Politik und Gesellschaft Online
International Politics and Society 2/2002


Zu diesem Heft

Es mag zynisch klingen, aber die Ereignisse des 11. September 2001 haben einen weltpolitischen Klärungsprozess in Gang gebracht. Sie haben die Nebelschleier gelüftet, die über der diffusen weltpolitischen Gemengelage der neunziger Jahre lagen. Die Frontstellung „zivilisierte Welt gegen die Mächte des Terrorismus“ ist dabei eher von untergeordneter Bedeutung. Von größerer Tragweite ist die klar zutage getretene Rolle der USA als alleinige weltordnende Macht. Nach dem überraschend rasch gewonnenen Krieg in Afghanistan wird der nächste Schlag der nunmehr auch in ihrem Selbstbewusstsein gewaltig gestärkten Supermacht vorbereitet. Das Signal ist eindeutig: Keiner soll Amerika ungestraft provozieren. Damit ist aber auch die zentrale weltpolitische Herausforderung der nächsten Jahre umrissen: der kaum noch gebremste Unilateralismus der USA (der sich auch als Multilateralismus à la carte äußern kann).

Dabei geht es nicht um die Machtbalance zwischen Staaten. Der Beitrag von Hanns W. Maull stellt einen anderen Gedanken in den Vordergrund: die nachlassende Fähigkeit der staatlich verfassten Gesellschaften, die Kontrolle über Entwicklungen zu behalten, die ihr Schicksal bestimmen. Maull spricht von Entropie, die auch sogenannte Supermächte erfasst. Denn Macht gegenüber Gegnern und Rivalen ist etwas anderes als Gestaltungsmacht gegenüber unkontrollierten Prozessen. In dieser Analyse ist die momentane Übermacht der USA ein Hindernis für die Neukonstituierung funktionierender Staatlichkeit auf internationaler und supranationaler Ebene. Das andere große Hindernis ist die Unfähigkeit Europas zum zielgerichteten Handeln. 

Maull lässt keinen Zweifel: Entropie ist das eigentliche Problem, nicht die Unzufriedenheit der zu kurz Gekommenen, die sich in Protestaggression entlädt und gewaltsam in Szene gesetzte Gegenentwürfe gegen die derzeitige Welt-„Ordnung“ hervorbringt. Eine von den universalistischen Idealen der europäischen Aufklärung und der von ihr inspirierten demokratischen Revolution getragene Weltordnung sollte, wenn sie sich denn mit globaler Gestaltungsmacht paart, die tieferen Ursachen jener Unzufriedenheit beseitigen können. Dieser Gedanke relativiert auch das Phänomen des militanten Islam, des derzeitigen Lieblingsfeindes der westlichen Welt. Jochen Müllers Aufsatz – der die Beiträge unserer 1/2002- Ausgabe zur Lage in der arabischen Welt und zum Islam in Deutschland ergänzt – macht deutlich, dass das „islamische Argument“ eine Antwort auf beides war, die fortgesetzte Demütigung durch ganz und gar nicht universalistisch handelnde westliche Mächte und die fortgesetzte Unfähigkeit der eigenen Gesellschaften zur Aneignung des westlichen Erfolgsrezeptes.

Andreas Wittkowsky’s kritischer Bericht über die UN-Mission zur Befriedung des Kosovo greift einen weiteren Topos des Maullschen Weltordnungsdiskurses auf: die Wiederherstellung funktionierender Staatlichkeit dort, wo sie kollabiert ist. Es wird deutlich, dass die Aufgabe weit mehr erfordert als internationale Entschlossenheit und diplomatisches Geschick. Die Machbarkeit von Ordnung scheint ihre Grenzen zu haben.

Der zweite Teil dieser Ausgabe richtet den Blick auf die problembeladenen inner-europäischen Angelegenheiten. Michael Dauderstädt diskutiert die grundsätzlichen Schwierigkeiten, einen integrierten Markt mit seinen supranationalen Ordnungsansprüchen in Einklang mit den Selbstbestimmungsansprüchen demokratischer Wohlfahrtsstaaten zu bringen – ein Paradigma für die sich formierende und gleichzeitig heftig umstrittene Welt der Globalisierung, aber auch ein Vermerk der Skepsis im Ordnungsmacht-Europa-Diskurs. Arne Heise ruft einen Weg zur Bekämpfung der anhaltend hohen europäischen Arbeitslosigkeit ins Gedächtnis, der zwar beschlossen, aber nie begangen wurde. Hans Platzer zeichnet den langen, mühsamen Prozess nach, der vielleicht einmal zu einer wirksamen Vertretung der Arbeitnehmerinteressen auf EU-Ebene führt, wie sie den neuen Wettbewerbsverhältnissen angemessen wäre.

Der Terminus „Eurosklerose“ ist passé, aber die Realität belegt es wieder und wieder: Auf Europa ist nicht zu zählen, wenn es darum geht, Dynamik in die Weltwirtschaft zu bringen. Und Deutschland gehört mittlerweile zu den größten Enttäuschungen. In diesem Kontext erscheint Rebecca Hardings These von der inhärenten Dynamik und Anpassungsfähigkeit der deutschen Wirtschaft ausgesprochen kontra-intuitiv. Wir meinen aber, ihr Beitrag ist dazu angetan, wichtige Differenzierung in die oft allzu ideologische Debatte zu bringen.


© Friedrich Ebert Stiftung | net edition malte.michel | 2/2002