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Politik und Gesellschaft Online
International Politics and Society 2/2001


Peter Rudolf

„A Distinctly American Internationalism“
Amerikanische Weltpolitik unter Präsident George W. Bush


Agnes Heller
Kulturelles Gedächtnis, Identität und Zivilgesellschaft

Amitai Etzioni
Wie der Nationalismus zu beenden ist


Uwe Leonardy
Kompetenzabgrenzung statt Zielvorgaben
Zur Weiterentwicklung der Europäischen Union


Andreas Ufen
Islam und Politik in Indonesien

Peter Rudolf

„A Distinctly American Internationalism“
Amerikanische Weltpolitik unter Präsident George W. Bush

Unter Präsident Bush wird es nicht, wie oft befürchtet, zu einer realpolitisch verengten, (noch) stärker militarisierten und in den Unilateralismus abdriftenden Weltpolitik kommen. Denn die neue Regierung muss weit weniger als ihre Vorgängerin die Kritik der konservativen Republikaner fürchten und sie muss wegen der äußerst knappen republikanischen Mehrheiten in Repräsentantenhaus und Kongress auf die Forderungen moderater Demokraten Rücksicht nehmen. Die unilateral-nationalistischen Äußerungen und Initiativen der Republikaner zur Amtszeit Clintons waren zu einem guten Teil eine Reaktion auf die Außenpolitik eines verachteten und als inkompetent angesehenen Präsidenten. Präsident Bush wird sicher keine rein „realpolitische“ Außenpolitik betreiben können, auch wenn für ihn ein eher traditioneller, auf die Beziehungen zwischen den großen Mächten fokussierter Sicherheitsbegriff leitend ist und die konservativen Internationalisten nicht die liberale Hoffnung eines „Friedens durch Demokratie“ teilen. Zwar sind die Förderung der Demokratie und die Durchsetzung der Menschenrechte für die amerikanische Öffentlichkeit keine außenpolitischen Prioritäten. Doch Interessengruppen und Teile des Kongresses sorgen dafür, dass jede Administration diese wertorientierten Forderungen zumindest selektiv – manchmal auch nur symbolisch – berücksichtigen muss. Da die Dauerkrise im Verhältnis zu den Vereinten Nationen in der Schlussphase der Clinton-Administration überwunden wurde, könnte es unter Bush neue Initiativen geben, die Vereinten Nationen für die Bewältigung von „non-traditional challenges“ zu nutzen. In der Russlandpolitik ist eine Konzentration auf die sicherheitspolitischen Themen zu erwarten, die für die USA von vorrangigem Interesse sind. Im Grunde will die neue Administration die nukleare Abschreckung im Verhältnis zu Russland überwinden. Dem könnte jedoch das nationale Raketenabwehrprojekt (NMD) entgegenstehen. Die USA werden versuchen, Russland das Projekt mit tiefen Einschnitten in den amerikanischen Nukleararsenalen schmackhaft zu machen. Ob dies in der Form vertraglicher Rüstungskontrolle oder unilateraler Schritte geschieht, wird sich nach Abschluss des umfassenden „strategic review“ zeigen. Umbrüche in der amerikanischen Europapolitik sind nicht zu erwarten. Die NATO gilt nach wie vor als Garant amerikanischen Einflusses. Die Unterstützung für die Europäische Außen- und Sicherheitspolitik ist daran geknüpft, dass diese nicht zu einer Schwächung der NATO führt. Aber auf Dauer werden weder die Bush-Administration noch die europäischen Verbündeten die Frage nach einer neuen Grundlage für die NATO unbeantwortet lassen können.

Agnes Heller

Kulturelles Gedächtnis, Identität und Zivilgesellschaft 

(Original: Cultural Memory, Identity and Civil Society)

