Internationale Politik und Gesellschaft
International Politics and Society 4/2002

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Kurzfassungen:

Marcus Höreth
Das Demokratiedefizit lässt sich nicht wegreformieren
Über Sinn und Unsinn der europäischen Verfassungsdebatte

Anton Hemerijck
The Self-Transformation of the European Social Model(s)

Robert Christian van Ooyen
Der Internationale Strafgerichtshof zwischen Normativität, Machtpolitik und Symbolik

Hans-Joachim Spanger
Zwischen demokratischem Idealismus und sicherheitspolitischem Realismus Russland und der Westen nach dem 11. September

Marcus Höreth

Das Demokratiedefizit lässt sich nicht wegreformieren
Über Sinn und Unsinn der europäischen Verfassungsdebatte

Vom Laekener Konvent wird u.a. erwartet, dass er Reformvorschläge zur Stärkung der demokratischen Legitimation europäischer Politik unterbreitet. Doch überzeugende Lösungen sind nicht in Sicht. Vorhandene Demokratiemodelle sind auf die EU-Ebene nicht erfolgreich übertragbar. Sie führen letztendlich nicht zu einem Mehr, sondern zu einem Weniger an Legitimität. Eine dem Leitbild der parlamentarischen Demokratie verpflichtete Reformstrategie muss daran scheitern, dass es kein gesamteuropäisches „Volk“ gibt. Die Nationen sind nicht bereit, sich gegebenenfalls von „ausländischen“ Mehrheiten wichtige Entscheidungen aufdrängen zu lassen. Ein Zwei-Kammern-System hingegen, das das Prinzip „eine Stimme pro Person“ mit dem Prinzip „eine Stimme pro Mitgliedsland“ kombiniert, würde einer permanenten Blockadegefahr unterliegen und somit hohe Entscheidungskosten verursachen. Darüber hinaus würde es aufgrund vielfältiger Verhandlungszwänge die Intransparenz der Entscheidungsprozesse nicht verringern, sondern erhöhen. Auch die jüngst zunehmend geforderte Errichtung einer präsidentiellen Demokratie nach US-Muster kann dieses Problem nicht aus der Welt schaffen. Außerdem ist sie den europäischen Verfassungstraditionen fremd. Eine auf postparlamentarische zivilgesellschaftliche Partizipation setzende Strategie würde im Ergebnis mächtige und gut organisierte Gruppen privilegieren. Postparlamentarische Entscheidungsnetzwerke würden für die breite Öffentlichkeit intransparent bleiben und sowohl das Prinzip der öffentlichen Kontrolle politischer Entscheidungen als auch das der politischen Gleichheit aller Bürger verletzen. Gerade weil sich das Demokratiedefizit nicht wegreformieren läßt und damit die Möglichkeit qualitativer Verfassungssprünge verbaut ist, müsste sich die europäische Politik darauf konzentrieren, die Problemlösungsfähigkeit Europäischen Regierens – seine Effizienz und Effektivität – zu erhöhen. Die Begriffe Koordinierung, Subsidiarität und differenzierte Integration weisen in die Richtungen, die es dabei zu verfolgen gilt. Die Fähigkeit Probleme zu lösen, die auf nationaler Ebene nicht zu lösen sind, wird auch in Zukunft die wichtigste Legitimationsbasis der EU sein. D.h. die Union muss sich in erster Linie durch ihren Politik-Output legitimieren. Je besser ihr das gelingt, desto besser kann sie auch mit dem Demokratiedefizit leben. Müssen tut sie es sowieso.

 

 

Anton Hemerijck

The Self-Transformation of the European Social Model(s)

