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Politik und Gesellschaft Online
International Politics and Society 3/2002


David Miliband
Der künftige Weg von „New Labour“ aus der Sicht des Insiders

Hansjörg Herr
Tastendes Suchen. Chinas erfolgreicher Reformprozess

 

David Miliband

Der künftige Weg von „New Labour“ aus der Sicht des Insiders

(Original: The Future of New Labour: a View From Inside)

Die Labour Party wurde in 2001 mit einer überwältigenden Mehrheit wieder in die Regierungsverantwortung gewählt. Dies kann als Anerkennung für die Leistungen der ersten Blair-Regierung in Bezug auf Wirtschaftswachstum, Reform der Sozialhilfe, Konsolidierung der Staatsfinanzen, Verbrechensbekämpfung, Dezentralisierung und Engagement in Europa gewertet werden. Sicher spielte auch der desolate Zustand der konservativen Opposition eine Rolle. Entscheidend aber war, dass die Agenda und das Auftreten der erneuerten Labour Party die dominierenden Strömungen in der modernen britischen Gesellschaft widerspiegelten. Das heißt aber nicht, dass „New Labour“ die Regierungsmacht für das nächste Jahrzehnt gepachtet hat. Noch gibt es kein umfassendes gesellschaftliches Bündnis für eine durchgreifende Modernisierung Großbritanniens im Einklang mit den Anforderungen der neuen Zeit. Erst ein derartiges Bündnis würde Labour zur dominierenden politischen Kraft auf lange Zeit machen. In der ersten Regierung Blair wurde nur der Grundstein gelegt für die kommenden großen Reformaufgaben. So wurde vor den Wahlen 1997 auch nur „ein Start, keine Revolution“ versprochen. Die Labour Party muss jetzt eine überzeugende Vision von einer Gesellschaft entwickeln, die einerseits fit für die Anforderungen der globalisierten Märkte ist und andererseits allen ihren Mitgliedern sowohl Chancen als auch hinreichende Sicherheit bietet. Sie muss institutionelle Reformen (etwa im Gesundheits- und Bildungswesen) vorantreiben, die als Ausdruck dieser Vision wahrgenommen werden. In der heterogenen Gesellschaft von heute und morgen muss die Partei selbst Verantwortung auf die lokale Ebene verlagern, damit sie dort in der Lage ist, den Fortschritt voranzubringen und hierfür Unterstützung zu mobilisieren. Auch nach vier Jahren Labour-Regierung ist Großbritannien noch weit von Chancengleichheit entfernt. Diese erheblich zu verbessern, bleibt Labours große Aufgabe. Dazu müssen für diejenigen am Rande des nationalen Wohlstands nicht nur Jobangebote, sondern auch Karrieremöglichkeiten geschaffen werden. Die weit verbreitete Unsicherheit, wirtschaftlich – und im Gefolge auch gesellschaftlich – den Anschluss zu verlieren, muss verschwinden. Auch das alte wirtschaftliche Übel des Landes, die vergleichsweise geringe Produktivität, ist bei weitem noch nicht überwunden. Auch hier wird der Durchbruch nur auf lokaler und regionaler Ebene zu schaffen sein. All dies verlangt angemessene institutionelle Reformen und entsprechende Regierungskompetenz. Es ist aber auch wichtig, dass derartige Reformen von einem Ideal getragen werden, dass Widerhall in der Bevölkerung findet, weil es der veränderten Lebenssituation breiter Bevölkerungsschichten entspricht.

