Internationale Politik und Gesellschaft
International Politics and Society 2/2003

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Diese Ausgabe von Internationale Politik und Gesellschaft macht in beängstigender Weise die zerbrechlichen Grundlagen unserer Zivilität sichtbar. Es ist keine Ausgabe über spezielle Problemländer: Sierra Leone, Kongo, Afghanistan, Bosnien, sondern über die Dynamik der gesellschaftlichen Regression und über die robuste Normalität gewaltbestimmten Zusammenlebens von Menschen und Menschengruppen.

Die Hobbessche Prä-Leviathan-Welt, immer eher eine abstrakt-theoretische Denkfigur, scheint (wieder?) Realität zu werden. In den Sinn kommt auch Robert Kaplans Artikel „The Coming Anarchy“, der kurz nach dem Ende des kalten Krieges Aufsehen erregt hatte, als unser Weltbild noch von den Erfahrungen des 20. Jahrhunderts geprägt war. In jenem mörderischen Abschnitt unserer Zeitrechnung ging die alles überschattende Gefahr von den großen, vermessenen gesellschaftlichen Ordnungsentwürfen aus und von den staatlichen Machtapparaten, die in ihrem Namen geschaffen worden waren. Es war das Jahrhundert des Totalitarismus und der schrecklichen Kriege, wie sie nur durchorganisierte Staaten führen können.

Während der Diskurs in der „zivilisierten Welt“ noch weithin von der Sorge um „zuviel Staat“ bestimmt wird, gewinnt in anderen Teilen der Welt zunehmend das Problem der privatisierten Gewalt an Bedeutung. Stefan Mairs Beitrag liefert hierzu einen ordnenden Überblick. Das Pendant dieses Problems ist der Machtverlust des Staates, jener Einrichtung, mittels derer die moderne Gesellschaft ihr Zusammenleben regelt und der sie als ultimatives Sanktionsmittel das Monopol der Gewaltanwendung zuweist. Die beunruhigenden Prozesse, die wir in Teilen der Welt – nicht nur in Afrika – wahrnehmen, sind freilich mit dem Terminus „Staatszerfall“ nur unzureichend erfasst. Der Staat bleibt fast überall der Bezugspunkt des gesellschaftlichen Geschehens. Aber in den Vordergrund tritt der Kampf um die Macht im Staat oder, genauer gesagt, um die Ressourcen, auf die man mit der Kontrolle über den Staat Zugriff erlangt, bzw. die man dem Zugriff der jeweiligen Machthaber entziehen will. Für die einen ist der Staat Teil der Beute, um die gekämpft wird, für die anderen ist er (d.h. seine Machthaber) Rivale im Kampf um diese Beute.

Wer kämpft gegen wen? Nicht, wie in der Hobbesschen Urvorstellung, jeder gegen jeden. Im Kampf um Bereicherungs- und Überlebensmöglichkeiten (beides geht Hand in Hand) verspricht nur der Zusammenschluss Erfolg. Das grundlegende Muster ist das des Anführers und der Gefolgschaft, die er (Frauen kommen hier bezeichnender Weise so gut wie nicht vor) für den Kampf um Macht braucht und die sich im Gegenzug von ihm Entlohnung erwartet. Es ist das Grundmuster, das klientelistische Politik auch im Frieden auszeichnet. Auf diesen zentralen Zusammenhang weist Stephen Ellis in seinem Essay über Afrikas gewaltsame Konflikte hin.

Dass es tatsächlich zur gewaltsamen Auseinandersetzung kommt, auch das betont Ellis, hängt im Einzelfall von spezifischen politischen Konstellationen, oft auch Zufälligkeiten, ab. Aber Voraussetzung ist fast immer eine ökonomische Atrophie, die keine Perspektiven mehr für Positivsummen-Spiele bietet, eine Situation, die das „Beutemachen“ zur grundlegenden wirtschaftlichen Logik erhebt. Das, was wir als Staatszerfall konstatieren, rührt, so gesehen, ganz wesentlich auch daher, dass diese Länder vom globalen Wirtschaftswachstum abgehängt aber gleichzeitig in die weltwirtschaftlichen Strukturen integriert sind. In der Tat sind die wenigen lukrativen Anknüpfungspunkte an die Weltwirtschaft ein zentraler Teil der Beute, um die es in den neuen gewaltsamen Auseinandersetzungen geht. Zugespitzt: in der klientelistischen Gewaltgesellschaft hat die stagnierende postkoloniale Peripherie-Ökonomie ihre soziale Entsprechung gefunden.

Dass dies zur forcierten Aktivierung ethnischer Bande führt, passt zur klientelistischen Nullsummen-Logik, die für eine Ethnien übergreifende nationale Zugehörigkeit keine Belohnungen bereit hält. Dies wird besonders deutlich in den Beiträgen von William Reno und David Keen zum Bürgerkrieg in Sierra Leone und in Michael Ehrkes Analyse der Post-Bürgerkriegs-Ökonomie in Bosnien-Herzegowina. Aber die Diagnose eines als pathologisch wahrgenommenen Rückfalls in prä-nationale gesellschaftliche Organisationsformen greift zu kurz. Zur Debatte steht ein Geschichtsverständnis, das europäische Erfahrungen unreflektiert extrapoliert und die Bildung von – allenfalls klassenmäßig gespaltenen – Nationen als Bestandteil eines universellen zivilisatorischen Entwicklungsprozesses sieht, aber dessen ökonomische Grundlagen vernachlässigt.

Handelt es sich bei den „failing states“ in der Tat nicht um Ausrutscher, sondern um den langsamen Sieg einer unverstandenen Realität über eine – zugegebenermaßen äußerst wirkungsmächtige – normative Idee, dann steht die „zivilisierte Welt“ vor Herausforderungen, die sie erst in Umrissen zu ahnen beginnt. Die Aufgabe, kollabierende Staaten wieder zu festigen, die nach dem 11. September 2001 als wichtige Komponente einer erfolgreichen Antiterror-Strategie ins Visier der großen Mächte gerückt ist (und die Hanns Maull in seinem Beitrag zu unserer 2/2002-Ausgabe als zentral für die Errichtung einer neuen Weltordnung herausgestellt hat), fordert der Staatengemeinschaft womöglich mehr ab, als sie zu leisten imstande ist. Daniel Stroux, William Reno und David Keen deuten in ihren Beiträgen an, dass nur massive und lang anhaltende Intervention von außen die sich selbst verstärkende Dynamik der Gewaltökonomie außer Kraft setzen kann. Michael Ehrke zeigt am bosnischen Beispiel die Widrigkeiten auf, die den intendierten Aufbauprozess sabotieren, aber in die sich eine derartige Intervention fast zwangsläufig verstrickt. Was Gilles Dorronsoro zum deprimierenden politischen Misserfolg des amerikanischen Sieges in Afghanistan berichtet, rundet das Bild ab. Es sieht so aus, als ob Nord-Süd-Politik in Zukunft ganz groß geschrieben und außerdem völlig neu buchstabiert werden muss.

Europa, meint Michael Ehrke, wird in Bosnien letztendlich einen Erfolg erzwingen, weil der politische Imperativ stark genug ist, alle Schwierigkeiten zu überwinden. Winfried Veit denkt eine ebenfalls von europäischem Ressourceneinsatz getragene Lösung für den Nahostkonflikt an. Ein Patenschaftsmodell – aber wie viele „Patenkinder“ wird der Pate verkraften können?

© Friedrich Ebert Stiftung | net edition malte.michel | 3/2003