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Politik und Gesellschaft Online
International Politics and Society 3/2001

Heidemarie Wieczorek-Zeul
Der Umbau zu einer neuen Weltordnung
Globale Strukturpolitik, Entwicklungspolitik und ihre praktischen Beiträge

Mahdi Abdul-Hadi
Ein neues Kapitel im Palästinakonflikt

Roby Nathanson
Israelis und Palästinenser müssen wirtschaftlich kooperieren

Fritz Schatten
Rückkehr wohin? Das endlose Drama der Palästinensischen Flüchtlinge

Wolfgang Quaisser / John Hall
Damit die Europäische Union die Osterweiterung verkraftet

Michael Ehrke
Frisch auf den Tisch... Die BSE-Krise, die europäische Agrarpolitik und der Verbraucherschutz

Julia Kuschnereit
Handelspolitik gegen Kinderarbeit? Die begrenzte Wirksamkeit von Sozialklauseln

Shahid Ashraf
Kinderarbeiter ohne Alternativen

Joachim Betz
Die begrenzte Wirkung von Sozialsiegeln: Kinderarbeit im indischen Teppichsektor

Reinhard Palm
Soziale Gestaltung der Globalisierung: Sozialsiegel und Verhaltenskodizes

 

Heidemarie Wieczorek-Zeul
Der Umbau zu einer neuen Weltordnung
Globale Strukturpolitik, Entwicklungspolitik und ihre praktischen Beiträge

In der globalisierten Welt lassen sich viele öffentliche Aufgaben nicht mehr auf nationaler Ebene, sondern nur noch durch ein Zusammenwirken der einzelnen Staaten bewältigen. Mehr und mehr werden hierbei auch die ärmeren Länder als Kooperationspartner benötigt (Beispiel Klimaschutz). Die reichen Industrieländer haben ein zunehmendes Interesse daran, dass die Entwicklungsländer in der Lage sind, ihren Part in den sich herausbildenden Strukturen der "Global Governance", der länderübergreifenden Regulierung und Problemlösung, zu spielen. Sie dazu zu befähigen, muss in Zukunft ein prioritäres Ziel von Entwicklungszusammenarbeit sein. Um die Handlungs- und Verantwortungsfähigkeit armer Länder zu stärken, sind ganzheitliche Ansätze nötig, die (a) auf die gesellschaftlichen und politischen Strukturen dieser Länder und (b) auf die internationalen Rahmenbedingungen abzielen. Die erste Komponente fordert eine politisch konzipierte Entwicklungszusammenarbeit, die stets die gewünschten Veränderungen in den Partnerländern im Auge behält. Die zweite Komponente führt zum Konzept der globalen Strukturpolitik. Die weltweiten Rahmenbedingungen müssen entwicklungsfreundlicher werden. U.a. müssen die Industrieländer den Entwicklungsländern den Zugang zu den Weltmärkten erleichtern, sie müssen eine Reihe von ihnen aus der Schuldenfalle befreien und sie müssen verhindern, dass ihre Entwicklung durch ein zu restriktives internationales Patentrecht erschwert wird. Weltbank und Internationaler Währungsfonds haben jüngst - auf deutsche Initiative hin - wichtige Weichenstellungen in Richtung auf eine wirksamere, international koordinierte Armutsbekämpfung vorgenommen. Aber die notwendigen Anpassungen in den Industrieländern selbst stoßen noch immer auf erhebliche Widerstände.