Die Identität und der Bestand menschlicher Gemeinschaften hängt ab von deren kultureller Erinnerung, die sich in heiligen Texten, Monumenten, Ritualen und an heiligen Orten manifestiert. Verliert eine Gemeinschaft ihre kulturelle Erinnerung, hat sie aufgehört zu bestehen. Die stärksten Erzeuger kultureller Erinnerung und Identität sind die Religionen, aber auch die modernen Nationalstaaten haben die Pflege kultureller Erinnerung institutionalisiert und die Mythologie in Ideologie verwandelt. Die vom Staat unabhängige bürgerliche oder Zivilgesellschaft dagegen hat keine kulturelle Erinnerung und damit auch keine Identität. Dies liegt daran, dass die Zivilgesellschaft, wie immer sie definiert wird, ein äußerst vielfältiges Mosaik unterschiedlicher und einander entgegengesetzter Identitäten umfasst. So können Kunst, Literatur und Musik als zivilgesellschaftliche Hervorbringungen kulturelle Erinnerung stiften und identitätsbildend wirken, es gibt aber weite Bereiche der Zivilgesellschaft, die grundsätzlich keine Erinnerungen pflegen und Identitäten ausbilden können oder wollen. Das Funktionieren des Marktes etwa erfordert die Beseitigung, nicht die Bewahrung kultureller Erinnerung. Dies gilt für interessengeleitete Aktivitäten generell: Deren Bezugspunkt ist die nahe Zukunft, nicht die Vergangenheit. Auch zukunftsorientierte politische Bewegungen schaffen in der Regel keine kulturellen Traditionen, die für die künftigen Generationen noch Gültigkeit beanspruchen könnten. Die von Max Weber prognostizierte Rationalisierung und Entzauberung schafft allerdings das Bedürfnis nach kultureller Erinnerung und Identität nicht aus der Welt.

Amitai Etzioni

Wie der Nationalismus zu beenden ist

(Original: On Ending Nationalism)

Nationalismus weist der eigenen Nation einen derart überhöhten und absoluten Wert zu, dass das vernünftige Miteinander-Auskommen der Menschen in der immer interdependenteren Welt und ihre Zusammenarbeit zum Lösen gemeinsamer Probleme ernsthaft behindert wird. Er muss überwunden werden. Viele meinen, man müsse deshalb den Nationalstaat selbst durch supranationale oder gar globale Formen von Staatlichkeit ablösen. Andere wollen ihn auf einen reinen administrativen Rahmen für die Entfaltung multikultureller Gesellschaft reduzieren. All dies ist vorerst Zukunftsmusik. Besser ist ein anderer Weg. Wenn Menschen sich in Gemeinschaften engagieren, deren Grenzen nicht mit denen der Nation zusammenfallen, wird die Bedeutung letzterer für die eigene Identität und das Zugehörigkeitsgefühl gleichsam natürlich auf ein vernünftiges Maß zurückgefahren. Solche Gemeinschaften können überschaubar und örtlich begrenzt sein. Sie können auch grenzüberschreitend sein, wie etwa die katholische Kirche, die jüdische Religionsgemeinde oder Amnesty International. Wichtig ist erstens, dass das Engagement substantieller Art ist und mit einem emotionalen Gefühl der Zugehörigkeit einhergeht, also über eine reine Mitgliedschaft oder gelegentliches begrenztes Mitmachen hinausgeht, und zweitens, dass der zentrale Zweck der Gemeinschaft nicht das Zelebrieren des nationalen Gedankens ist (wie z.B. oft in Veteranenvereinigungen). Das hier vorgetragene Argument sieht in einer starken Zivilgesellschaft nicht in erster Linie ein demokratisches Gegengewicht gegen staatliche Allmacht oder einen Ausweg aus staatlicher Ohnmacht, sondern ein Mittel zum Ausbalancieren kollektiver Identität. Dass Menschen die erforderlichen Engagements eingehen, lässt sich nicht nur propagieren, sondern durch politische Weichenstellungen auch durchaus fördern (u.a. durch föderale Strukturen). Gibt es eine Vielfalt von Gemeinden, in denen sich Bürger engagieren, bekommt der Nationalstaat die Funktion einer „Gemeinschaft der Gemeinden“. Als solche kommt ihm volle Loyalität zu, aber es ist nicht die exklusive oder alles überragende Loyalität, die der Nationalismus fordert. Ist der Gedanke mehrfacher Zugehörigkeit und nicht-konkurrierender Loyalitäten solcherart etabliert, stellt auch das Einführen supranationaler Gemeinsamkeit keine unerhörte bzw. bedrohliche Neuerung dar. Dem System der gestaffelten Zugehörigkeiten wird einfach – wenn es pragmatisch angebracht erscheint - eine weitere Ebene hinzugefügt. Dies ist im übrigen umso unbedenklicher, als mit der nationalstaatlichen Ebene eine demokratische Kontroll- und Korrekturinstanz bereit steht.

 

 

Claus Leggewie

Gibt es eine transnationale Bürgergesellschaft?

