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Heidemarie Wieczorek-Zeul
Der Umbau zu einer neuen Weltordnung
Globale Strukturpolitik, Entwicklungspolitik und ihre praktischen Beiträge
Mahdi Abdul-Hadi
Ein neues Kapitel im Palästinakonflikt
Roby Nathanson
Israelis und Palästinenser müssen wirtschaftlich kooperieren
Fritz
Schatten
Rückkehr wohin? Das endlose Drama der Palästinensischen Flüchtlinge
Wolfgang Quaisser / John Hall
Damit die Europäische Union die Osterweiterung verkraftet
Michael Ehrke
Frisch auf den Tisch... Die BSE-Krise, die europäische Agrarpolitik
und der Verbraucherschutz
Julia Kuschnereit
Handelspolitik gegen Kinderarbeit? Die begrenzte Wirksamkeit von Sozialklauseln
Shahid Ashraf
Kinderarbeiter ohne Alternativen
Joachim Betz
Die begrenzte Wirkung von Sozialsiegeln: Kinderarbeit im indischen Teppichsektor
Reinhard Palm
Soziale Gestaltung der Globalisierung: Sozialsiegel und Verhaltenskodizes
Heidemarie Wieczorek-Zeul
Der Umbau zu einer neuen Weltordnung
Globale Strukturpolitik, Entwicklungspolitik und ihre praktischen Beiträge
In der globalisierten Welt lassen sich viele öffentliche Aufgaben nicht
mehr auf nationaler Ebene, sondern nur noch durch ein Zusammenwirken
der einzelnen Staaten bewältigen. Mehr und mehr werden hierbei auch
die ärmeren Länder als Kooperationspartner benötigt (Beispiel Klimaschutz).
Die reichen Industrieländer haben ein zunehmendes Interesse daran, dass
die Entwicklungsländer in der Lage sind, ihren Part in den sich herausbildenden
Strukturen der "Global Governance", der länderübergreifenden Regulierung
und Problemlösung, zu spielen. Sie dazu zu befähigen, muss in Zukunft
ein prioritäres Ziel von Entwicklungszusammenarbeit sein. Um die Handlungs-
und Verantwortungsfähigkeit armer Länder zu stärken, sind ganzheitliche
Ansätze nötig, die (a) auf die gesellschaftlichen und politischen Strukturen
dieser Länder und (b) auf die internationalen Rahmenbedingungen abzielen.
Die erste Komponente fordert eine politisch konzipierte Entwicklungszusammenarbeit,
die stets die gewünschten Veränderungen in den Partnerländern im Auge
behält. Die zweite Komponente führt zum Konzept der globalen Strukturpolitik.
Die weltweiten Rahmenbedingungen müssen entwicklungsfreundlicher werden.
U.a. müssen die Industrieländer den Entwicklungsländern den Zugang zu
den Weltmärkten erleichtern, sie müssen eine Reihe von ihnen aus der
Schuldenfalle befreien und sie müssen verhindern, dass ihre Entwicklung
durch ein zu restriktives internationales Patentrecht erschwert wird.
Weltbank und Internationaler Währungsfonds haben jüngst - auf deutsche
Initiative hin - wichtige Weichenstellungen in Richtung auf eine wirksamere,
international koordinierte Armutsbekämpfung vorgenommen. Aber die notwendigen
Anpassungen in den Industrieländern selbst stoßen noch immer auf erhebliche
Widerstände.
Mahdi Abdul-Hadi
Ein neues Kapitel im Palästinakonflikt
(Original: Israelis and Palestinians: Towards a New Chapter of the
Conflict)
Es waren politische Opportunitätsüberlegungen, die sowohl Israel als
auch die palästinensische Führung dazu bewogen, ab 1991 in Friedensverhandlungen
einzusteigen. Israel wollte angesichts zunehmender Radikalisierung des
palästinensischen Widerstandes die PLO gleichsam als das kleinere Übel
stärken. Die im Exil befindliche PLO-Führung fürchtete, die Kontrolle
an neue, in den besetzten Gebiete nach vorn drängende Eliten zu verlieren.