Mahdi Abdul-Hadi
Ein neues Kapitel im Palästinakonflikt

(Original: Israelis and Palestinians: Towards a New Chapter of the Conflict)

Es waren politische Opportunitätsüberlegungen, die sowohl Israel als auch die palästinensische Führung dazu bewogen, ab 1991 in Friedensverhandlungen einzusteigen. Israel wollte angesichts zunehmender Radikalisierung des palästinensischen Widerstandes die PLO gleichsam als das kleinere Übel stärken. Die im Exil befindliche PLO-Führung fürchtete, die Kontrolle an neue, in den besetzten Gebiete nach vorn drängende Eliten zu verlieren. Außerdem hatten beide Seiten begonnen einzusehen, dass sie ihre jeweiligen Maximalziele nicht erreichen konnten. Die Ereignisse seitdem machten jedoch klar, dass Israel nicht gewillt war, den Palästinensern selbst in den 22 Prozent, die vom historischen Palästina verblieben waren, die volle Souveränität zuzugestehen. Es zeigte sich in seinen Bedingungen so restriktiv und unnachgiebig, dass von gleichberechtigtem Nebeneinander beider Völker keine Rede sein konnte. Israel wollte schlichtweg das Ende des Konfliktes ohne irgendwelche Zugeständnisse. Hierin unterschieden sich Labor- und Likud-Regierungen substanziell in keiner Weise. Eine echte Friedenslösung wäre dem israelischen Volk bis heute nie zu "verkaufen" gewesen. Es steht zu erwarten, dass jetzt, nach dem einstweiligen Ende des sogenannten Friedensprozesses, neue diplomatische Initiativen eingeleitet werden, um zwischen der palästinensischen Autorität und Israel zu vermitteln. Dabei wird es um "Normalisierung", nicht um Frieden, gehen. Von den USA abhängige arabische Staaten - sei es Jordanien, sei es Ägypten, sei es Katar - werden eine wichtige Rolle spielen. Sie werden versuchen, ihre eigene internationale Position zu stärken. Auch Arafat wird sich wieder als geschickter Taktierer erweisen. Für das palästinensische Volk wird es jedoch erst dann Fortschritt geben, wenn die israelische Öffentlichkeit zur Versöhnung bereit ist und entsprechenden politischen Druck ausübt. Bis dahin sind die Zeichen auf zunehmende antiisraelische Emotionen - auch in Jordanien und Ägypten - gestellt. Wahrscheinlich kommt ohne das Eingreifen einer internationalen Schutzmacht kein Friede zustande.

Ron Pundak
Der Preis des Friedens zwischen Israelis und Palästinensern

(Original: Israelis and Palestinians : the Price of Peace)

Frieden erfordert einen sehr hohen Preis von Israelis und Palästinensern. Die Israelis müssen Abschied nehmen von Überzeugungen, die über Jahrzehnte ihre Politik bestimmten. Sie müssen die Gebiete aufgeben, die für Israels Sicherheit einst als unverzichtbar galten. Und sie müssen sich damit abfinden, dass diejenigen dort die Kontrolle erlangen, die sich die Vernichtung Israels geschworen hatten und die lange Zeit als Terroristen galten. Außerdem muss Israel gut hundert jüdische Siedlungen sowie die Souveränität über Ostjerusalem preisgeben. Die Palästinenser müssen sich endgültig damit abfinden, dass mehr als drei Viertel des früheren Palästina jetzt Staatsgebiet Israels sind und dass für die allermeisten Palästinenser die Rückkehr nach Israel ausgeschlossen bleibt. Die palästinensische Regierung muss aktiv den anti-israelischen Terrorismus ihrer radikalen Landsleute bekämpfen. Im Oslo-Abkommen von 1993 waren beide Seiten grundsätzlich überein gekommen, den jeweiligen Preis zu zahlen. Der Weg zu einem dauerhaften Frieden war damit vorgezeichnet, wenn auch nicht in allen Details abgesteckt. Er würde zu einem souveränen, wenn auch demilitarisierten, palästinensischem Staat im Wesentlichen innerhalb der Waffenstillstandsgrenzen von 1967 führen. Größere jüdische Siedlungen würden an Israel fallen, dafür würde Palästina gleich große Territorien bei Gaza erhalten. Jerusalem würde beiden Staaten als offene Hauptstadt dienen. Für die palästinensischen Flüchtlinge würde es begrenzte Wiedergutmachung, aber keine massenhafte Rückkehr nach Israel geben. Dass es trotz der grundsätzlichen und im Lauf der Zeit erweiterten Übereinstimmung zwischen beiden Seiten seit September 2000 zur erneuten Eskalation von Gewalt kam, liegt am schlechten Management des Friedensprozesses. Trotz des unbestreitbaren Rückschlags bleiben die Weichen aber langfristig in Richtung Frieden gestellt; denn die grundlegenden Einsichten, die den Preis des Friedens für beide Völker akzeptabel gemacht haben, sind weiterhin vorhanden.

