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Politik und Gesellschaft
Online International Politics and Society 2/2001 |
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Agnes Heller
Ernst
Hillebrand / Uwe Optenhögel
Peter Rudolf
Agnes Heller
Kulturelles Gedächtnis, Identität und ZivilgesellschaftAmitai EtzioniWie der Nationalismus zu beenden ist (Original: On Ending Nationalism) Nationalismus weist der eigenen Nation einen derart
überhöhten und absoluten Wert zu, dass das vernünftige Miteinander-Auskommen
der Menschen in der immer interdependenteren Welt und ihre Zusammenarbeit
zum Lösen gemeinsamer Probleme ernsthaft behindert wird. Er muss
überwunden werden. Viele meinen, man müsse deshalb den Nationalstaat
selbst durch supranationale oder gar globale Formen von Staatlichkeit
ablösen. Andere wollen ihn auf einen reinen administrativen Rahmen
für die Entfaltung multikultureller Gesellschaft reduzieren. All
dies ist vorerst Zukunftsmusik. Besser ist ein anderer Weg. Wenn
Menschen sich in Gemeinschaften engagieren, deren Grenzen nicht
mit denen der Nation zusammenfallen, wird die Bedeutung letzterer
für die eigene Identität und das Zugehörigkeitsgefühl gleichsam
natürlich auf ein vernünftiges Maß zurückgefahren. Solche Gemeinschaften
können überschaubar und örtlich begrenzt sein. Sie können auch grenzüberschreitend
sein, wie etwa die katholische Kirche, die jüdische Religionsgemeinde
oder Amnesty International. Wichtig ist erstens, dass das Engagement
substantieller Art ist und mit einem emotionalen Gefühl der Zugehörigkeit
einhergeht, also über eine reine Mitgliedschaft oder gelegentliches
begrenztes Mitmachen hinausgeht, und zweitens, dass der zentrale
Zweck der Gemeinschaft nicht das Zelebrieren des nationalen Gedankens
ist (wie z.B. oft in Veteranenvereinigungen). Das hier vorgetragene
Argument sieht in einer starken Zivilgesellschaft nicht in erster
Linie ein demokratisches Gegengewicht gegen staatliche Allmacht
oder einen Ausweg aus staatlicher Ohnmacht, sondern ein Mittel zum
Ausbalancieren kollektiver Identität. Dass Menschen die erforderlichen
Engagements eingehen, lässt sich nicht nur propagieren, sondern
durch politische Weichenstellungen auch durchaus fördern (u.a. durch
föderale Strukturen). Gibt es eine Vielfalt von Gemeinden, in denen
sich Bürger engagieren, bekommt der Nationalstaat die Funktion einer
„Gemeinschaft der Gemeinden“. Als solche kommt ihm volle Loyalität
zu, aber es ist nicht die exklusive oder alles überragende Loyalität,
die der Nationalismus fordert. Ist der Gedanke mehrfacher Zugehörigkeit
und nicht-konkurrierender Loyalitäten solcherart etabliert, stellt
auch das Einführen supranationaler Gemeinsamkeit keine unerhörte
bzw. bedrohliche Neuerung dar. Dem System der gestaffelten Zugehörigkeiten
wird einfach – wenn es pragmatisch angebracht erscheint - eine weitere
Ebene hinzugefügt. Dies ist im übrigen umso unbedenklicher, als
mit der nationalstaatlichen Ebene eine demokratische Kontroll- und
Korrekturinstanz bereit steht.
Claus LeggewieDer National-Staat war die
zentrale Denkfigur und Analyseeinheit des Politischen und bei
aller Weltoffenheit blieb der Raum der „civil
society“ national begrenzt. Grenzüberschreitende Interaktionen
sprengen diesen Begriffsrahmen: Fernverkehr und Tele-Kommunikation,
Wirtschaft und Wanderung haben „transnationale soziale Räume“
und Lebenswelten eröffnet, deren Akteure, oftmals vorrangig, Interessen
verfolgen, die sie über Staats- und Kulturgrenzen hinausführen.
Motoren dieser Entwicklung sind Transmigranten, die dauerhaft
an zwei und mehr Orten leben, zwei und mehr Sprachen sprechen,
zwei und mehr Pässe (oder einen “gefestigten Aufenthaltsstatus”)
besitzen und mit wachsender Routine Familienhaushalte, Beziehungsnetze
und Kommunikationsräume in beide Richtungen durchwandern.
Doch an ihnen zeigt sich auch die Diskrepanz der funktionalen Differenzierung in globale Subsysteme von Wirtschaft,
Recht und Expertensystemen und der kulturellen
Differenzierung auf regionaler und lokaler Ebene. Sie läuft weder
auf Assimilation noch auf Abschottung hinaus, sondern erzeugt
Hybridkulturen, die wiederum in der globalen Massenkultur zirkulieren.
