Zu diesem Heft
Demokratie steht im Zentrum des westlichen politischen Selbstverständnisses.
Sie ist die Schlüsselinstitution für die Sicherung von Freiheit
und Frieden gleichermaßen. Aber Demokratie ist der Gefahr ausgesetzt,
dass ihre eigenen Mechanismen den Grundgedanken der „Herrschaft
des Volkes für das Volk“ pervertieren. Zu Problemen führt nicht
zuletzt die Notwendigkeit, zwischen dem Willen des Volkes und
den politischen Entscheidungen vermittelnde Prozesse zu schalten,
die politischen Aktivisten eine zentrale Rolle zuweisen.
Auf den europäischen Politikmärkten hat nun ein Außenseiter-Typus
von Aktivisten Erfolge erzielt, die nicht nur die Marktführer,
nämlich die etablierten Parteien, beunruhigen. Das Politikangebot
dieser Außenseiter – Rechtspopulisten – ist von einer Art, die
„bekennende Demokraten“ für unakzeptabel halten. In dem pejorativen
Begriff „populistisch“ schwingt die doppelte Besorgnis mit,
dass das Volk (die Wähler) sich für dumm verkaufen lassen und
dass – schlimmer noch – wachsende Teile des Volkes tatsächlich
die anstößige Botschaft der Intoleranz gutheißen, mit der die
Rechtspopulisten reüssieren. Was steht hinter den rechtspopulistischen
Wahlerfolgen? Die vorliegende Ausgabe von Internationale
Politik und Gesellschaft stellt unterschiedliche Interpretationen
zur Diskussion. Die Beiträge von Mark Blyth und René
Cuperus argumentieren, die etablierten Parteien hätten die
Anliegen großer Bevölkerungsteile mehr und mehr aus dem Auge
verloren. Insbesondere den Sozialdemokraten als der politischen
Kraft, die einst die Zivilisierung des Kapitalismus betrieben
hatte, wird bescheinigt, dass sie sich de facto aus dem Angebotssegment
für die wirtschaftlichen Schwachen und die Verlierer des gesellschaftlichen
Wandels zurückgezogen hätten. Cuperus fordert sie expressis
verbis dazu auf, zu einem populistischen Diskurs zurückzukehren.
Blyth hingegen sucht die Bedingungen aufzuzeigen, die
es der Sozialdemokratie nahegelegt haben, im Rahmen eines Parteienkartells
die Mitte des Wählerspektrums anzusteuern und die Ränder zu
vernachlässigen. Wie der Beitrag von Michael Braun im
Detail darlegt, ist der einstweilen größte rechtspopulistische
Erfolg in Europa, die zweimalige Wahl Silvio Berlusconis zum
italienischen Ministerpräsidenten, allerdings weniger auf ein
Defizit der politischen Linken zurückzuführen, als auf das Vakuum,
das die völlig diskreditierte Christdemokratie in der rechten
Mitte des politischen Spektrums zurückgelassen hatte und das
Berlusconi mit vehement antilinker Rhetorik besetzte.
Das „Phänomen Berlusconi“ macht in krasser Weise die Gefahren
deutlich, die der Vormarsch der Rechtspopulisten für die Demokratie
birgt: Die Mehrheit der Wähler wird entmündigt, die Minderheit
entrechtet. Die Mehrheit wird entmündigt, weil sie durch die
aggressive, aber politisch unverbindliche Rhetorik charismatischer
Demagogen so wie gegebenenfalls durch tendenziöse Medien manipuliert
wird. Die Minderheit wird entrechtet, weil ihr die Möglichkeiten
beschnitten werden, in mehrheitlich „abgesegnetes“ Regierungshandeln
korrigierend einzugreifen. Die plebiszitäre Verengung der Demokratie
auf reine Mehrheitsfindung wird in Frank Deckers Beitrag
als den gesamten Westen umfassende – und nicht nur rechtspopulistisch
daher kommende – Reaktion auf die zunehmende technokratische
Professionalisierung der Politik herausgearbeitet. Auf der Strecke
bleibt dabei, so Decker, genau jenes „deliberative“ Element:
das alle Betroffenen umfassende Suchen nach guten, einvernehmlichen
Lösungen für gemeinsame Probleme, das viele als Weg zur Revitalisierung
der Demokratie propagieren (etwa Charles Sable in der
1/2000-Ausgabe und Andreas Maurer in der 1/2003-Ausgabe
von Internationale Politik und Gesellschaft).