Roby Nathanson
Israelis und Palästinenser müssen wirtschaftlich kooperieren

(Original: Israelis and Palestinians: the Need for Economic Co-operation)

Die Palästinenser sind dermaßen auf den wirtschaftlichen Austausch mit Israel angewiesen, dass jede Unterbrechung verheerende Wohlfahrtseinbußen zur Folge hat. Über zwanzig Prozent aller Arbeitskräfte verdienen ihr Einkommen in Israel. Die Steuern, die sie zahlen, kommen für sechzig Prozent des Budgets der Palästinensischen Autorität auf. Israel ist außerdem der wichtigste Exportmarkt für palästinensische Produkte. Die Erfahrung hat gezeigt, dass jede "Normalisierung" der israelisch-palästinensischen Beziehungen zu einer unmittelbaren Verbesserung der wirtschaftlichen Lage in Palästina führt. Auch Israel zieht daraus Nutzen, da es unter einem zunehmendem Mangel an Arbeitskräften leidet. Der wirtschaftliche Austausch ist freilich darauf angewiesen, dass er politisch nicht unterbunden wird. Seit dem Ausbruch der neuen Intifada wurde in Israel verstärkt der dauerhafte Abbruch aller Wirtschaftsbeziehungen mit den palästinensischen Gebieten gefordert. Dies ist jedoch keine durchhaltbare Option. Wenngleich auf absehbare Zeit unstabile Beziehungen mit wiederholten Gewalteskalationen das wahrscheinlichste Szenario umreißen, wäre langfristig eine Intensivierung der wirtschaftlichen Zusammenarbeit anzustreben. Dies erfordert nicht nur politische Stabilität, sondern auch einen souveränen, funktionsfähigen palästinensischen Staat.

Fritz Schatten
Rückkehr wohin? Das endlose Drama der Palästinensischen Flüchtlinge

Die Rückkehr der palästinensischen Flüchtlinge in ihre Heimat, aus der sie infolge von drei Nahostkriegen vertrieben wurden, ist eine - auch von der UNO gedeckte - Kernforderung der Palästinenser in den Verhandlungen mit Israel. Ihre Einlösung ist jedoch nicht wahrscheinlich. Israel unter Scharon verweigert grundsätzlich jedes Zugeständnis in dieser Frage. Es ist aber auch umstritten, wer als Palästinenser bzw. palästinensischer Flüchtling zu gelten hat. Die palästinensischen Autoritäten sprechen von 3,5 Millionen Flüchtlingen, doch die einst Vertriebenen sind in vielen Fällen in ihr Gastland integriert. Dies gilt insbesondere für Jordanien und die erste Flüchtlingswelle nach 1948. In Saudi-Arabien und den Golfstaaten gehören viele ehemalige Flüchtlinge der administrativen, wirtschaftlichen und Bildungselite an. Gleichzeitig werden - auch in Jordanien - Flüchtlingslager aufrecht erhalten, die den nach wie vor erhobenen Anspruch der Palästinenser auf ihre Heimat symbolisieren. Für mehrere arabische Regierungen sind die palästinensischen Flüchtlinge eine politische Verfügungsmasse, die nach wechselnden politischen Prioritäten eingesetzt werden kann - entsprechend unzuverlässig sind daher auch bereits die Zahlen, die diese Regierungen angeben. Unklar ist schließlich, wohin die palästinensischen Flüchtlinge zurückkehren sollen. Israel wird sie nicht aufnehmen, insbesondere nicht nach Ausbruch der al-Aqsa-Intifada, die von der arabischen Minorität israelischer Bürger unterstützt wird. Aber auch die palästinensischen Autonomiegebiete - das Westjordanland und der Gaza-Streifen - sind bereits überbevölkert, und die Lebensbedingungen etwa im Gaza-Streifen waren bereits vor der zweiten Intifada prekärer als in Baqa'a, dem schlimmsten Flüchtlingslager Jordaniens. Eine Rückkehr der Flüchtlinge in ihre Heimat wird weder möglich sein, noch wird sie in vielen Fällen von den Flüchtlingen wirklich angestrebt.