Analog zum Übergang vom mittelalterlichen Stadtbürgertum zur modernen
Staatsbürgerschaft ist jenseits der nationalen Sphäre ein Kommunikationsraum
gewachsen, in dem sich Menschen nicht nur individuell wirtschaftlich
und wissenschaftlich austauschen oder kulturell und religiös vereinigen,
sondern auch politisch betätigen können. Insbesondere die Nicht-Regierungs-Organisationen
füllen diesen Raum mittlerweile in ganzer Breite aus, indem sie
globale Themen wie Umweltschutz und nachhaltige Entwicklung, Menschenrechte
und die Gleichstellung von Frauen artikulieren und kompetent behandeln.
Hier, in einem weiten, noch undefinierten Feld, wo die Grenzen
des Politischen variabel sind, kristallisiert sich eine politische
Arena heraus, die sich, in Ermangelung eines europäischen oder
Weltstaates, nicht auf eine politische Zentralmacht und homogene
Nation bezieht, sondern subpolitisch und transnational um diese
herum bewegt. Andererseits nehmen kollektiv verbindliche Entscheidungen
außerhalb der gewohnten Arena des Nationalstaates zu, wie man
an den multilateralen Regimen von Weltbank, IWF und Welthandelsorganisation
sowie an der “Mehrebenenpolitik” der Europäischen Union illustrieren
kann. Gegen diese internationalen Regime, die im Verdacht stehen,
wesentliche demokratiepolitische Voraussetzungen zu missachten,
ist inzwischen eine transnationale Protestbewegung (Stichwort
„Seattle“) angetreten. Mit ihr hat die ökonomische Globalisierung
ihr Pendant gefunden, nämlich eine ebenso enträumlichte Opposition
von unten, die zum Teil protektionistisch und nationalpopulistisch
argumentiert, überwiegend aber eine alternative Form inklusiver
Globalisierung reklamiert. Was aus solchen Frontstellungen resultiert,
wie zu Ende des 19. Jahrhunderts eine antikapitalistische Opposition
gegen die Globalisierung oder eine „progressive“ Reformbewegung
in ihrem Inneren, muß offen bleiben. Doch klar ist schon, dass
es in transnationalen sozialen Räumen keine “inneren Angelegenheiten”
mehr gibt. Ernst
Hillebrand / Uwe Optenhögel
Mediatoren in einer
entgrenzten Welt Uwe Leonardy Kompetenzabgrenzung
statt Zielvorgaben
Zur Weiterentwicklung der Europäischen Union Die
Europäische Union (EU) braucht dringend – nämlich noch vor der
Osterweiterung – eine auf den Grundsätzen des Subsidiaritätsprinzips
fußende, verbindliche Kompetenzabgrenzung zwischen den supranationalen
EU-Instanzen, den Mitgliedsstaaten und den nachgeordneten föderalen
Regierungsebenen wie den deutschen Bundesländern. Auf der Regierungskonfernz
in Nizza im Dezember 2000 wurden hierzu Absichtserklärungen
formuliert. Aber ein zufriedenstellendes Ergebnis ist keineswegs
gesichert. Das Problem der mangelnden Kompetenzabgrenzung hat
mit dem bisherigen Vorgehensprinzip bei dem Projekt der europäischen
Einigung zu tun. Die Gemeinschaftsinstitutionen wurden von den
Mitgliedsstaaten beauftragt, bestimmte Integrationsziele zu
erreichen und ermächtigt, die zu integrierenden Bereiche entsprechend
europäisch einheitlich zu regulieren. Es war unvermeidlich,
dass dabei bestehende nationale Regulierungen außer Kraft gesetzt
wurden. Mit fortschreitender Integration zog die Gemeinschaft
und später die Union in Erfüllung der ihr gesetzten Zielvorgaben
immer mehr Kompetenzen an sich. Die Mitgliedsstaaten wurden
verpflichtet, die neuen, EU-weit geltenden Regeln in nationales
Recht umzusetzen. Für die deutschen Bundesländer bedeutete dies,
dass der ihnen verfassungsmäßig zustehende Gestaltungsbereich
immer enger wurde. Denn für die Kommission war es unerheblich,
ob sie in Bundesrecht oder Länderrecht eingriff. Sollte dieser
Prozess weitergehen, droht mittlerweile eine schleichende Entföderalisierung
der Bundesrepublik sowie anderer föderal verfasster Mitgliedsstaaten
der EU. Das einzige Mittel, dem Einhalt zu gebieten, ist eine
verbindliche Kompetenzaufteilung zwischen den Regierungsebenen.
Damit aber würde die Grundlage einer föderalen EU-Verfassung
gelegt. Ein derartiger Schritt ist heute angebracht, weil die
Union de facto bereits klare Züge einer supranationalen Staatlichkeit
angenommen hat. Sie ist längst nicht mehr, wie zu Anfang die
Europäische Gemeinschaft, nur eine internationale Organisation.