Hansjörg Herr

Tastendes Suchen. Chinas erfolgreicher Reformprozess

Die VR China verfolgt seit nunmehr über zwanzig Jahren eine Strategie des graduellen Herauswachsens aus der Planwirtschaft. Der planwirtschaftliche Preisbildungsmechanismus und die planwirtschaftliche Mengenplanung wurden schrittweise liberalisiert. Das Management der Staatsunternehmen wurde reformiert, aber mit ihrer Privatisierung wurde erst Mitte der neunziger Jahre vorsichtig begonnen. Dagegen ließ man einen neuen kleinbetrieblichen Privatsektor heranwachsen, der heute mehr zum Sozialprodukt beiträgt als die staatlichen Unternehmen. Der Kapitalverkehr ist nach wie vor strikt reguliert, und freier Handel setzt sich erst in jüngster Zeit nach dem Beitritt Chinas zur WTO durch. Monetäre Stabilität wurde über Jahrzehnte durch Kreditrationierung des weitgehend staatlichen Bankensystems gewährleistet. Chinas Reformstrategie steht im Gegensatz zur volkswirtschaftlichen Orthodoxie des Westens. Gleichwohl zeichnet sich das Land seit über zwei Jahrzehnten durch extrem hohes Wirtschaftswachstum und eine niedrige Inflationsrate aus. Trotz hoher ausländischer Direktinvestitionen ist seine Leistungsbilanz in der Tendenz ausgeglichen. Demgegenüber hat die Strategie der schockartigen Reform – sofortige Preisliberalisierung, Abschaffung der Planbehörde und Verschenkung der staatlichen Unternehmen und Banken – Russland in die wirtschaftliche Katastrophe geführt. Die VR China zeigt, dass bei Aufrechterhaltung makroökonomischer Stabilität eine dynamische Entwicklung mit mikroökonomischen Ineffizienzen vielfältiger Art (insbesondere bei der Kreditzuweisung) verbunden sein kann. Das macht deutlich, dass die Akkumulation, d.h. die Investition und nicht die optimale Allokation, das A und O von Entwicklung darstellt. Hohe Investitionen wurden in China von den staatlichen Unternehmen, den neu heranwachsenden Privatsektor und den Joint Ventures ausländischer Unternehmen getragen. Das Bankensystem hat trotz aller Verzerrungen diese Entwicklung unterstützt. Allerdings hat die Verzögerung von Reformen auch neue Risiken entstehen lassen, insbesondere was den hohen Anteil uneinbringlicher Forderungen der Banken gegenüber den Staatsunternehmen betrifft. Restriktivere Kreditvergabe der Banken während der letzten Jahre hat die Investitionstätigkeit geschwächt und das Wachstum verlangsamt. Neue Herausforderungen stellt auch Chinas Beitritt zur WTO. Bei falscher Politik – beispielsweise einer zu schnellen Liberalisierung des internationalen Kapitalverkehrs – kann auch der chinesische Transformationsprozess noch scheitern. Dennoch: die neoliberalen Alternativen zur chinesischen Transformations- und Entwicklungsstrategie bieten auch nicht ansatzweise ähnliche Erfolgschancen. 

 