Wolfgang Quaisser / John Hall
Damit die Europäische Union die Osterweiterung verkraftet

(Original: Making the European Union Fit for Eastern Enlargement)

Die geplante Osterweiterung der Europäischen Union ist ein wichtiges Unterfangen. Aber so wie sie gegenwärtig - nach den Reformen der "Agenda 2000" und der Regierungskonferenz von Nizza - funktioniert, wird die Union allenfalls die erste Erweiterungsrunde, die ihr wahrscheinlich fünf neue mittel- und osteuropäische Mitglieder beschert, verkraften. Die in weiteren Runden anstehende Aufnahme zusätzlicher fünf bis acht Länder würde sowohl das Budget der EU als auch ihre Entscheidungsprozesse überfordern. Was letztere anbelangt, braucht die EU eine klarere Kompetenzabgrenzung zwischen den einzelnen Regierungsebenen. Letzten Endes wird das auf eine Art Konföderation hinauslaufen. Sie braucht aber auch eine Neugewichtung der den einzelnen Mitgliedsländern zustehenden Stimmen. Andernfalls werden die Länder, die die finanziellen Nettobeiträge zum Unionsbudget leisten, ein zu geringes politisches Mitspracherecht haben. Damit die EU-Ausgaben auch nach 2007 in dem Rahmen bleiben, der 1992 festgelegt wurde und dessen Ausweitung politisch nicht akzeptiert würde, müssen zwei Politikbereiche gründlich umgestaltet werden: die Gemeinsame Agrarpolitik und die diversen Strukturpolitiken. Die Agrarpolitik sollte Abschied vom jetzigen System der Preisstützung nehmen und zu direkten Einkommenshilfen für die wirtschaftliche schwächeren Landwirte übergehen. Die Strukturpolitik sollte sich nicht mehr an dem Ziel ausrichten, wirtschaftsschwache Regionen zu unterstützen. Oberste Priorität sollte das Ziel der Einkommenskonvergenz zwischen den Mitgliedsländern bekommen. Die Hilfe aus den diversen Strukturfonds der EU sollte fast ganz den neuen Mitgliedsländern aus Mittel und Osteuropa zugute kommen. Als Rahmen für die erforderlichen Anpassungen in der Agrar- und Strukturpolitik bedarf es einer "Agenda 2007".

Michael Ehrke
Frisch auf den Tisch... Die BSE-Krise, die europäische Agrarpolitik und der Verbraucherschutz

