Zu diesem Heft
Diese Ausgabe von Internationale
Politik und Gesellschaft macht in beängstigender Weise
die zerbrechlichen Grundlagen unserer Zivilität sichtbar. Es
ist keine Ausgabe über spezielle Problemländer: Sierra Leone,
Kongo, Afghanistan, Bosnien, sondern über die Dynamik der gesellschaftlichen
Regression und über die robuste Normalität gewaltbestimmten
Zusammenlebens von Menschen und Menschengruppen.
Die Hobbessche Prä-Leviathan-Welt, immer eher eine abstrakt-theoretische
Denkfigur, scheint (wieder?) Realität zu werden. In den Sinn
kommt auch Robert Kaplans Artikel „The Coming Anarchy“, der
kurz nach dem Ende des kalten Krieges Aufsehen erregt hatte,
als unser Weltbild noch von den Erfahrungen des 20. Jahrhunderts
geprägt war. In jenem mörderischen Abschnitt unserer Zeitrechnung
ging die alles überschattende Gefahr von den großen, vermessenen
gesellschaftlichen Ordnungsentwürfen aus und von den staatlichen
Machtapparaten, die in ihrem Namen geschaffen worden waren.
Es war das Jahrhundert des Totalitarismus und der schrecklichen
Kriege, wie sie nur durchorganisierte Staaten führen können.
Während der Diskurs in der „zivilisierten Welt“ noch weithin
von der Sorge um „zuviel Staat“ bestimmt wird, gewinnt in anderen
Teilen der Welt zunehmend das Problem der privatisierten Gewalt
an Bedeutung. Stefan Mairs Beitrag liefert hierzu einen
ordnenden Überblick. Das Pendant dieses Problems ist der Machtverlust
des Staates, jener Einrichtung, mittels derer die moderne Gesellschaft
ihr Zusammenleben regelt und der sie als ultimatives Sanktionsmittel
das Monopol der Gewaltanwendung zuweist. Die beunruhigenden
Prozesse, die wir in Teilen der Welt – nicht nur in Afrika –
wahrnehmen, sind freilich mit dem Terminus „Staatszerfall“ nur
unzureichend erfasst. Der Staat bleibt fast überall der Bezugspunkt
des gesellschaftlichen Geschehens. Aber in den Vordergrund tritt
der Kampf um die Macht im Staat oder, genauer gesagt,
um die Ressourcen, auf die man mit der Kontrolle über den Staat
Zugriff erlangt, bzw. die man dem Zugriff der jeweiligen Machthaber
entziehen will. Für die einen ist der Staat Teil der Beute,
um die gekämpft wird, für die anderen ist er (d.h. seine Machthaber)
Rivale im Kampf um diese Beute.
Wer kämpft gegen wen? Nicht, wie in der Hobbesschen Urvorstellung,
jeder gegen jeden. Im Kampf um Bereicherungs- und Überlebensmöglichkeiten
(beides geht Hand in Hand) verspricht nur der Zusammenschluss
Erfolg. Das grundlegende Muster ist das des Anführers und der
Gefolgschaft, die er (Frauen kommen hier bezeichnender Weise
so gut wie nicht vor) für den Kampf um Macht braucht und die
sich im Gegenzug von ihm Entlohnung erwartet. Es ist das Grundmuster,
das klientelistische Politik auch im Frieden auszeichnet. Auf
diesen zentralen Zusammenhang weist Stephen Ellis in
seinem Essay über Afrikas gewaltsame Konflikte hin.
Dass es tatsächlich zur gewaltsamen Auseinandersetzung kommt,
auch das betont Ellis, hängt im Einzelfall von spezifischen
politischen Konstellationen, oft auch Zufälligkeiten, ab. Aber
Voraussetzung ist fast immer eine ökonomische Atrophie, die
keine Perspektiven mehr für Positivsummen-Spiele bietet, eine
Situation, die das „Beutemachen“ zur grundlegenden wirtschaftlichen
Logik erhebt. Das, was wir als Staatszerfall konstatieren, rührt,
so gesehen, ganz wesentlich auch daher, dass diese Länder
vom globalen Wirtschaftswachstum abgehängt aber gleichzeitig
in die weltwirtschaftlichen Strukturen integriert sind.
In der Tat sind die wenigen lukrativen Anknüpfungspunkte an
die Weltwirtschaft ein zentraler Teil der Beute, um die es in
den neuen gewaltsamen Auseinandersetzungen geht. Zugespitzt:
in der klientelistischen Gewaltgesellschaft hat die stagnierende
postkoloniale Peripherie-Ökonomie ihre soziale Entsprechung
gefunden.
Dass dies zur forcierten Aktivierung ethnischer Bande führt,
passt zur klientelistischen Nullsummen-Logik, die für eine Ethnien
übergreifende nationale Zugehörigkeit keine Belohnungen bereit
hält. Dies wird besonders deutlich in den Beiträgen von William
Reno und David Keen zum Bürgerkrieg in Sierra Leone
und in Michael Ehrkes Analyse der Post-Bürgerkriegs-Ökonomie
in Bosnien-Herzegowina. Aber die Diagnose eines als pathologisch
wahrgenommenen Rückfalls in prä-nationale gesellschaftliche
Organisationsformen greift zu kurz. Zur Debatte steht ein Geschichtsverständnis,
das europäische Erfahrungen unreflektiert extrapoliert und die
Bildung von – allenfalls klassenmäßig gespaltenen – Nationen
als Bestandteil eines universellen zivilisatorischen Entwicklungsprozesses
sieht, aber dessen ökonomische Grundlagen vernachlässigt.
Handelt es sich bei den „failing states“ in der Tat nicht um
Ausrutscher, sondern um den langsamen Sieg einer unverstandenen
Realität über eine – zugegebenermaßen äußerst wirkungsmächtige
– normative Idee, dann steht die „zivilisierte Welt“ vor Herausforderungen,
die sie erst in Umrissen zu ahnen beginnt. Die Aufgabe, kollabierende
Staaten wieder zu festigen, die nach dem 11. September 2001
als wichtige Komponente einer erfolgreichen Antiterror-Strategie
ins Visier der großen Mächte gerückt ist (und die Hanns Maull
in seinem Beitrag zu unserer 2/2002-Ausgabe als zentral
für die Errichtung einer neuen Weltordnung herausgestellt hat),
fordert der Staatengemeinschaft womöglich mehr ab, als sie zu
leisten imstande ist. Daniel Stroux, William Reno
und David Keen deuten in ihren Beiträgen an, dass nur
massive und lang anhaltende Intervention von außen die sich
selbst verstärkende Dynamik der Gewaltökonomie außer Kraft setzen
kann. Michael Ehrke zeigt am bosnischen Beispiel die
Widrigkeiten auf, die den intendierten Aufbauprozess sabotieren,
aber in die sich eine derartige Intervention fast zwangsläufig
verstrickt. Was Gilles Dorronsoro zum deprimierenden
politischen Misserfolg des amerikanischen Sieges in Afghanistan
berichtet, rundet das Bild ab. Es sieht so aus, als ob Nord-Süd-Politik
in Zukunft ganz groß geschrieben und außerdem völlig neu buchstabiert
werden muss.
Europa, meint Michael Ehrke, wird in Bosnien letztendlich
einen Erfolg erzwingen, weil der politische Imperativ stark
genug ist, alle Schwierigkeiten zu überwinden. Winfried Veit
denkt eine ebenfalls von europäischem Ressourceneinsatz getragene
Lösung für den Nahostkonflikt an. Ein Patenschaftsmodell – aber
wie viele „Patenkinder“ wird der Pate verkraften können?
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