Außerdem hatten beide Seiten begonnen einzusehen, dass sie ihre jeweiligen
Maximalziele nicht erreichen konnten. Die Ereignisse seitdem machten
jedoch klar, dass Israel nicht gewillt war, den Palästinensern selbst
in den 22 Prozent, die vom historischen Palästina verblieben waren,
die volle Souveränität zuzugestehen. Es zeigte sich in seinen Bedingungen
so restriktiv und unnachgiebig, dass von gleichberechtigtem Nebeneinander
beider Völker keine Rede sein konnte. Israel wollte schlichtweg das
Ende des Konfliktes ohne irgendwelche Zugeständnisse. Hierin unterschieden
sich Labor- und Likud-Regierungen substanziell in keiner Weise. Eine
echte Friedenslösung wäre dem israelischen Volk bis heute nie zu "verkaufen"
gewesen. Es steht zu erwarten, dass jetzt, nach dem einstweiligen Ende
des sogenannten Friedensprozesses, neue diplomatische Initiativen eingeleitet
werden, um zwischen der palästinensischen Autorität und Israel zu vermitteln.
Dabei wird es um "Normalisierung", nicht um Frieden, gehen. Von den
USA abhängige arabische Staaten - sei es Jordanien, sei es Ägypten,
sei es Katar - werden eine wichtige Rolle spielen. Sie werden versuchen,
ihre eigene internationale Position zu stärken. Auch Arafat wird sich
wieder als geschickter Taktierer erweisen. Für das palästinensische
Volk wird es jedoch erst dann Fortschritt geben, wenn die israelische
Öffentlichkeit zur Versöhnung bereit ist und entsprechenden politischen
Druck ausübt. Bis dahin sind die Zeichen auf zunehmende antiisraelische
Emotionen - auch in Jordanien und Ägypten - gestellt. Wahrscheinlich
kommt ohne das Eingreifen einer internationalen Schutzmacht kein Friede
zustande.
Ron Pundak
Der Preis des Friedens zwischen Israelis und Palästinensern
(Original: Israelis and Palestinians : the Price
of Peace)
Frieden erfordert einen sehr hohen Preis von Israelis
und Palästinensern. Die Israelis müssen Abschied nehmen von Überzeugungen,
die über Jahrzehnte ihre Politik bestimmten. Sie müssen die Gebiete
aufgeben, die für Israels Sicherheit einst als unverzichtbar galten.
Und sie müssen sich damit abfinden, dass diejenigen dort die Kontrolle
erlangen, die sich die Vernichtung Israels geschworen hatten und die
lange Zeit als Terroristen galten. Außerdem muss Israel gut hundert
jüdische Siedlungen sowie die Souveränität über Ostjerusalem preisgeben.
Die Palästinenser müssen sich endgültig damit abfinden, dass mehr als
drei Viertel des früheren Palästina jetzt Staatsgebiet Israels sind
und dass für die allermeisten Palästinenser die Rückkehr nach Israel
ausgeschlossen bleibt. Die palästinensische Regierung muss aktiv den
anti-israelischen Terrorismus ihrer radikalen Landsleute bekämpfen.
Im Oslo-Abkommen von 1993 waren beide Seiten grundsätzlich überein gekommen,
den jeweiligen Preis zu zahlen. Der Weg zu einem dauerhaften Frieden
war damit vorgezeichnet, wenn auch nicht in allen Details abgesteckt.
Er würde zu einem souveränen, wenn auch demilitarisierten, palästinensischem
Staat im Wesentlichen innerhalb der Waffenstillstandsgrenzen von 1967
führen. Größere jüdische Siedlungen würden an Israel fallen, dafür würde
Palästina gleich große Territorien bei Gaza erhalten. Jerusalem würde
beiden Staaten als offene Hauptstadt dienen. Für die palästinensischen
Flüchtlinge würde es begrenzte Wiedergutmachung, aber keine massenhafte
Rückkehr nach Israel geben. Dass es trotz der grundsätzlichen und im
Lauf der Zeit erweiterten Übereinstimmung zwischen beiden Seiten seit
September 2000 zur erneuten Eskalation von Gewalt kam, liegt am schlechten
Management des Friedensprozesses. Trotz des unbestreitbaren Rückschlags
bleiben die Weichen aber langfristig in Richtung Frieden gestellt; denn
die grundlegenden Einsichten, die den Preis des Friedens für beide Völker
akzeptabel gemacht haben, sind weiterhin vorhanden.
