„internationalen Gemeinschaft“ festsetzt; eine Weltordnung
auch, die dem Recht der Menschen Vorrang vor der Souveränität
der Staaten und ihrer Machthaber gibt. Eine klare, umfassende
Ausformulierung dieser Vision findet sich in einem Beitrag
von Hanns Maull zur 2/2002-Ausgabe von Internationale Politik und Gesellschaft.
Dort wird auch dem Gedanken Ausdruck gegeben, die Verwirklichung
der Vision sei eine amerikanisch-europäische Gemeinschaftsaufgabe;
denn es seien die liberalen Grundwerte der Staaten beiderseits
des Nordatlantik, an denen sich die neue Weltordnung ausrichten
müsse.
Demgegenüber wies u.a. Ernst-Otto Czempiel schon
in unserer 2/1997-Ausgabe auf die „Versuchung der USA“
hin, den neuen außenpolitischen Handlungsspielraum, den
ihnen ihre ungeheure Machtüberlegenheit beschert, auszunutzen,
um ohne große Rücksichtnahme auf die Bedenken ihrer Verbündeten
das zu tun, was sie im amerikanischen Interesse für geboten
erachten. Es hat den Anschein, dass Amerika dieser Versuchung
nachgibt. Damit muss sich Europa nun ernsthaft Fragen
stellen, die nach dem Wegfall der sowjetischen Bedrohung
– der raison d’être der transatlantischen Allianz
– zunächst tabuisiert waren: Worin besteht heute das gemeinsame
Interesse, wenn Amerika offensichtlich (?) eine Weltordnung
nach europäischen Vorstellungen ablehnt? Welche strategischen
Optionen hat Europa angesichts der immer deutlicheren
transatlantischen Divergenz hinsichtlich der anzustrebenden
Gestaltung der Welt? Soll/kann Europa (wer ist das übrigens
genau?) sein eigenes Weltordnungsprojekt verfolgen, ohne
dass der große „Verbündete“ mitzieht? Ist Europa besser
beraten, die amerikanischen Vorgaben zu akzeptieren, um
im Kleinen von Fall zu Fall korrigierend eingreifen zu
können? Hat es Sinn, darauf zu setzen, dass die USA „zur
Vernunft kommen“ und angesichts der vielen Probleme, denen
mit militärischer Macht nicht beizukommen ist, a la longue
doch auf die von den Europäern favorisierte global-governance-Linie
einschwenken?
Diesen Fragen geht die vorliegende Ausgabe von Internationale
Politik und Gesellschaft nach. Ernst-Otto Czempiel,
der ehemalige Leiter der Hessischen Stiftung für Friedens-
und Konfliktforschung und einer der „Propheten“ einer
neuen globalen Ordnung jenseits der „anarchischen“ Staatenwelt,
Christoph Bertram, der Direktor der Stiftung Wissenschaft
und Politik, David P. Calleo von der Washingtoner
Johns Hopkins University, einer der führenden Europa-Experten
der amerikanischen Politikwissenschaft, sowie John
M. Owen, Politologieprofessor an der University of
Virginia, legen Positionspapiere zu den Fragen, was Europa
tun sollte und was es wahrscheinlich tun wird, vor. Claus
Leggewie, Politik-Professor an der Universität Gießen,
der seit langem immer wieder mit scharfsinniger Interpretation
gesamtgesellschaftlicher Entwicklungen hervortritt, unterzieht
die neueren transatlantischen Irritationen einer kritischen
Betrachtung aus dezidiert europäischer Sicht. Der Duisburger
Politologe Robert Chr. van Ooyen setzt sich mit
einer zentralen Prämisse der gegenwärtigen – von Robert
Kagans
vielbeachtetem Essay “Power and Weakness” angeheizten – Debatte um europäischen Weltordnungs-Idealismus
versus amerikanischen Außenpolitik-Realismus auseinander.
Es ist die Irak-Frage, die den latenten Gegensatz zwischen
amerikanischen und europäischen Weltordnungs-Entwürfen
nach dem vorübergehenden, von ungenügender Substanz unterfütterten,
Anti-Terrorismus-Schulterschluss wieder ins öffentliche
Rampenlicht gerückt hat. Internationale
Politik und Gesellschaft bietet eine Deutung dieses
„angekündigten Krieges“ an, die unabhängig von den Ereignissen
nach Drucklegung dieser Ausgabe Bestand haben könnte.
Der Autor ist das Redaktionsmitglied Michael Ehrke.
Die übrigen drei Aufsätze dieses Heftes stehen nur quantitativ
im Schatten des Transatlantik-Schwerpunktes: Natan
Sznaiders Analyse der tiefreichenden Veränderungen
in der israelischen Gesellschaft vor dem Hintergrund des
erneut eskalierten Palästinakonfliktes, Andreas Maurers
innovativer Zugriff auf die alte Frage nach der Demokratisierung
der Europäischen Union und Uwe Halbachs umfassende
Darstellung der Konfliktstrukturen in der geopolitisch
brisanten Kaukasus-Region.