Für eine Zeitschrift, die sich mit Fragen der internationalen
Ordnung befasst, wird der 11. September aller Voraussicht
nach für lange Zeit ein Referenzdatum bleiben. In der vorliegenden
Ausgabe fragt Dick Howard nach der Bedeutung des
11. September. Der Autor bietet keine Liste registrierbarer
Veränderungen an, auch keine neue Erklärung der Terrorangriffe,
er bezieht das Ereignis auf das Politikverständnis der Linken.
Howard kritisiert ein für die Linke typisches Herangehen,
das die „Wurzeln“ des Terrors, das eigentliche Übel, im
Kapitalismus, Imperialismus, der Globalisierung, Ausbeutung,
usw. zu identifizieren sucht, aber nicht erklären kann,
warum eine wie immer qualifizierte ungerechte Weltordnung
gerade dieses Ereignis hervorbrachte. Die Suche nach
den Wurzeln führt in eine ökonomisch oder moralisch bestimmte
Welt der Anti-Politik, in der Gut und Böse, Richtig und
Falsch immer schon vorgegeben sind, in der es keinen Raum
mehr gibt für das politische Urteil und auf ihm gründende
politische Handlungen. Demokratie aber ist eine Lebensform,
die definitionsgemäß vorgegebener Sicherheiten entbehrt
und daher ständig zum Urteil und zum politischen Handeln
zwingt. Die Demokratie befindet sich in ständiger widersprüchlicher
und (selbst)-kritischer Bewegung – und ist nicht zuletzt
deshalb von innen wie von außen Angriffen ausgesetzt, die
im Namen der Gewissheit, Reinheit, Einheit (oder auch des
Marktes) demokratische Politik durch Antipolitik zu substituieren
suchen. Die Bedeutung des 11. September liegt darin, dass
der radikalislamistische Terror als Nachfolger der totalitären
Ideologien und Staaten des 20. Jahrhunderts die Demokratie
zu einer ständigen kritischen und offensiven Selbstvergewisserung
zwingt – auch gegen Bestrebungen, die in der vorgeblichen
Abwehr der terroristischen Bedrohung grundlegende Prinzipien
der Demokratie verletzen.
Dick Howards Beitrag ist ein für die amerikanische Linke
kennzeichnendes Dokument, nicht nur, weil er den 11. September
mit der Hoffnung auf einen neuen innenpolitischen Konsens
verbindet. Vor allem gibt er eine radikal republikanische
Grundhaltung (in der Tradition von Hannah Arendt) wieder,
deren Bezugssystem nicht in den sozioökonomische Bedingungen
(die nicht negiert werden) liegt, sondern in der widersprüchlichen,
offenen und ungewissen Dynamik der Demokratie, die
die Möglichkeit bietet, alle Formen von Herrschaft
praktischer Kritik zu unterziehen.
Sean L. Yoms Beitrag zum Zusammenhang zwischen Islam
und Globalisierung geht eher indirekt auf den 11. September
ein: In seiner Kritik der „globalen Chaostheoretiker“ wie
Bernard Lewis, Samuel Huntington oder Robert Kaplan, die
den Zusammenstoss zwischen Islam und der westlichen Welt
(der Moderne, der Globalisierung) für unausweichlich halten
– eine These, die durch den 11. September scheinbar bestätigt
wurde. Diese Sicht basiert auf einer Gleichsetzung der Begriffspaare
Säkularisierung/Religion und Moderne/Antimoderne, die sowohl
historisch unzutreffend (auch nach der Aufklärung war Politik
im Westen oft religiös beeinflusst; auch die Religionen
einschließlich des Islam nahmen moderne säkulare Impulse
auf) als auch auf den politischen Rahmen des Nationalstaats
zugeschnitten ist, dessen Bedeutung durch die Globalisierung
aber gerade relativiert wird. Die Renaissance des Islam,
Teil einer generellen Renaissance der Religionen, reagiert
auf die kosmopolitischen Tendenzen der Globalisierung, indem
sie eine Art originären Rechts auf „einen Ort, eine Kultur
und eine Gemeinschaft“ proklamiert, die sich vom Rest des
Planeten unterscheiden. Die Religionen bilden als Instanzen
der Identitätsbildung auch eine Pluralität von Widerständen
gegen die Globalisierung, deren Stärke aber darauf zurückgeht,
dass sie sich der Mechanismen bedienen, die nur die Globalisierung
bietet. Der Islam – von seinen radikalsten, bewusst antimodernen
Fraktionen abgesehen – ist keine selbstbezügliche, sondern
eine sich in der Interaktion mit der Globalisierung ständig
verändernde Tradition, und als solche im globalen Chor der
politischen und moralischen Optionen eine deutlich hörbare
Stimme.
Yoms Beitrag wirft, durch die Brille Dick Howards gelesen,
eine Frage auf, deren Beantwortung künftigen Auseinandersetzungen
vorbehalten bleiben muss: Ist eine Religion wie der Islam
kompatibel mit dem von Howard propagierten Demokratieverständnis,
das definitionsgemäß durch die Abwesenheit vorgegebener
Wahrheiten und Sicherheiten bestimmt ist? Säkularisierung
und Aufklärung haben ja nicht die Religion an sich, sondern
– wie auch Yom anmerkt –
„nur“ deren ontologischen Anspruch auf Wahrheit (und
damit auch ihren Anspruch, verbindlich Politik anzuleiten)
bekämpft. Können sich – umgekehrt – Religionen wie der Islam
damit abfinden, politisch zur Privatsache degradiert
zu werden? Wenn die Antwort negativ ausfällt, könnte sich
der von Yom vertretene Pluralismus der politischen und moralischen
Optionen als problematisch erweisen – auch wenn dies nicht
bedeutet, dass dies auf den von den „Chaostheoretikern“
prognostizierten unvermeidlichen Zusammenstoss der Kulturen
hinauslaufen muss.
Der Analyse des russisch-amerikanischen Verhältnisses nach
dem 11. September von Hans-Joachim Spranger kommt
zu einem Ergebnis, das der von Howard normativ gezogenen
Lehre diametral entgegengesetzt ist: Der amerikanische Staat
reagierte auf die Terroranschläge, indem er jeden (auch
vorher eher proklamierten als realisierten) Ansatz zur Demokratisierung
Russlands ad acta legte und statt dessen schamlos
macht- und interessenpolitisch vorging, nach dem Motto:
Der Feind meines Feindes ist mein Freund, unabhängig davon,
welche weiteren Qualitäten er aufweist.
Drei Beiträge – die Analysen von Marcus Höreth zur
europäischen Verfassungsdebatte, von Robert Christian
van Ooyen zum Streit um den Internationalen Gerichtshof
sowie von Eric Teo zur regionalen Kooperation in
Ostasien – bewegen sich im Spannungsfeld Nationalstaat-Globalisierung,
sie verweisen auf unterschiedliche Tendenzen und Probleme
post-nationalstaatlicher politischer Strukturen. Anton
Hemerijcks Analyse der Selbsttransformation europäischer
Sozialmodelle zeigt, dass die europäischen Sozialstaaten
– gegen die gängige These von deren Verkrustung und Inflexibilität
–auf Entwicklungen wie die Alterung der Gesellschaft, die
Währungsunion, die veränderten Geschlechterrollen usw. durchaus
innovativ und differenziert geantwortet haben.