Roby
Nathanson
Israelis und Palästinenser müssen wirtschaftlich kooperieren
(Original: Israelis and Palestinians: the Need for Economic Co-operation)
Die Palästinenser sind dermaßen auf den wirtschaftlichen Austausch
mit Israel angewiesen, dass jede Unterbrechung verheerende Wohlfahrtseinbußen
zur Folge hat. Über zwanzig Prozent aller Arbeitskräfte verdienen ihr
Einkommen in Israel. Die Steuern, die sie zahlen, kommen für sechzig
Prozent des Budgets der Palästinensischen Autorität auf. Israel ist
außerdem der wichtigste Exportmarkt für palästinensische Produkte. Die
Erfahrung hat gezeigt, dass jede "Normalisierung" der israelisch-palästinensischen
Beziehungen zu einer unmittelbaren Verbesserung der wirtschaftlichen
Lage in Palästina führt. Auch Israel zieht daraus Nutzen, da es unter
einem zunehmendem Mangel an Arbeitskräften leidet. Der wirtschaftliche
Austausch ist freilich darauf angewiesen, dass er politisch nicht unterbunden
wird. Seit dem Ausbruch der neuen Intifada wurde in Israel verstärkt
der dauerhafte Abbruch aller Wirtschaftsbeziehungen mit den palästinensischen
Gebieten gefordert. Dies ist jedoch keine durchhaltbare Option. Wenngleich
auf absehbare Zeit unstabile Beziehungen mit wiederholten Gewalteskalationen
das wahrscheinlichste Szenario umreißen, wäre langfristig eine Intensivierung
der wirtschaftlichen Zusammenarbeit anzustreben. Dies erfordert nicht
nur politische Stabilität, sondern auch einen souveränen, funktionsfähigen
palästinensischen Staat.
Fritz Schatten
Rückkehr wohin? Das endlose Drama der Palästinensischen Flüchtlinge
Die Rückkehr der palästinensischen Flüchtlinge in ihre Heimat, aus
der sie infolge von drei Nahostkriegen vertrieben wurden, ist eine -
auch von der UNO gedeckte - Kernforderung der Palästinenser in den Verhandlungen
mit Israel. Ihre Einlösung ist jedoch nicht wahrscheinlich. Israel unter
Scharon verweigert grundsätzlich jedes Zugeständnis in dieser Frage.
Es ist aber auch umstritten, wer als Palästinenser bzw. palästinensischer
Flüchtling zu gelten hat. Die palästinensischen Autoritäten sprechen
von 3,5 Millionen Flüchtlingen, doch die einst Vertriebenen sind in
vielen Fällen in ihr Gastland integriert. Dies gilt insbesondere für
Jordanien und die erste Flüchtlingswelle nach 1948. In Saudi-Arabien
und den Golfstaaten gehören viele ehemalige Flüchtlinge der administrativen,
wirtschaftlichen und Bildungselite an. Gleichzeitig werden - auch in
Jordanien - Flüchtlingslager aufrecht erhalten, die den nach wie vor
erhobenen Anspruch der Palästinenser auf ihre Heimat symbolisieren.
Für mehrere arabische Regierungen sind die palästinensischen Flüchtlinge
eine politische Verfügungsmasse, die nach wechselnden politischen Prioritäten
eingesetzt werden kann - entsprechend unzuverlässig sind daher auch
bereits die Zahlen, die diese Regierungen angeben. Unklar ist schließlich,
wohin die palästinensischen Flüchtlinge zurückkehren sollen. Israel
wird sie nicht aufnehmen, insbesondere nicht nach Ausbruch der al-Aqsa-Intifada,
die von der arabischen Minorität israelischer Bürger unterstützt wird.