Der National-Staat war die zentrale Denkfigur und Analyseeinheit des Politischen und bei aller Weltoffenheit blieb der Raum der „civil society“ national begrenzt. Grenzüberschreitende Interaktionen sprengen diesen Begriffsrahmen: Fernverkehr und Tele-Kommunikation, Wirtschaft und Wanderung haben „transnationale soziale Räume“ und Lebenswelten eröffnet, deren Akteure, oftmals vorrangig, Interessen verfolgen, die sie über Staats- und Kulturgrenzen hinausführen. Motoren dieser Entwicklung sind Transmigranten, die dauerhaft an zwei und mehr Orten leben, zwei und mehr Sprachen sprechen, zwei und mehr Pässe (oder einen “gefestigten Aufenthaltsstatus”) besitzen und mit wachsender Routine Familienhaushalte, Beziehungsnetze und Kommunikationsräume in beide Richtungen durchwandern. Doch an ihnen zeigt sich auch die Diskrepanz der funktionalen Differenzierung in globale Subsysteme von Wirtschaft, Recht und Expertensystemen und der kulturellen Differenzierung auf regionaler und lokaler Ebene. Sie läuft weder auf Assimilation noch auf Abschottung hinaus, sondern erzeugt Hybridkulturen, die wiederum in der globalen Massenkultur zirkulieren. Analog zum Übergang vom mittelalterlichen Stadtbürgertum zur modernen Staatsbürgerschaft ist jenseits der nationalen Sphäre ein Kommunikationsraum gewachsen, in dem sich Menschen nicht nur individuell wirtschaftlich und wissenschaftlich austauschen oder kulturell und religiös vereinigen, sondern auch politisch betätigen können. Insbesondere die Nicht-Regierungs-Organisationen füllen diesen Raum mittlerweile in ganzer Breite aus, indem sie globale Themen wie Umweltschutz und nachhaltige Entwicklung, Menschenrechte und die Gleichstellung von Frauen artikulieren und kompetent behandeln. Hier, in einem weiten, noch undefinierten Feld, wo die Grenzen des Politischen variabel sind, kristallisiert sich eine politische Arena heraus, die sich, in Ermangelung eines europäischen oder Weltstaates, nicht auf eine politische Zentralmacht und homogene Nation bezieht, sondern subpolitisch und transnational um diese herum bewegt. Andererseits nehmen kollektiv verbindliche Entscheidungen außerhalb der gewohnten Arena des Nationalstaates zu, wie man an den multilateralen Regimen von Weltbank, IWF und Welthandelsorganisation sowie an der “Mehrebenenpolitik” der Europäischen Union illustrieren kann. Gegen diese internationalen Regime, die im Verdacht stehen, wesentliche demokratiepolitische Voraussetzungen zu missachten, ist inzwischen eine transnationale Protestbewegung (Stichwort „Seattle“) angetreten. Mit ihr hat die ökonomische Globalisierung ihr Pendant gefunden, nämlich eine ebenso enträumlichte Opposition von unten, die zum Teil protektionistisch und nationalpopulistisch argumentiert, überwiegend aber eine alternative Form inklusiver Globalisierung reklamiert. Was aus solchen Frontstellungen resultiert, wie zu Ende des 19. Jahrhunderts eine antikapitalistische Opposition gegen die Globalisierung oder eine „progressive“ Reformbewegung in ihrem Inneren, muß offen bleiben. Doch klar ist schon, dass es in transnationalen sozialen Räumen keine “inneren Angelegenheiten” mehr gibt.

 

Ernst Hillebrand / Uwe Optenhögel

Mediatoren in einer entgrenzten Welt
Zur außenpolitischen Rolle der politischen Stiftungen