Die BSE-Krise wurde nicht von kriminellen Tiermehlproduzenten und -verfütterern verursacht, sondern geht auf ein Systemrisiko zurück, das der modernen veterinär-chemischen Landwirtschaft inhärent ist. Die enormen Produktivitätssteigerungen der modernen Landwirtschaft gingen zwangsläufig einher mit einer grundlegenden Veränderung der Produkte wie der Produktionsprozesse. Agrarprodukte sind keine Naturprodukte mehr, sondern neuartige chemisch-medikamentöse Stoffkombinationen, deren Wirkung auf den menschlichen Organismus oft unbekannt ist. Die Modernisierung der Landwirtschaft erfolgt zum einen über den Markt: Agrarunternehmen sind gezwungen, ihre Kosten zu senken und Produktivität zu steigern. Zum andern wird dieser Markt eingeschränkt durch die gemeinsame europäische Agrarpolitik, die Produktivitätssteigerungen honoriert, gleichzeitig aber (über Interventionspreise) Produktionsbegrenzungen unnötig macht: Sie fördert die Produktion standardisierter großer Mengen ohne Beachtung der Produktqualität und Produktdifferenzierung. Sie macht die Einflussnahme des Verbrauchers auf Qualität und Quantität der Produktion unmöglich und sie schließt Produkte vom europäischen Markt aus, die (wie argentinisches Rindfleisch) unter günstigeren Bedingungen erzeugt wurden. Ein wirksamer produktbezogener, mit Verbraucherinformation (Etikettierung) wie mit Ge- und Verboten arbeitender Verbraucherschutz ist unter den Bedingungen einer modernen chemisch-veterinären Landwirtschaft und Nahrungsmittelindustrie kaum zu leisten. Er droht an den Verfechtern einer uneingeschränkten Marktwirtschaft, an der Agrarmarktstrategie der EU, am Einfluss der Produzenten und nicht zuletzt an der unübersehbaren Fülle von Stoffen und Stoffkombinationen zu scheitern. Wirksamer wäre ein Verbraucherschutz, der sich nicht an Produkten, sondern an Prozessen orientierte. Das Konzept der ökologischen Landwirtschaft ist Beispiel für einen prozessbezogenen Verbraucherschutz. In Zukunft wird die europäische Agrarpolitik vor der Alternative einer weitreichenden Liberalisierung, die mit einer wirksameren Überwachung und einem veränderten Haftungsrecht einhergehen müsste, und der Fortsetzung der Subventionierung, allerdings mit veränderten Zielen, stehen. Diese Ziele können technologisch definiert sein (gentechnische versus ökologische versus konventionelle Landwirtschaft), sie können aber auch auf bestimmte Gruppen (Produzenten versus Konsumenten) oder metaökonomische Ziele (Umwelt, artgerechte Tierhaltung) gerichtet sein. Auf jeden Fall wird die landwirtschaftliche Entwicklung in Zukunft kein von Verbandsvertretern und Bürokraten administrierter Arkanbereich mehr sein, sondern im Zentrum des öffentlichen Interesses stehen und die Politik zur "Gestaltung" zwingen.

Julia Kuschnereit
Handelspolitik gegen Kinderarbeit? Die begrenzte Wirksamkeit von Sozialklauseln

Auch zu Beginn des 21. Jahrhunderts ist Kinderarbeit in vielen Teilen der Welt bittere Realität. Weltweit arbeiten Schätzungen zufolge 120 Millionen Kinder, viele von ihnen unter menschenunwürdigen Bedingungen. Aber ein effektives Verbot von Kinderarbeit, das nicht auch die Ursachen der Kinderarbeit beseitigt, kann dazu führen, dass sich die Lage der Kinder verschlechtert: Bei dem in vielen Entwicklungsländern gegebenen unbegrenzt elastischen Arbeitskräfteangebot würde die Substitution von Kindern durch erwachsene Arbeiter zu keiner Erhöhung der Löhne, sondern zu einer Senkung der Familieneinkommen u.U. unter das Subsistenzniveau führen. Für die "schlimmsten Formen der Kinderarbeit" (ILO-Konvention 182 von 1999) dagegen (Zwangsarbeit, Schuldknechtschaft, Prostitution, Drogenhandel) ist ein effektives Verbot eine Minimalbedingung. Doch bislang waren weder nationale Gesetzgebungen, noch internationale Konventionen in der Lage, Kinderarbeit auch in ihren "schlimmsten Formen" aus der Welt zu schaffen. Als effektives Instrument werden Sozialklauseln im internationalen Handel gefordert. Diese würden jedoch ausschließlich die Exportproduktion treffen, die nur einen Bruchteil der arbeitenden Kinder (etwa fünf Prozent) einsetzen. Außerdem ist meist kaum nachzuweisen, ob bei der Fertigung eines Produkts Kinderarbeit eingesetzt wurde. Die Wirkung von Sozialklauseln variiert, je nachdem ob sie produkt-, branchen- oder länderspezifisch angewandt wird. Sie kann auch Unbeteiligten schaden, die wirtschaftliche Entwicklung eines Landes behindern und zu protektionistischen Zwecken missbraucht werden. Gleichwohl können Sozialklauseln dazu beitragen, die "schlimmsten Formen der Kinderarbeit" (nicht Kinderarbeit generell) einzuschränken und die Lage der Kinder zu verbessern, insbesondere indem sie lokale Akteure in ihrem Kampf gegen Kinderarbeit unterstützen. Im unbedingten Interesse der Kinder liegt es dagegen, dass die internationale Gemeinschaft ihre Ressourcen vermehrt für eine direkte Bekämpfung der Ursachen von Kinderarbeit einsetzt.  