Aber auch die palästinensischen Autonomiegebiete - das Westjordanland
und der Gaza-Streifen - sind bereits überbevölkert, und die Lebensbedingungen
etwa im Gaza-Streifen waren bereits vor der zweiten Intifada prekärer
als in Baqa'a, dem schlimmsten Flüchtlingslager Jordaniens. Eine Rückkehr
der Flüchtlinge in ihre Heimat wird weder möglich sein, noch wird sie
in vielen Fällen von den Flüchtlingen wirklich angestrebt.
Wolfgang
Quaisser / John Hall
Damit die Europäische Union die Osterweiterung verkraftet
(Original: Making the European Union Fit for Eastern Enlargement)
Die geplante Osterweiterung der Europäischen Union ist ein wichtiges
Unterfangen. Aber so wie sie gegenwärtig - nach den Reformen der "Agenda
2000" und der Regierungskonferenz von Nizza - funktioniert, wird die
Union allenfalls die erste Erweiterungsrunde, die ihr wahrscheinlich
fünf neue mittel- und osteuropäische Mitglieder beschert, verkraften.
Die in weiteren Runden anstehende Aufnahme zusätzlicher fünf bis acht
Länder würde sowohl das Budget der EU als auch ihre Entscheidungsprozesse
überfordern. Was letztere anbelangt, braucht die EU eine klarere Kompetenzabgrenzung
zwischen den einzelnen Regierungsebenen. Letzten Endes wird das auf
eine Art Konföderation hinauslaufen. Sie braucht aber auch eine Neugewichtung
der den einzelnen Mitgliedsländern zustehenden Stimmen. Andernfalls
werden die Länder, die die finanziellen Nettobeiträge zum Unionsbudget
leisten, ein zu geringes politisches Mitspracherecht haben. Damit die
EU-Ausgaben auch nach 2007 in dem Rahmen bleiben, der 1992 festgelegt
wurde und dessen Ausweitung politisch nicht akzeptiert würde, müssen
zwei Politikbereiche gründlich umgestaltet werden: die Gemeinsame Agrarpolitik
und die diversen Strukturpolitiken. Die Agrarpolitik sollte Abschied
vom jetzigen System der Preisstützung nehmen und zu direkten Einkommenshilfen
für die wirtschaftliche schwächeren Landwirte übergehen. Die Strukturpolitik
sollte sich nicht mehr an dem Ziel ausrichten, wirtschaftsschwache Regionen
zu unterstützen. Oberste Priorität sollte das Ziel der Einkommenskonvergenz
zwischen den Mitgliedsländern bekommen. Die Hilfe aus den diversen Strukturfonds
der EU sollte fast ganz den neuen Mitgliedsländern aus Mittel und Osteuropa
zugute kommen. Als Rahmen für die erforderlichen Anpassungen in der
Agrar- und Strukturpolitik bedarf es einer "Agenda 2007".
Michael Ehrke
Frisch auf den Tisch... Die BSE-Krise, die europäische Agrarpolitik
und der Verbraucherschutz
Die BSE-Krise wurde nicht von kriminellen Tiermehlproduzenten und
-verfütterern verursacht, sondern geht auf ein Systemrisiko zurück,
das der modernen veterinär-chemischen Landwirtschaft inhärent ist. Die
enormen Produktivitätssteigerungen der modernen Landwirtschaft gingen
zwangsläufig einher mit einer grundlegenden Veränderung der Produkte
wie der Produktionsprozesse. Agrarprodukte sind keine Naturprodukte
mehr, sondern neuartige chemisch-medikamentöse Stoffkombinationen, deren
Wirkung auf den menschlichen Organismus oft unbekannt ist. Die Modernisierung
der Landwirtschaft erfolgt zum einen über den Markt: Agrarunternehmen
sind gezwungen, ihre Kosten zu senken und Produktivität zu steigern.