Die ”Globalisierung” hat tiefgehende Auswirkungen auf die die Art, in der Außenpolitik gemacht werden kann. Entgrenzung und Denationalisierung, Interdependenz und Problemverflechtung, Fragmentierung und Staatszerfall, das Entstehen einer Welt-Risikogesellschaft, gesellschaftliche Modernisierungsprozesse und damit gestiegene Partizipationsansprüche haben die Handlungsperspektiven und –erfordernisse im Politikfeld Außenpolitik erheblich verändert. Außenpolitik wird in ihren Verfahren und Instrumenten der Innenpolitik immer ähnlicher werden. Sie wird weit im Vorfeld der eigentlichen außenpolitischen Institutionen ansetzen und die organisierten sozialen, ökonomischen und politischen Interessen der jeweils anderen Gesellschaften systematisch berücksichtigen müssen. Diese Veränderungen machen den Einsatz eines außenpolitischen Instrumentariums erforderlich, dass jenseits der klassischen Diplomatie und ihrer Spielarten liegt. Die deutschen politischen Stiftungen sind Teil dieses Instrumentariums und stellen weltweit eines der interessantesten Instrumente einer auf zivilem Einfluss basierenden Außenpolitik dar. Von diesem Instrument profitieren nicht nur die hinter den Stiftungen stehenden politischen und sozialen Interessen, sondern die deutsche Gesellschaft in ihrer Pluralität insgesamt. In den Tätigkeitsländern der Stiftungen gibt es kaum gesellschaftliche und politische Gruppen von größerer Bedeutung, zu denen nicht Arbeits- und Gesprächskontakte bestehen. Das Netzwerk der Büros der politischen Stiftungen stellt ein einzigartiges Gewebe eines globalen sozio-politischen ”networking” dar, das für die Vermittlung von Positionen, Interessen und Beziehungen außergewöhnlich leistungsfähig ist. Die Zukunftsaufgaben der Stiftungen liegen in ihrer Dialogfunktion, in der Vermittlung in zwischengesellschaftlichen Interessenkonflikten und in der globalen Vernetzung. Politische Stiftungen übernehmen eine wichtige Vermittlerfunktion zwischen der internationalen ”Gesellschaftswelt” und der Staatenwelt. Demokratisierung bleibt als Element der Friedensbewahrung und der Entwicklungsförderung eine der zentralen Zielgrößen deutscher Außenpolitik. Dabei wird sich in Zukunft die Demokratieförderung auf soziale, wirtschaftliche und kulturelle Teilhaberechte ausweiten müssen. Auch hier werden die deutschen politischen Stiftungen als Exponenten eines kontinental-europäischen Demokratie- und Staatsverständnisses eine wichtige Funktion haben.

Uwe Leonardy

Kompetenzabgrenzung statt Zielvorgaben
Zur Weiterentwicklung der Europäischen Union

Die Europäische Union (EU) braucht dringend – nämlich noch vor der Osterweiterung – eine auf den Grundsätzen des Subsidiaritätsprinzips fußende, verbindliche Kompetenzabgrenzung zwischen den supranationalen EU-Instanzen, den Mitgliedsstaaten und den nachgeordneten föderalen Regierungsebenen wie den deutschen Bundesländern. Auf der Regierungskonfernz in Nizza im Dezember 2000 wurden hierzu Absichtserklärungen formuliert. Aber ein zufriedenstellendes Ergebnis ist keineswegs gesichert. Das Problem der mangelnden Kompetenzabgrenzung hat mit dem bisherigen Vorgehensprinzip bei dem Projekt der europäischen Einigung zu tun. Die Gemeinschaftsinstitutionen wurden von den Mitgliedsstaaten beauftragt, bestimmte Integrationsziele zu erreichen und ermächtigt, die zu integrierenden Bereiche entsprechend europäisch einheitlich zu regulieren. Es war unvermeidlich, dass dabei bestehende nationale Regulierungen außer Kraft gesetzt wurden. Mit fortschreitender Integration zog die Gemeinschaft und später die Union in Erfüllung der ihr gesetzten Zielvorgaben immer mehr Kompetenzen an sich. Die Mitgliedsstaaten wurden verpflichtet, die neuen, EU-weit geltenden Regeln in nationales Recht umzusetzen. Für die deutschen Bundesländer bedeutete dies, dass der ihnen verfassungsmäßig zustehende Gestaltungsbereich immer enger wurde. Denn für die Kommission war es unerheblich, ob sie in Bundesrecht oder Länderrecht eingriff. Sollte dieser Prozess weitergehen, droht mittlerweile eine schleichende Entföderalisierung der Bundesrepublik sowie anderer föderal verfasster Mitgliedsstaaten der EU. Das einzige Mittel, dem Einhalt zu gebieten, ist eine verbindliche Kompetenzaufteilung zwischen den Regierungsebenen. Damit aber würde die Grundlage einer föderalen EU-Verfassung gelegt. Ein derartiger Schritt ist heute angebracht, weil die Union de facto bereits klare Züge einer supranationalen Staatlichkeit angenommen hat. Sie ist längst nicht mehr, wie zu Anfang die Europäische Gemeinschaft, nur eine internationale Organisation. Für eine verbindliche Kompetenzabgrenzung haben sich bislang nur die deutschen Bundesländer vehement eingesetzt. Dementsprechend wurde die Kompetenzabgrenzung auch gelegentlich als eine „Marotte“ der Länder wahrgenommen. In Wirklichkeit geht es aber nicht nur um die Rechte von Bundesländern, sondern um die verfassungsmäßige Identität der Bundesrepublik Deutschland und anderer föderaler Staaten. Nur wenn das Regierungssystem, zu dem die Europäische Union inzwischen herangewachsen ist, einer Verfassungsdisziplin unterworfen wird, wird es auf Dauer von der Bevölkerung akzeptiert werden. Der Widerstand der intergouvernementalen Koordinierungsgremien, deren heimliche europäische Gesetzgebungskompetenz verloren ginge, ist indes vorprogrammiert.