Peter Wolff

Vietnam: Laissez-faire unter sozialistischem Dach

Die vietnamesische Wirtschaftsreform begann Ende der 80er Jahre mit drastischen makroökonomischen Anpassungsmaßnahmen, der Abschaffung von zentraler Planung und  Preiskontrollen sowie einer Dekollektivierung der Landwirtschaft. Die Freisetzung der bis dahin unterdrückten Initiative von Millionen Kleinbauern und Gewerbetreibenden ließen Nahrungsmittelknappheit und Versorgungsengpässe rasch verschwinden. Vietnam befindet sich seither auf einem stetigen Wachstumspfad, der erst nach der Asienkrise etwas abflachte. Ein tiefer Einbruch der Wirtschaft wie in Osteuropa konnte vermieden werden, weil die meisten Arbeitskräfte in der Landwirtschaft beschäftigt waren, wo eine Rückkehr von Produktionsgenossenschaften zu kleinbäuerlichen Produktionsformen unmittelbare Produktions- und Einkommenserhöhungen nach sich zog. Zudem hatten informelle Märkte angesichts der Unzulänglichkeiten der zentralen Planung bereits vor Beginn der Reform erhebliche Bedeutung erlangt. Von dem Strukturumbruch betroffene Arbeitskräfte wurden überwiegend vom rasch wachsenden Kleingewerbe absorbiert. Die Vermeidung eines Produktionseinbruchs war also weniger auf eine bewusste gradualistische Strategie zurückzuführen, als vielmehr auf die günstigen Ausgangsbedingungen für die rasche Entfaltung privatwirtschaftlicher Initiative. Eine wichtige Rahmenbedingung war allerdings auch die makroökonomische Stabilität, d.h. die Vermeidung von größeren Handelsbilanzdefiziten, von Inflation und Auslandsverschuldung. Der stabile makroökonomische Rahmen erlaubte neben der Entfaltung der Privatwirtschaft auch die weitere Existenz der überwiegend ineffizienten Staatsbetriebe, ein wichtiger Pfeiler des vietnamesischen Verständnisses von „sozialistischer Marktwirtschaft“. Die weitere Integration Vietnams in den Weltmarkt setzt dieses Modell jedoch unter Druck. Der Staatssektor ist kaum wettbewerbsfähig, der Privatsektor noch weitgehend kleingewerblich strukturiert. Das Bankensystem ist wegen der hohen internen Verschuldung und wegen des Fehlens einer kommerziellen Kreditkultur kaum zur Finanzierung des aufstrebenden Privatsektors in der Lage. Deshalb wird sich das Regime wohl allmählich vom Konzept der „Sozialistischen Marktwirtschaft“ verabschieden müssen. Dieses Konzept hat es allerdings erlaubt, auch die beharrenden  Kräfte in der Partei in dem für Vietnam typischen Verfahren der Konsensbildung in den Reformprozess zu integrieren. Die ersten Ansätze zu politischen Reformen machen deutlich, dass sich auch dort ein gradualistischer Prozess vollzieht: Ein besseres Regierungshandeln und eine stärkere Bürgerbeteiligung, ohne das Machtmonopol der Kommunistischen Partei anzutasten, sind erste Schritte zu einer Transformation des politischen Systems.

 

Hans-Jürgen Burchardt

Kuba nach Castro
Die neue Ungleichheit und das sich formierende neopopulistische Bündnis

Die beeindruckende Stabilität von Kubas sozialistischem Regime mehr als zwölf Jahre nach dem Fall der Berliner Mauer basiert erstens auf einer bürokratisch-autoritären Staatsmacht, der es bis heute gelingt, über eine expansive Sozialpolitik die Massen sozial integriert und gleichzeitig politisch ausgeschlossen zu halten. Zweitens sind in der politischen Kultur Kubas lateinamerikanische Traditionen und sozialistische Strukturen zu einer neopatrimonialen Herrschaft verschmolzen, die über Fidel Castros Charisma bis heute die Gesellschaft verbindet und eint. Drittens setzt das Regime seine Politik mit der nationalen Unabhängigkeit der Insel gleich und monopolisiert so die Legitimationsquelle des Nationalismus. Der kubanische Sozialismus verbindet also einen ausgeprägten Sozialstaatsanspruch mit einer leninistischen Staatsdoktrin - legitimiert durch den Imperativ der Verteidigung der nationalen Souveränität. Kuba muss heute weniger als ein orthodox sozialistisches, sondern vielmehr als ein radikal nationalistisches Regime verstanden werden. Doch die aktuelle Stabilität Kubas ist fragil. Denn die seit den 1990er Jahren verfolgte Liberalisierung einzelner Wirtschaftssektoren – verbunden mit Dollarisierung im Innern – reintegrierte zwar das Land erfolgreich in den Weltmarkt und rettete die Wirtschaft nach dem Wegfall der sowjetischen Unterstützung vor dem Kollaps. Aber gleichzeitig untergrub sie die soziale Gleichheit, eine der Legitimitätssäulen des Regimes. Die Chance wurde verpasst, nach der ersten ökonomischen Stabilisierung eine konsistente Reformstrategie zu entwickeln, die alle Wirtschaftsbereiche umfasst. So stehen sich in Kuba heute immer krasser Reformgewinnler des Devisen- und Reformverlierer des Binnensektors gegenüber. Die wirtschaftliche führt schnurstracks in die soziale Spaltung und wird eines Tages in eine politische Krise münden. Kuba besitzt zwar viele angebotsseitige Voraussetzungen, um als "karibischer Tiger" zu einem Entwicklungsmodell zu werden, das eine relativ gleiche Verteilung mit schnellem Wachstum verbindet. Doch dies setzt Anpassungsleistungen voraus, die schon heute eine Demokratisierung des Staates und die Emanzipierung der Gesellschaft einleiten. Beginnt ein politischer Wandel erst nach dem Tod Fidel Castros, ist es wahrscheinlicher, dass sich die Reformgewinnler verbünden und politisch durchsetzen. Es ist zu erwarten, dass sie den Devisensektor ausweiten und über einen neopopulistisch abgesicherten Neoliberalismus die Spaltung der Wirtschaft zementieren. Die Perspektive einer zivilen und sozialen Transformation Kubas wird damit verstellt.