Zum andern wird dieser Markt eingeschränkt durch die gemeinsame europäische
Agrarpolitik, die Produktivitätssteigerungen honoriert, gleichzeitig
aber (über Interventionspreise) Produktionsbegrenzungen unnötig macht:
Sie fördert die Produktion standardisierter großer Mengen ohne Beachtung
der Produktqualität und Produktdifferenzierung. Sie macht die Einflussnahme
des Verbrauchers auf Qualität und Quantität der Produktion unmöglich
und sie schließt Produkte vom europäischen Markt aus, die (wie argentinisches
Rindfleisch) unter günstigeren Bedingungen erzeugt wurden. Ein wirksamer
produktbezogener, mit Verbraucherinformation (Etikettierung) wie mit
Ge- und Verboten arbeitender Verbraucherschutz ist unter den Bedingungen
einer modernen chemisch-veterinären Landwirtschaft und Nahrungsmittelindustrie
kaum zu leisten. Er droht an den Verfechtern einer uneingeschränkten
Marktwirtschaft, an der Agrarmarktstrategie der EU, am Einfluss der
Produzenten und nicht zuletzt an der unübersehbaren Fülle von Stoffen
und Stoffkombinationen zu scheitern. Wirksamer wäre ein Verbraucherschutz,
der sich nicht an Produkten, sondern an Prozessen orientierte. Das Konzept
der ökologischen Landwirtschaft ist Beispiel für einen prozessbezogenen
Verbraucherschutz. In Zukunft wird die europäische Agrarpolitik vor
der Alternative einer weitreichenden Liberalisierung, die mit einer
wirksameren Überwachung und einem veränderten Haftungsrecht einhergehen
müsste, und der Fortsetzung der Subventionierung, allerdings mit veränderten
Zielen, stehen. Diese Ziele können technologisch definiert sein (gentechnische
versus ökologische versus konventionelle Landwirtschaft), sie können
aber auch auf bestimmte Gruppen (Produzenten versus Konsumenten) oder
metaökonomische Ziele (Umwelt, artgerechte Tierhaltung) gerichtet sein.
Auf jeden Fall wird die landwirtschaftliche Entwicklung in Zukunft kein
von Verbandsvertretern und Bürokraten administrierter Arkanbereich mehr
sein, sondern im Zentrum des öffentlichen Interesses stehen und die
Politik zur "Gestaltung" zwingen.
Julia Kuschnereit
Handelspolitik gegen Kinderarbeit? Die begrenzte Wirksamkeit von Sozialklauseln
Auch zu Beginn des 21. Jahrhunderts ist Kinderarbeit in vielen Teilen
der Welt bittere Realität. Weltweit arbeiten Schätzungen zufolge 120
Millionen Kinder, viele von ihnen unter menschenunwürdigen Bedingungen.
Aber ein effektives Verbot von Kinderarbeit, das nicht auch die Ursachen
der Kinderarbeit beseitigt, kann dazu führen, dass sich die Lage der
Kinder verschlechtert: Bei dem in vielen Entwicklungsländern gegebenen
unbegrenzt elastischen Arbeitskräfteangebot würde die Substitution von
Kindern durch erwachsene Arbeiter zu keiner Erhöhung der Löhne, sondern
zu einer Senkung der Familieneinkommen u.U. unter das Subsistenzniveau
führen. Für die "schlimmsten Formen der Kinderarbeit" (ILO-Konvention
182 von 1999) dagegen (Zwangsarbeit, Schuldknechtschaft, Prostitution,
Drogenhandel) ist ein effektives Verbot eine Minimalbedingung. Doch
bislang waren weder nationale Gesetzgebungen, noch internationale Konventionen
in der Lage, Kinderarbeit auch in ihren "schlimmsten Formen" aus der
Welt zu schaffen. Als effektives Instrument werden Sozialklauseln im
internationalen Handel gefordert. Diese würden jedoch ausschließlich
die Exportproduktion treffen, die nur einen Bruchteil der arbeitenden
Kinder (etwa fünf Prozent) einsetzen. Außerdem ist meist kaum nachzuweisen,
ob bei der Fertigung eines Produkts Kinderarbeit eingesetzt wurde. Die
Wirkung von Sozialklauseln variiert, je nachdem ob sie produkt-, branchen-
oder länderspezifisch angewandt wird. Sie kann auch Unbeteiligten schaden,
die wirtschaftliche Entwicklung eines Landes behindern und zu protektionistischen
Zwecken missbraucht werden. Gleichwohl können Sozialklauseln dazu beitragen,
die "schlimmsten Formen der Kinderarbeit" (nicht Kinderarbeit generell)
einzuschränken und die Lage der Kinder zu verbessern, insbesondere indem
sie lokale Akteure in ihrem Kampf gegen Kinderarbeit unterstützen. Im
unbedingten Interesse der Kinder liegt es dagegen, dass die internationale
Gemeinschaft ihre Ressourcen vermehrt für eine direkte Bekämpfung der
Ursachen von Kinderarbeit einsetzt.