 

Andreas Ufen

Islam und Politik in Indonesien

Bei der Einführung der islamischen Lehre entwickelte sich in Java im Laufe mehrerer Jahrhunderte ein Gegensatz zwischen synkretistischen "Abangan" und orthodox-islamischen "Santri". Die Offenheit der meisten Abangan und die Kompromissbereitschaft der Santri, die seit jeher eine Minderheit bildeten, prägen bis heute unser - vielleicht trügerisches - Bild eines moderaten, liberalen indonesischen Islam. Radikale Gruppierungen konnten zwar zu keiner Zeit ein mehrheitsfähiges Programm formulieren, sie können aber besonders in Krisenzeiten einen außerordentlichen Einfluss ausüben. Die indonesische Politik ließ sich allerdings nie auf religiöse Kämpfe reduzieren. Die erste parlamentarische Demokratie von 1950 bis 1957 prägten drei Hauptkonflikte, der zwischen zivilen und militärischen, der zwischen säkularistischen und islamistischen und der zwischen kommunistischen und antikommunistischen Gruppen. Durch den Autoritarismus der Gelenkten Demokratie (1957-65) und der Neuen Ordnung (1965-98) wurden die Islamisten (seit 1965 auch die Kommunisten) ausgeschaltet. Aber schon seit den frühen 70er Jahren lässt sich - besonders in Teilen der neu entstehenden Mittelklasse - eine Renaissance der islamischen Lehre und eines islamischen "way of life" beobachten. Das Suharto-Regime reagierte auf die allgemeine Aufwertung der Religion mit einer pro-islamischen Kulturpolitik und seit Ende der 80er Jahre mit einer Kooptation einiger Vertreter eines politisch verstandenen Islam. Diese Annäherungsstrategie kulminierte wenige Wochen vor dem Ende der Neuen Ordnung in einer Zusammenarbeit zwischen militanten Islamisten und reaktionären Gruppen um General Prabowo, den Schwiegersohn Suhartos. Mit der Einführung der parlamentarischen Demokratie nach dem Rücktritt Suhartos (am 21. Mai 1998) konnten erstmals nach Jahrzehnten wieder unabhängige politische Parteien gegründet werden. Bei den Parlamentswahlen im Juni 1999 erhielten die islamischen Parteien zwar weniger Stimmen als die säkularistisch ausgerichteten, bei der Wahl des vierten Präsidenten im Oktober 1999 setzte sich allerdings eine Koalition aus Konservativen und der "Mittelachse", einer Allianz kleinerer islamischer Parteien, gegen das Lager um die säkularistisch-nationalistische Megawati Sukarnoputri durch. Mit dieser Blockbildung wurde eine Konstante der indonesischen Politik im 20. Jahrhundert wieder sichtbar: Die Auseinandersetzung zwischen orthodoxen Muslimen und solchen Gruppierungen, die der Religion im politischen Bereich keine wichtige Funktion zumessen und die Gleichberechtigung der in der Staatsphilosophie Pancasila aufgeführten Religionen und ihrer Anhänger hervorheben. Der neue Präsident Abdurrahman Wahid, ehemals Vorsitzender der mit 30 Millionen Mitgliedern größten islamischen Organisation des Landes, gilt als ausgesprochen liberal. Er gerät aber zusehends unter Druck durch eben jene Kräfte, die ihn bei seiner Wahl noch unterstützt hatten. Bei den Attacken gegen Wahid wird immer wieder seine mangelnde Orthodoxie in religiösen Fragen thematisiert. Die große Mehrheit der indonesischen Muslime ist nicht an der Errichtung eines Islamstaates interessiert. Sollte aber die Wirtschaftskrise anhalten und sollten die sezessionistischen Bewegungen in Aceh und West-Papua sowie die Kämpfe in den Molukken eine weitere politische Destabilisierung bewirken, könnte eine allgemeine Auflösung der Staatsgewalt die islamistischen Kräfte stärken. Gegenwärtig arbeiten u.a. die "Front der Verteidiger des Islam" und die "Dschihad-Krieger" - wahrscheinlich finanziert von den Reaktionären - an der Wiedererrichtung eines autoritären, die islamistischen Gruppierungen privilegierenden Regimes.


© Friedrich Ebert Stiftung | net edition malte.michel| 5/2001