Alec Rasizade

Diktatoren, Islamisten, Großmächte und einfache Menschen
Das neue “Great Game” in Zentralasien

(Original: Dictators, Islamists, Big Powers and Ordinary People. The New “Great Game” in Central Asia)

In Zentralasien sind nach dem Zusammenbruch der Sowjetunion zum ersten Mal in der Geschichte nationale Grenzen entstanden. Es gibt so gut wie keine nationalen Identitäten und so definieren die neu entstandenen politischen Gebilde in erster Linie das Betätigungsfeld für das Machtstreben lokaler politischer Eliten. Fehlende demokratische Traditionen und die aus Sowjetzeiten stammenden, aber nach dem Ende der Moskauer Kontrolle und der Verabschiedung des Sozialismus besonders hemmungslos einsetzbaren Insider-Vorteile, haben überall in der Region autoritäre Tendenzen begünstigt. Gleichwohl haben die neuen starken Männer mit einem Legitimitätsdefizit zu kämpfen. Ihre Unfähigkeit, die wirtschaftliche Schlechterstellung breiter Bevölkerungsschichten im Zuge der Desartikulierung der Sowjetwirtschaft zu verhindern und dem zunehmenden Verfall der öffentlichen Ordnung Einhalt zu gebieten, hat eine radikale islamische Opposition auf den Plan gerufen. Sie macht nicht nur den örtlichen Machthabern, sondern auch den benachbarten Großmächten Russland und China Sorgen. Der Kampf gegen den Islamismus begründet somit Bündnisbestrebungen, die natürlich auch weiter führenden Machtinteressen dienen – im Kampf um regionale Vorherrschaft unter den zentralasiatischen Staaten (vor allem Usbekistan meldet Hegemonieansprüche an) und im Kampf um dominierenden Einfluss unter den Großmächten. Die Ereignisse des 11. September 2001 haben die USA gleichsam in die zentralasiatische Arena katapultiert. Ohne auf russischen Widerspruch zu stoßen, haben sie in kürzester Zeit eine bemerkenswerte militärische Präsenz aufgebaut und sind mit einem Schlag zur zentralen machtpolitischen Orientierungsgröße in der Region geworden. Damit haben sie gleichzeitig einen neuen Schauplatz in der latenten Auseinandersetzung mit China um weltpolitischen Einfluss eröffnet. Betroffen von der amerikanischen Präsenz ist auch der Iran, der seine eigenen Ambitionen zum Aufbau eines islamisch orientierten Machtblocks gefährdet sieht. Eine langfristig orientierte amerikanische Zentralasien-Strategie – vor allem auch im Zeichen des Kamfes gegen den Terrorismus – sollte nicht auf das realpolitisch vielleicht naheliegende Bündnis mit freundlich gesinnten lokalen Diktatoren setzen, sondern auf genuine Demokratisierung und wirtschaftliche Entwicklung, die den Massen zugute kommt.


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