Shahid
Ashraf
Kinderarbeiter ohne Alternativen
(Original: Children Laborers Without Alternatives)
Zwischen sieben und fünfundzwanzig Prozent der Arbeitskräfte
in der indischen Teppichindustrie sind Kinder (fast ausschließlich Jungen).
Die Teppichknüpfarbeit dient meist zur Aufbesserung des sehr kärglichen
Einkommens örtlicher Bauernfamilien. Es gibt aber auch Wander-Kinderarbeiter.
Ein Teil der Kinder wird von ihren Eltern in Schuldknechtschaft gegeben.
Die selbst unter starkem wirtschaftlichen Druck stehenden Webstuhlbesitzer
haben ein Interesse daran, Kinder trotz ihrer vergleichsweise geringen
Leistungsfähigkeit zu beschäftigen, da sie einerseits verlässlicher,
andererseits leichter ausbeutbar sind. Internationale Kampagnen gegen
Kinderarbeit, wie z.B. die Rugmark-Initiative, haben dazu beigetragen,
dass die indische Öffentlichkeit dem Problem der Kinderarbeit mehr Aufmerksamkeit
schenkte und entsprechende gesetzliche Verbote verschärft wurden. In
der Tat ging die Kinderarbeit seit Beginn der Kampagnen zurück. Aber
die Situation der betroffenen Kinder hat sich nicht entscheidend verbessert.
Denn für sie gibt es kaum vorteilhafte Alternativen zur Teppichknüpfarbeit.
Schulbesuch weist in aller Regel nicht den Weg zu einer einträglicheren
Beschäftigung. Dazu bedürfte es ländlicher Entwicklung, die neue Wirtschaftsaktivitäten
hervorbringt. Einstweilen käme es darauf an, die Strukturen der Teppichknüpfbranche
so zu verändern, dass weniger Raum für Ausbeutung besteht. Ohne internationale
Koordinierung wird dies kaum möglich sein. Um die Lage der Kinder nachhaltig
zu verbessern, müssen auf der Ebene der lokalen Selbstverwaltung (Panchayat)
integrierte Programme entwickelt werden, für die es kein Patentrezept
gibt. Die internationalen Kampagnen gegen Kinderarbeit sollten sich
hierbei als Partner anbieten.
Joachim Betz
Die begrenzte Wirkung von Sozialsiegeln: Kinderarbeit im indischen
Teppichsektor
Neben Sozialklauseln, Konventionen, Basisdienstleistungen der Entwicklungshilfe
und Verhaltenskodizes sind Siegelungskampagnen ein politisches Instrument,
das für die Verbesserung der Sozialstandards in Entwicklungsländern
eingesetzt werden kann. Dabei ist die Abschaffung der Kinderarbeit
zentrales Ziel derartiger Kampagnen, bevorzugtes Einsatzland ist Indien,
das hinsichtlich der Zahl der Kinderarbeiter an der Weltspitze liegt.