Shahid Ashraf
Kinderarbeiter ohne Alternativen

(Original: Children Laborers Without Alternatives)

Zwischen sieben und fünfundzwanzig Prozent der Arbeitskräfte in der indischen Teppichindustrie sind Kinder (fast ausschließlich Jungen). Die Teppichknüpfarbeit dient meist zur Aufbesserung des sehr kärglichen Einkommens örtlicher Bauernfamilien. Es gibt aber auch Wander-Kinderarbeiter. Ein Teil der Kinder wird von ihren Eltern in Schuldknechtschaft gegeben. Die selbst unter starkem wirtschaftlichen Druck stehenden Webstuhlbesitzer haben ein Interesse daran, Kinder trotz ihrer vergleichsweise geringen Leistungsfähigkeit zu beschäftigen, da sie einerseits verlässlicher, andererseits leichter ausbeutbar sind. Internationale Kampagnen gegen Kinderarbeit, wie z.B. die Rugmark-Initiative, haben dazu beigetragen, dass die indische Öffentlichkeit dem Problem der Kinderarbeit mehr Aufmerksamkeit schenkte und entsprechende gesetzliche Verbote verschärft wurden. In der Tat ging die Kinderarbeit seit Beginn der Kampagnen zurück. Aber die Situation der betroffenen Kinder hat sich nicht entscheidend verbessert. Denn für sie gibt es kaum vorteilhafte Alternativen zur Teppichknüpfarbeit. Schulbesuch weist in aller Regel nicht den Weg zu einer einträglicheren Beschäftigung. Dazu bedürfte es ländlicher Entwicklung, die neue Wirtschaftsaktivitäten hervorbringt. Einstweilen käme es darauf an, die Strukturen der Teppichknüpfbranche so zu verändern, dass weniger Raum für Ausbeutung besteht. Ohne internationale Koordinierung wird dies kaum möglich sein. Um die Lage der Kinder nachhaltig zu verbessern, müssen auf der Ebene der lokalen Selbstverwaltung (Panchayat) integrierte Programme entwickelt werden, für die es kein Patentrezept gibt. Die internationalen Kampagnen gegen Kinderarbeit sollten sich hierbei als Partner anbieten.

Joachim Betz
Die begrenzte Wirkung von Sozialsiegeln: Kinderarbeit im indischen Teppichsektor

