Internationale Politik und Gesellschaft
International Politics and Society 3/2003

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Zu diesem Heft

Demokratie steht im Zentrum des westlichen politischen Selbstverständnisses. Sie ist die Schlüsselinstitution für die Sicherung von Freiheit und Frieden gleichermaßen. Aber Demokratie ist der Gefahr ausgesetzt, dass ihre eigenen Mechanismen den Grundgedanken der „Herrschaft des Volkes für das Volk“ pervertieren. Zu Problemen führt nicht zuletzt die Notwendigkeit, zwischen dem Willen des Volkes und den politischen Entscheidungen vermittelnde Prozesse zu schalten, die politischen Aktivisten eine zentrale Rolle zuweisen.

Auf den europäischen Politikmärkten hat nun ein Außenseiter-Typus von Aktivisten Erfolge erzielt, die nicht nur die Marktführer, nämlich die etablierten Parteien, beunruhigen. Das Politikangebot dieser Außenseiter – Rechtspopulisten – ist von einer Art, die „bekennende Demokraten“ für unakzeptabel halten. In dem pejorativen Begriff „populistisch“ schwingt die doppelte Besorgnis mit, dass das Volk (die Wähler) sich für dumm verkaufen lassen und dass – schlimmer noch – wachsende Teile des Volkes tatsächlich die anstößige Botschaft der Intoleranz gutheißen, mit der die Rechtspopulisten reüssieren. Was steht hinter den rechtspopulistischen Wahlerfolgen? Die vorliegende Ausgabe von Internationale Politik und Gesellschaft stellt unterschiedliche Interpretationen zur Diskussion. Die Beiträge von Mark Blyth und René Cuperus argumentieren, die etablierten Parteien hätten die Anliegen großer Bevölkerungsteile mehr und mehr aus dem Auge verloren. Insbesondere den Sozialdemokraten als der politischen Kraft, die einst die Zivilisierung des Kapitalismus betrieben hatte, wird bescheinigt, dass sie sich de facto aus dem Angebotssegment für die wirtschaftlichen Schwachen und die Verlierer des gesellschaftlichen Wandels zurückgezogen hätten. Cuperus fordert sie expressis verbis dazu auf, zu einem populistischen Diskurs zurückzukehren. Blyth hingegen sucht die Bedingungen aufzuzeigen, die es der Sozialdemokratie nahegelegt haben, im Rahmen eines Parteienkartells die Mitte des Wählerspektrums anzusteuern und die Ränder zu vernachlässigen. Wie der Beitrag von Michael Braun im Detail darlegt, ist der einstweilen größte rechtspopulistische Erfolg in Europa, die zweimalige Wahl Silvio Berlusconis zum italienischen Ministerpräsidenten, allerdings weniger auf ein Defizit der politischen Linken zurückzuführen, als auf das Vakuum, das die völlig diskreditierte Christdemokratie in der rechten Mitte des politischen Spektrums zurückgelassen hatte und das Berlusconi mit vehement antilinker Rhetorik besetzte.

Das „Phänomen Berlusconi“ macht in krasser Weise die Gefahren deutlich, die der Vormarsch der Rechtspopulisten für die Demokratie birgt: Die Mehrheit der Wähler wird entmündigt, die Minderheit entrechtet. Die Mehrheit wird entmündigt, weil sie durch die aggressive, aber politisch unverbindliche Rhetorik charismatischer Demagogen so wie gegebenenfalls durch tendenziöse Medien manipuliert wird. Die Minderheit wird entrechtet, weil ihr die Möglichkeiten beschnitten werden, in mehrheitlich „abgesegnetes“ Regierungshandeln korrigierend einzugreifen. Die plebiszitäre Verengung der Demokratie auf reine Mehrheitsfindung wird in Frank Deckers Beitrag als den gesamten Westen umfassende – und nicht nur rechtspopulistisch daher kommende – Reaktion auf die zunehmende technokratische Professionalisierung der Politik herausgearbeitet. Auf der Strecke bleibt dabei, so Decker, genau jenes „deliberative“ Element: das alle Betroffenen umfassende Suchen nach guten, einvernehmlichen Lösungen für gemeinsame Probleme, das viele als Weg zur Revitalisierung der Demokratie propagieren (etwa Charles Sable in der 1/2000-Ausgabe und Andreas Maurer in der 1/2003-Ausgabe von Internationale Politik und Gesellschaft).