Prominenter Zielsektor ist die Teppichindustrie, die als Exportindustrie
(nur drei Prozent der indischen Kinderarbeiter sind im Exportsektor
tätig) durch internationale Kampagnen beeinflussbar ist. Die Einführung
von Sozialsiegeln hat - so weit sich aus den Inspektionen ablesen
lässt - die Kinderarbeit im Teppichgürtel Indiens in der Tat verringert.
Eine mindestens ebenso starke Wirkung ging allerdings von der Verschärfung
der indischen Gesetzgebung zur Kinderarbeit aus, die möglicherweise
von der Siegelungskampagne mit beeinflusst wurde. Gleichwohl ist der
Erfolg unsicher, zum einen, weil es zum Umfang und den Bedingungen
der Kinderarbeit nach wie vor zu wenig gesicherte Kenntnisse gibt.
Zweitens sind nur Kinderarbeiter im Exportsektor betroffen, die zudem
als Ergebnis erfolgreicher Kampagnen möglicherweise in noch schlechtere
Arbeitsverhältnisse im informellen Sektor gedrängt werden könnten.
Drittens ist angesichts der Größe des indischen Teppichgürtels, seiner
infrastrukturellen Ausstattung und der Struktur der Teppichindustrie
(dörfliche Kleinstunternehmen) eine wirkliche Kontrolle der Arbeitsverhältnisse
kaum möglich. Viertens müsste den Familien freigesetzter Kinder die
Möglichkeit gegeben werden, Ersatzeinkommen zu erwirtschaften (zusätzliche
Arbeitsplätze für die Erwachsenen) oder Ausgaben zu senken (Übernahme
der Schulkosten, Stipendien usw.). Fünftens schließlich müsste der
Mangel an schulischen Einrichtungen behoben werden. Gerade hier könnte
ausländische Unterstützung ansetzen - die aber, trotz der moralischen
Empörung über die Kinderarbeit, meist bescheiden bleibt.
Reinhard Palm
Soziale Gestaltung der Globalisierung: Sozialsiegel und Verhaltenskodizes
Die Kinderarbeit im Teppichgürtel Indiens ist zurückgegangen: Dies
ist das Ergebnis einer Siegelungskampagne, an der Nicht-Regierungsorganisationen,
Unternehmen, die ILO sowie die indische und deutsche Regierung zusammenwirkten.
Das Sozialsiegel "Rugmark" auf aus Indien nach Deutschland importierten
Teppichen dokumentiert, dass das Produkt ohne Kinderarbeit gefertigt
wurde. Andere Sozialsiegel (wie Transfair für Kaffee) garantieren, dass
bei der Produktion gewisse soziale Minimalstandards eingehalten wurden.
Sozialsiegel spalten den Markt in ein "ethisches" und ein konventionelles
Segment. Im "ethischen" Segment entrichten die Konsumenten einen höheren
als den konventionellen Preis, können aber im Kaufakt ihren sozialen
Präferenzen Ausdruck verleihen und zur Verbesserung der Lebensbedingungen
der Produzenten in den Entwicklungsländern beitragen. Vergleichbar,
wenn auch weniger direkt, wirken Verhaltenskodizes von Unternehmen.
Sozialsiegel und Verhaltenskodizes sind ein wirksames Instrument, um
Globalisierung zu gestalten - das heißt zu verhindern, dass die wirtschaftliche
Globalisierung sozial zu einem "race to the bottom" wird. Sie sind angemessener
als handelspolitische Sozialklauseln gegen "Sozialdumping", die oft
ganze Länder - und nicht zielgenau die Profiteure von menschenunwürdigen
Arbeits- und Lebensbedingungen treffen. Um wirksam zu sein, müssen Sozialsiegel
und Verhaltenskodizes allerdings bestimmten Anforderungen entsprechen:
In den Industrieländern müssen sie die Verbraucher glaubwürdig informieren,
in den Entwicklungsländern müssen sie Anreize zur nachhaltigen Produktionsumstellung
geben. Ein Weg, das Potenzial von Sozialsiegeln und Verhaltenskodizes
besser auszuschöpfen, ist die Vernetzung von Initiativen und Akteuren,
bei der dem Staat eine wichtige moderierende Rolle zukommt.
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