Der Kapitalismus hat gesiegt, aber es gibt sie noch:
Länder, die dem Sozialismus keineswegs abgeschworen
haben, auch wenn sie versuchen, ihn durch Reformen
wirtschaftlich ertragreicher zu machen. Eines von
ihnen, das volkreichste Land der Erde überhaupt, ist
seit zwei Jahrzehnten auch das wirtschaftlich dynamischste
– wenn man so will: das eigentliche Wirtschaftswunderland
der Gegenwart. Sein kleiner sozialistischer Nachbar
Vietnam gehört seit fünf Jahren ebenfalls zur Gruppe
der besonders schnell wachsenden Volkswirtschaften.
Vergleicht man damit das ökonomische Debakel, das
in Europa und Zentralasien den Übergang vom Sozialismus
zum Kapitalismus begleitet hat, dann drängen sich
Fragen auf, die sich nicht mit einem schnellen „Das
lässt sich nicht vergleichen“ wegwischen lassen. Hans-Jörg
Herr und Peter Wolff bieten analytische Einsichten zum Erfolgsgeheimnis
des ostasiatischen „Reformsozialismus“ an. Sie haben
etwas mit dem Unterschied von Akkumulationsdynamik
und statischer Effizienz zu tun, mit der makroökonomischen
Kontrollfähigkeit politischer Systeme sowie mit Artikulation
und Desartikulation wirtschaftlicher Austauschbeziehungen.
China und Vietnam haben bewusst den langen Marsch
des Herauswachsens aus der Planwirtschaft angetreten,
ohne dass das Ziel der Reise schon genau feststünde
(für eine skeptische Sichtweise steht der in diesem
Heft besprochene „China Dream“ von Joe Studwell).
Castros Kuba, jener faszinierende „Fremdkörper“ der
westlichen Hemisphäre, ist von der Not dazu getrieben
worden, vom festen Ufer der sozialistischen Orthodoxie
vorübergehend abzulegen. Dabei ist es jedoch in starke
Strömungen geraten, gegenüber denen das Kurshalten
des Kapitäns sich immer deutlicher als wirkungslos
erweist. Hans-Jürgen Burchardt zeigt die Wege
auf, die Kubas Entwicklung nehmen könnte. Beschleunigter
zivilisatorischer Fortschritt ist weniger wahrscheinlich
als ein Abdriften in die krisenträchtige Normalität
der „Dritten Welt“.
Die Verheißung von Frieden, Freiheit und Wohlstand,
die die weltpolitische Zäsur am Ende des „kurzen zwanzigsten
Jahrhunderts“ zu kennzeichnen schien, ist nur zehn
Jahre später wieder in weite Ferne gerückt. Der Stoff,
aus dem Geschichte wieder vorrangig gemacht ist, ist
der Kampf um Privilegien, um Macht und Einfluss. Jene
Emanzipation der „normalen“ Menschen, die in der Figur
des mit Rechten ausgestatteten Staatsbürgers eine
einstweilige institutionelle Gestalt gefunden hat,
kommt in weiten Teilen der Welt nicht voran. Das ist
der Hintergrund für die neue Entfaltung von großen
geopolitischen Machtspielen - „Great Games“ – ebenso
wie für die Verfestigung gewaltsamer Konflikte unterhalb
der staatlichen Ebene. Beide Arten von Machtkämpfen
sind miteinander verbunden. Zu beiden bringt diese
Ausgabe von INTERNATIONALE POLITIK UND GESELLSCHAFT
exemplarische Beiträge. Alec Rasizade stellt
die Dimensionen und die Akteure des erneuten Ringens
um die Auffüllung jenes Machtvakuums vor, das der
Zusammenbruch der Sowjetunion in Zentralasien hinterlassen
hat. Michael Ehrke richtet
an Hand eines Literaturberichts den Blick auf die
„perverse“ Logik der Selbstverfestigung, die gewaltsamen
Auseinandersetzungen innewohnt.
Im Anschluss an die Terrorakte des 11. September
2001 war viel die Rede von der neuen Herausforderung,
mit der die „zivilisierte Welt“ konfrontiert ist.
Tatsächlich stellt sich die politische Zivilisierung
der Welt – in diese Richtung argumentiert auch Gernot
Erlers Kommentar am Anfang des Heftes – immer
mehr als die eigentliche große Herausforderung dar:
die Ausweitung jenes institutionalisierten inneren
und äußeren Friedens, der uns im Westen als Normalität
erscheint, auf die ganze Welt. Das bedeutet sowohl
„Weltordnung“ im Sinne des Beitrags von Hanns Maull
in unserer 2/2002-Ausgabe als auch tragfähige
Ordnung im Innern von Gesellschaften. Können wir Privilegierte
der Welt hierzu etwas tun? Carlos Santisos Beitrag
über die Bemühungen der Europäischen Union, Demokratie
im Rest der Welt zu fördern, wirkt eher ernüchternd.
Die Perfektionierung des Zusammenlebens in den reichen
demokratischen Gesellschaften mag vor dem globalen
Hintergrund als Herausforderung verblassen. Gleichwohl
ist gerade dies die Aufgabe, bei deren Bewältigung
sich unsere Ordnung zu bewähren hat. Es ist der Stoff,
aus dem zivilisierte Politik gemacht ist. Das mag
als Perspektive dienen für die Überlegungen von David
Miliband, einem der derzeitigen „Vordenker“
der Labour Party, zur behutsamen Neugestaltung der
britischen Gesellschaft.