Es mag zynisch klingen, aber die Ereignisse des 11.
September 2001 haben einen weltpolitischen Klärungsprozess
in Gang gebracht. Sie haben die Nebelschleier gelüftet,
die über der diffusen weltpolitischen Gemengelage der
neunziger Jahre lagen. Die Frontstellung „zivilisierte
Welt gegen die Mächte des Terrorismus“ ist dabei eher
von untergeordneter Bedeutung. Von größerer Tragweite
ist die klar zutage getretene Rolle der USA als alleinige
weltordnende Macht. Nach dem überraschend rasch gewonnenen
Krieg in Afghanistan wird der nächste Schlag der nunmehr
auch in ihrem Selbstbewusstsein gewaltig gestärkten
Supermacht vorbereitet. Das Signal ist eindeutig: Keiner
soll Amerika ungestraft provozieren. Damit ist aber
auch die zentrale weltpolitische Herausforderung der
nächsten Jahre umrissen: der kaum noch gebremste Unilateralismus
der USA (der sich auch als Multilateralismus à la carte
äußern kann).
Dabei geht es nicht um die Machtbalance zwischen Staaten.
Der Beitrag von Hanns W. Maull stellt einen anderen
Gedanken in den Vordergrund: die nachlassende Fähigkeit
der staatlich verfassten Gesellschaften, die Kontrolle
über Entwicklungen zu behalten, die ihr Schicksal bestimmen.
Maull spricht von Entropie, die auch sogenannte
Supermächte erfasst. Denn Macht gegenüber Gegnern und
Rivalen ist etwas anderes als Gestaltungsmacht gegenüber
unkontrollierten Prozessen. In dieser Analyse ist die
momentane Übermacht der USA ein Hindernis für die Neukonstituierung
funktionierender Staatlichkeit auf internationaler und
supranationaler Ebene. Das andere große Hindernis ist
die Unfähigkeit Europas zum zielgerichteten Handeln.
Maull lässt keinen Zweifel: Entropie ist das
eigentliche Problem, nicht die Unzufriedenheit der zu
kurz Gekommenen, die sich in Protestaggression entlädt
und gewaltsam in Szene gesetzte Gegenentwürfe gegen
die derzeitige Welt-„Ordnung“ hervorbringt. Eine von
den universalistischen Idealen der europäischen Aufklärung
und der von ihr inspirierten demokratischen Revolution
getragene Weltordnung sollte, wenn sie sich denn mit
globaler Gestaltungsmacht paart, die tieferen Ursachen
jener Unzufriedenheit beseitigen können. Dieser Gedanke
relativiert auch das Phänomen des militanten Islam,
des derzeitigen Lieblingsfeindes der westlichen Welt.
Jochen Müllers Aufsatz – der die Beiträge unserer
1/2002- Ausgabe zur Lage in der arabischen Welt und
zum Islam in Deutschland ergänzt – macht deutlich, dass
das „islamische Argument“ eine Antwort auf beides war,
die fortgesetzte Demütigung durch ganz und gar nicht
universalistisch handelnde westliche Mächte und die
fortgesetzte Unfähigkeit der eigenen Gesellschaften
zur Aneignung des westlichen Erfolgsrezeptes.
Andreas Wittkowsky’s kritischer Bericht über
die UN-Mission zur Befriedung des Kosovo greift einen
weiteren Topos des Maullschen Weltordnungsdiskurses
auf: die Wiederherstellung funktionierender Staatlichkeit
dort, wo sie kollabiert ist. Es wird deutlich, dass
die Aufgabe weit mehr erfordert als internationale Entschlossenheit
und diplomatisches Geschick. Die Machbarkeit von Ordnung
scheint ihre Grenzen zu haben.
Der zweite Teil dieser Ausgabe richtet den Blick auf
die problembeladenen inner-europäischen Angelegenheiten.
Michael Dauderstädt diskutiert die grundsätzlichen
Schwierigkeiten, einen integrierten Markt mit seinen
supranationalen Ordnungsansprüchen in Einklang mit den
Selbstbestimmungsansprüchen demokratischer Wohlfahrtsstaaten
zu bringen – ein Paradigma für die sich formierende
und gleichzeitig heftig umstrittene Welt der Globalisierung,
aber auch ein Vermerk der Skepsis im Ordnungsmacht-Europa-Diskurs.
Arne Heise ruft einen Weg zur Bekämpfung der
anhaltend hohen europäischen Arbeitslosigkeit ins Gedächtnis,
der zwar beschlossen, aber nie begangen wurde. Hans
Platzer zeichnet den langen, mühsamen Prozess nach,
der vielleicht einmal zu einer wirksamen Vertretung
der Arbeitnehmerinteressen auf EU-Ebene führt, wie sie
den neuen Wettbewerbsverhältnissen angemessen wäre.
Der Terminus „Eurosklerose“ ist passé, aber die Realität
belegt es wieder und wieder: Auf Europa ist nicht zu
zählen, wenn es darum geht, Dynamik in die Weltwirtschaft
zu bringen. Und Deutschland gehört mittlerweile zu den
größten Enttäuschungen. In diesem Kontext erscheint
Rebecca Hardings These von der inhärenten Dynamik
und Anpassungsfähigkeit der deutschen Wirtschaft ausgesprochen
kontra-intuitiv. Wir meinen aber, ihr Beitrag ist dazu
angetan, wichtige Differenzierung in die oft allzu ideologische
Debatte zu bringen.