Welche Art von Entscheidungen bringt die plebiszitäre populistische
Politik hervor? Spezifischer: was bedeutet Rechtspopulismus
für die Anliegen der „kleinen Leute“, um die sich einst die
Linke gekümmert hat? Dort wo Rechtspopulismus tatsächlich an
die Macht gelangte, am eindeutigsten in Italien, favorisierte
er eine Politik, die denen entgegen kommt, die auch vom Markt
begünstigt sind. Keine Politik, die darauf abzielt, Marktresultate
sozialverträglicher zu machen. Wie vor allem René Cuperus
hervor hebt, schadet der Rechtspopulismus der Sache der
wirtschaftlich Schwachen auch dadurch, dass er mit Erfolg „im
gleichen Teich nach Stimmen fischt“ wie die linken Volksparteien
sozialdemokratischer Couleur. Aber dann: was bedeutet schon
die Schwächung einer Sozialdemokratie, die sich der Opfer des
Marktgeschehens ohnehin nicht mehr richtig annimmt? Mark
Blyth weist darauf hin, dass die populistische Rechte die
Lücke nicht nur in der Rhetorik, sondern auch in der Sache zu
schließen trachten könnte. Das aber ließe wenig Gutes erwarten.
Ein zweites Thema dieses Heftes ist die Anpassung kollektiver
Steuerungsstrukturen an die neuen Problemlagen, die im Globalisierungsbegriff
ihre mundgerechte Kurzformel gefunden haben. Bob Jessop
setzt an den Funktionen des Staates an, jener Institution, die
seit langem unser Denken von zielgerichteter und verbindlicher
Gestaltung gesellschaftlicher Realität dominiert. Trotz einer
gewissen Auslagerung von Staatsfunktionen an andere Koordinierungsinstanzen,
wird es, so Jessop, auch in Zukunft nicht ohne das territorial
eingegrenzte Herrschaftsgebilde „Staat“ gehen. Allerdings wird
dieser seinen Einfluss zunehmend über komplexe Vermittlungsprozesse
geltend machen. Ein weiterer Schritt in Richtung jener dem (Wahl)Volk
entfremdeten intransparenten Demokratie? Für James Rosenau,
der wie kaum ein anderer über Steuerungsprobleme in der globalisierten
Welt nachgedacht hat, übersteigt die Komplexität supranationaler
„Governance“ das, was die heutige, von hierarchischer Staatlichkeit
geprägte menschliche Gesellschaft bewältigen kann. Die Konsequenz:
Probleme, die der Nationalstaat nicht mehr lösen kann, laufen
Gefahr, ungelöst zu bleiben.
Die neue Qualität der US-Hegemonie bleibt auch nach dem Pax-Americana-Schwerpunkt
in der 1/2003-Ausgabe ein wichtiges Thema für Internationale Politik und Gesellschaft.
Im vorliegenden Heft zeigt der Historiker Kenneth B. Moss,
wie sich die amerikanische Gesellschaft stets als – gleichsam
programmatisches geschaffenes, nicht historisch gewordenes –
Gemeinwesen neuer Art begriffen hat, das nichts mit der auf
den Westfälischen Frieden zurückgehenden, immanent konfliktträchtigen
und in ihrem Wesen vordemokratischen Staatenwelt zu tun hat.
Ein derartiges Selbstverständnis verbindet sich – wenn Isolationismus
keine Option mehr ist – viel eher mit einem globalen Sendungsbewusstsein
als mit der Unterordnung unter UN-Prozeduren von zweifelhafter
demokratischer Legitimation, zumal wenn ein realer Machtvorsprung
dazu kommt. Natürlich ist dies ein Ärgernis für Europäer, deren
internationale Ordnungsentwürfe an der Idee der, durch verbindliche
Rechtsnormen zivilisierten, Gemeinschaft gleichberechtigter
Staaten ansetzen. Christoph Zöpels Beitrag verknüpft
diese Idee mit Europas traumatischen historischen Erfahrungen,
die eine multilaterale Zivilisierung nationaler Souveränität
nahe legen.
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