Neben Sozialklauseln, Konventionen, Basisdienstleistungen der Entwicklungshilfe und Verhaltenskodizes sind Siegelungskampagnen ein politisches Instrument, das für die Verbesserung der Sozialstandards in Entwicklungsländern eingesetzt werden kann. Dabei ist die Abschaffung der Kinderarbeit zentrales Ziel derartiger Kampagnen, bevorzugtes Einsatzland ist Indien, das hinsichtlich der Zahl der Kinderarbeiter an der Weltspitze liegt. Prominenter Zielsektor ist die Teppichindustrie, die als Exportindustrie (nur drei Prozent der indischen Kinderarbeiter sind im Exportsektor tätig) durch internationale Kampagnen beeinflussbar ist. Die Einführung von Sozialsiegeln hat - so weit sich aus den Inspektionen ablesen lässt - die Kinderarbeit im Teppichgürtel Indiens in der Tat verringert. Eine mindestens ebenso starke Wirkung ging allerdings von der Verschärfung der indischen Gesetzgebung zur Kinderarbeit aus, die möglicherweise von der Siegelungskampagne mit beeinflusst wurde. Gleichwohl ist der Erfolg unsicher, zum einen, weil es zum Umfang und den Bedingungen der Kinderarbeit nach wie vor zu wenig gesicherte Kenntnisse gibt. Zweitens sind nur Kinderarbeiter im Exportsektor betroffen, die zudem als Ergebnis erfolgreicher Kampagnen möglicherweise in noch schlechtere Arbeitsverhältnisse im informellen Sektor gedrängt werden könnten. Drittens ist angesichts der Größe des indischen Teppichgürtels, seiner infrastrukturellen Ausstattung und der Struktur der Teppichindustrie (dörfliche Kleinstunternehmen) eine wirkliche Kontrolle der Arbeitsverhältnisse kaum möglich. Viertens müsste den Familien freigesetzter Kinder die Möglichkeit gegeben werden, Ersatzeinkommen zu erwirtschaften (zusätzliche Arbeitsplätze für die Erwachsenen) oder Ausgaben zu senken (Übernahme der Schulkosten, Stipendien usw.). Fünftens schließlich müsste der Mangel an schulischen Einrichtungen behoben werden. Gerade hier könnte ausländische Unterstützung ansetzen - die aber, trotz der moralischen Empörung über die Kinderarbeit, meist bescheiden bleibt.

Reinhard Palm
Soziale Gestaltung der Globalisierung: Sozialsiegel und Verhaltenskodizes

Die Kinderarbeit im Teppichgürtel Indiens ist zurückgegangen: Dies ist das Ergebnis einer Siegelungskampagne, an der Nicht-Regierungsorganisationen, Unternehmen, die ILO sowie die indische und deutsche Regierung zusammenwirkten. Das Sozialsiegel "Rugmark" auf aus Indien nach Deutschland importierten Teppichen dokumentiert, dass das Produkt ohne Kinderarbeit gefertigt wurde. Andere Sozialsiegel (wie Transfair für Kaffee) garantieren, dass bei der Produktion gewisse soziale Minimalstandards eingehalten wurden. Sozialsiegel spalten den Markt in ein "ethisches" und ein konventionelles Segment. Im "ethischen" Segment entrichten die Konsumenten einen höheren als den konventionellen Preis, können aber im Kaufakt ihren sozialen Präferenzen Ausdruck verleihen und zur Verbesserung der Lebensbedingungen der Produzenten in den Entwicklungsländern beitragen. Vergleichbar, wenn auch weniger direkt, wirken Verhaltenskodizes von Unternehmen. Sozialsiegel und Verhaltenskodizes sind ein wirksames Instrument, um Globalisierung zu gestalten - das heißt zu verhindern, dass die wirtschaftliche Globalisierung sozial zu einem "race to the bottom" wird. Sie sind angemessener als handelspolitische Sozialklauseln gegen "Sozialdumping", die oft ganze Länder - und nicht zielgenau die Profiteure von menschenunwürdigen Arbeits- und Lebensbedingungen treffen. Um wirksam zu sein, müssen Sozialsiegel und Verhaltenskodizes allerdings bestimmten Anforderungen entsprechen: In den Industrieländern müssen sie die Verbraucher glaubwürdig informieren, in den Entwicklungsländern müssen sie Anreize zur nachhaltigen Produktionsumstellung geben. Ein Weg, das Potenzial von Sozialsiegeln und Verhaltenskodizes besser auszuschöpfen, ist die Vernetzung von Initiativen und Akteuren, bei der dem Staat eine wichtige moderierende Rolle zukommt.


© Friedrich Ebert Stiftung | net edition malte.michel| 7/2001