Für eine verbindliche Kompetenzabgrenzung haben sich bislang
nur die deutschen Bundesländer vehement eingesetzt. Dementsprechend
wurde die Kompetenzabgrenzung auch gelegentlich als eine „Marotte“
der Länder wahrgenommen. In Wirklichkeit geht es aber nicht
nur um die Rechte von Bundesländern, sondern um die verfassungsmäßige
Identität der Bundesrepublik Deutschland und anderer föderaler
Staaten. Nur wenn das Regierungssystem, zu dem die Europäische
Union inzwischen herangewachsen ist, einer Verfassungsdisziplin
unterworfen wird, wird es auf Dauer von der Bevölkerung akzeptiert
werden. Der Widerstand der intergouvernementalen Koordinierungsgremien,
deren heimliche europäische Gesetzgebungskompetenz verloren
ginge, ist indes vorprogrammiert.
Andreas UfenIslam und Politik in Indonesien Bei der Einführung der islamischen Lehre entwickelte sich
in Java im Laufe mehrerer Jahrhunderte ein Gegensatz zwischen
synkretistischen "Abangan" und orthodox-islamischen "Santri".
Die Offenheit der meisten Abangan und die Kompromissbereitschaft
der Santri, die seit jeher eine Minderheit bildeten, prägen
bis heute unser - vielleicht trügerisches - Bild eines moderaten,
liberalen indonesischen Islam. Radikale Gruppierungen konnten
zwar zu keiner Zeit ein mehrheitsfähiges Programm formulieren,
sie können aber besonders in Krisenzeiten einen außerordentlichen
Einfluss ausüben. Die indonesische Politik ließ sich allerdings
nie auf religiöse Kämpfe reduzieren. Die erste parlamentarische
Demokratie von 1950 bis 1957 prägten drei Hauptkonflikte,
der zwischen zivilen und militärischen, der zwischen säkularistischen
und islamistischen und der zwischen kommunistischen und antikommunistischen
Gruppen. Durch den Autoritarismus der Gelenkten Demokratie
(1957-65) und der Neuen Ordnung (1965-98) wurden die Islamisten
(seit 1965 auch die Kommunisten) ausgeschaltet. Aber schon
seit den frühen 70er Jahren lässt sich - besonders in Teilen
der neu entstehenden Mittelklasse - eine Renaissance der islamischen
Lehre und eines islamischen "way of life" beobachten. Das
Suharto-Regime reagierte auf die allgemeine Aufwertung der
Religion mit einer pro-islamischen Kulturpolitik und seit
Ende der 80er Jahre mit einer Kooptation einiger Vertreter
eines politisch verstandenen Islam. Diese Annäherungsstrategie
kulminierte wenige Wochen vor dem Ende der Neuen Ordnung in
einer Zusammenarbeit zwischen militanten Islamisten und reaktionären
Gruppen um General Prabowo, den Schwiegersohn Suhartos. Mit
der Einführung der parlamentarischen Demokratie nach dem Rücktritt
Suhartos (am 21. Mai 1998) konnten erstmals nach Jahrzehnten
wieder unabhängige politische Parteien gegründet werden. Bei
den Parlamentswahlen im Juni 1999 erhielten die islamischen
Parteien zwar weniger Stimmen als die säkularistisch ausgerichteten,
bei der Wahl des vierten Präsidenten im Oktober 1999 setzte
sich allerdings eine Koalition aus Konservativen und der "Mittelachse",
einer Allianz kleinerer islamischer Parteien, gegen das Lager
um die säkularistisch-nationalistische Megawati Sukarnoputri
durch. Mit dieser Blockbildung wurde eine Konstante der indonesischen
Politik im 20. Jahrhundert wieder sichtbar: Die Auseinandersetzung
zwischen orthodoxen Muslimen und solchen Gruppierungen, die
der Religion im politischen Bereich keine wichtige Funktion
zumessen und die Gleichberechtigung der in der Staatsphilosophie
Pancasila aufgeführten Religionen und ihrer Anhänger hervorheben.
Der neue Präsident Abdurrahman Wahid, ehemals Vorsitzender
der mit 30 Millionen Mitgliedern größten islamischen Organisation
des Landes, gilt als ausgesprochen liberal. Er gerät aber
zusehends unter Druck durch eben jene Kräfte, die ihn bei
seiner Wahl noch unterstützt hatten. Bei den Attacken gegen
Wahid wird immer wieder seine mangelnde Orthodoxie in religiösen
Fragen thematisiert. Die große Mehrheit der indonesischen
Muslime ist nicht an der Errichtung eines Islamstaates interessiert.
Sollte aber die Wirtschaftskrise anhalten und sollten die
sezessionistischen Bewegungen in Aceh und West-Papua sowie
die Kämpfe in den Molukken eine weitere politische Destabilisierung
bewirken, könnte eine allgemeine Auflösung der Staatsgewalt
die islamistischen Kräfte stärken. Gegenwärtig arbeiten u.a.
die "Front der Verteidiger des Islam" und die "Dschihad-Krieger"
- wahrscheinlich finanziert von den Reaktionären - an der
Wiedererrichtung eines autoritären, die islamistischen Gruppierungen
privilegierenden Regimes. |
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