Welche Art von Entscheidungen bringt die plebiszitäre populistische Politik hervor? Spezifischer: was bedeutet Rechtspopulismus für die Anliegen der „kleinen Leute“, um die sich einst die Linke gekümmert hat? Dort wo Rechtspopulismus tatsächlich an die Macht gelangte, am eindeutigsten in Italien, favorisierte er eine Politik, die denen entgegen kommt, die auch vom Markt begünstigt sind. Keine Politik, die darauf abzielt, Marktresultate sozialverträglicher zu machen. Wie vor allem René Cuperus hervor hebt, schadet der Rechtspopulismus der Sache der wirtschaftlich Schwachen auch dadurch, dass er mit Erfolg „im gleichen Teich nach Stimmen fischt“ wie die linken Volksparteien sozialdemokratischer Couleur. Aber dann: was bedeutet schon die Schwächung einer Sozialdemokratie, die sich der Opfer des Marktgeschehens ohnehin nicht mehr richtig annimmt? Mark Blyth weist darauf hin, dass die populistische Rechte die Lücke nicht nur in der Rhetorik, sondern auch in der Sache zu schließen trachten könnte. Das aber ließe wenig Gutes erwarten.

Ein zweites Thema dieses Heftes ist die Anpassung kollektiver Steuerungsstrukturen an die neuen Problemlagen, die im Globalisierungsbegriff ihre mundgerechte Kurzformel gefunden haben. Bob Jessop setzt an den Funktionen des Staates an, jener Institution, die seit langem unser Denken von zielgerichteter und verbindlicher Gestaltung gesellschaftlicher Realität dominiert. Trotz einer gewissen Auslagerung von Staatsfunktionen an andere Koordinierungsinstanzen, wird es, so Jessop, auch in Zukunft nicht ohne das territorial eingegrenzte Herrschaftsgebilde „Staat“ gehen. Allerdings wird dieser seinen Einfluss zunehmend über komplexe Vermittlungsprozesse geltend machen. Ein weiterer Schritt in Richtung jener dem (Wahl)Volk entfremdeten intransparenten Demokratie? Für James Rosenau, der wie kaum ein anderer über Steuerungsprobleme in der globalisierten Welt nachgedacht hat, übersteigt die Komplexität supranationaler „Governance“ das, was die heutige, von hierarchischer Staatlichkeit geprägte menschliche Gesellschaft bewältigen kann. Die Konsequenz: Probleme, die der Nationalstaat nicht mehr lösen kann, laufen Gefahr, ungelöst zu bleiben.

Die neue Qualität der US-Hegemonie bleibt auch nach dem Pax-Americana-Schwerpunkt in der 1/2003-Ausgabe ein wichtiges Thema für Internationale Politik und Gesellschaft. Im vorliegenden Heft zeigt der Historiker Kenneth B. Moss, wie sich die amerikanische Gesellschaft stets als – gleichsam programmatisches geschaffenes, nicht historisch gewordenes – Gemeinwesen neuer Art begriffen hat, das nichts mit der auf den Westfälischen Frieden zurückgehenden, immanent konfliktträchtigen und in ihrem Wesen vordemokratischen Staatenwelt zu tun hat. Ein derartiges Selbstverständnis verbindet sich – wenn Isolationismus keine Option mehr ist – viel eher mit einem globalen Sendungsbewusstsein als mit der Unterordnung unter UN-Prozeduren von zweifelhafter demokratischer Legitimation, zumal wenn ein realer Machtvorsprung dazu kommt. Natürlich ist dies ein Ärgernis für Europäer, deren internationale Ordnungsentwürfe an der Idee der, durch verbindliche Rechtsnormen zivilisierten, Gemeinschaft gleichberechtigter Staaten ansetzen. Christoph Zöpels Beitrag verknüpft diese Idee mit Europas traumatischen historischen Erfahrungen, die eine multilaterale Zivilisierung nationaler Souveränität nahe legen.

 

© Friedrich Ebert Stiftung | net edition malte.michel | 6/2003