Ein hohes Beschäftigungsniveau bei hoher Verteilungsgerechtigkeit zu sichern, ohne dass die privaten und öffentlichen Haushalte unter der Finanzierungslast zusammen brechen – diesem Trilemma stehen die europäischen Wohlfahrtsstaaten gegenüber, und bislang ist es ihnen nicht gelungen, es komplett aufzulösen. In den angelsächsischen Ländern wurde das Ziel der Verteilungsgerechtigkeit vernachlässigt, in Skandinavien ist die Finanzierung das zentrale Problem und auf dem europäischen Kontinent die Beschäftigung, allerdings ohne dass Verteilungsgerechtigkeit und Finanzierbarkeit gesichert wären. Die europäischen Wohlfahrtsstaaten haben durch eine Reihe von Reformen versucht, die genannte Herausforderung zu bewältigen. Der Vielfalt der gesellschaftlichen und politisch-institutionellen Rahmenbedingungen entspricht dabei eine Vielfalt von Reformansätzen, welche die eingefahren Bahnen des jeweiligen Modells nur selten verlassen („bounded change“). Gemeinsam ist ihnen eine Hinwendung zur aktiven Arbeitsmarktpolitik, flankiert durch Maßnahmen, mit denen die Vereinbarkeit von Erwerbstätigkeit und Familie gewährleistet werden soll. Zentral sind auch Maßnahmen zur Verbesserung der finanziellen Situation der Alterssicherungssystemen, meist einhergehend mit einer Verschärfung der Anspruchsvoraussetzungen. Weitergehende Reformen gehen meist von einer tiefgreifenden Krise aus und erfordern einen umfassenden Konsens der politischen Akteure (Beispiele: Niederlande, Schweden, Italien; Gegenbeispiel: Frankreich). Die Standardrezepte neoliberaler Politikentwürfe kommen dabei kaum zur Anwendung. Die europäische Integration hat in den 90er Jahren den Bereich der Beschäftigungs- und Sozialpolitik erreicht. Der Legitimität der EU wird dies zugute kommen, da wirtschaftliche Integration ohne sozialen Fortschritt auf Dauer nicht ausreicht. Mit der „Offenen Methode der Koordinierung“ kommt dabei ein Ansatz der Politikkoordinierung zum Einsatz, welcher der Vielfalt der Rahmenbedingungen und Herausforderungen Rechnung trägt und differenziertes policy learning im europäischen Kontext ermöglicht.

 

 

Dick Howard

The Left Agenda After September 11
An American View

Die Ereignisse des 11. September 2001 haben exemplarisch eine dominante Tendenz traditionellen linken Diskurses in Erscheinung treten lassen, die den heutigen politischen Problemen eklatant unangemessen ist. Es ist die Tendenz, die Debatte schnurstracks auf die strukturellen Wurzeln der diversen Übel dieser Welt zu lenken und von daher eine geschlossene und gleichzeitig moralisch überlegene Weltsicht zu konstruieren. Aus der Kenntnis des Grundübels – typischerweise die Gesetzmäßigkeiten der kapitalistischen Wirtschaft und die durch sie bedingten gravierenden weltweiten Gerechtigkeitsdefizite – lassen sich klare Schuldzuweisungen und eindeutige Strategien für langfristiges politisches Handeln ableiten. Die Gefahr ist, dass derartige fundamentale Gewissheiten wichtige politische Entscheidungsfragen einfach wegrelativieren. Wer den Blick nur auf das vermeintliche Grundübel gerichtet hat, verabschiedet sich aus der politisch relevanten Debatte und gibt dabei wichtige Ziele (z.B. die zu beachtenden Restriktionen im Kampf gegen den Terrorismus) preis. Kritische Intelligenz sollte sich darauf besinnen, dass vor allem anderen das Recht zur Kritik – das erst die Aufdeckung von Missständen ermöglicht und legitimiert – zu verteidigen ist. Dieses Recht ist in den demokratischen Grundwerten verankert und basiert auf dem Postulat, dass es keine letztendliche Gewissheit gibt, dass alles Gesellschaftliche infrage gestellt werden darf. Dieses Recht zum Infragestellen von Gewissheiten muss auch in demokratisch verfassten Staaten ständig neu erkämpft werden. Auch demokratische Gesellschaften haben die Tendenz, den Bereich legitimer politischer Debatte einzuengen und durch tabugeschützte „Werte“ zu ersetzen. Dies gilt ganz eindeutig für den dominierenden Interessen dienenden Diskurs. Aber auch die linke Kritik ist gegen diese Tendenz nicht gefeit. Gegen eine derartige von der Linken und der Rechten gleichermaßen betriebene „Antipolitik“ gilt es, Demokratie ständig neu zu aktivieren. Das impliziert, dass Widersprüche zwischen gegensätzlichen Werten anerkannt und zum Gegenstand politischer, Umstände in Betracht ziehender „Deliberation“ gemacht werden. Die Aufgabe der Linken wäre es, den Kampf gegen den Terrorismus und seine Wurzeln in einen weiter gefassten Kampf für Demokratie gegen neo-totalitäre und fundamentalistische Tendenzen jedweder Provenienz einzubetten. Traditionellen linken Gerechtigkeitszielen tut dies keinen Abbruch – im Gegenteil.

Robert Christian van Ooyen

Der Internationale Strafgerichtshof
zwischen Normativität, Machtpolitik und Symbolik

Der Streit um die Verlängerung der UN-Mission in Bosnien und die Sonderregelung für die USA bzgl. der Strafverfolgung des International Criminal Court (ICC) ist bei vielen europäischen Staaten auf große Empörung gestoßen, ja als „Erpressungsversuch“ empfunden worden, der überhaupt die ganze Arbeit des neuen Gerichtshofs torpediere. Doch führt man sich die politischen Bedingungen vor Augen, an die eine effektive internationale Strafgerichtsbarkeit zur Zeit gebunden bleibt, dann ist festzustellen, dass der machtpolitische Rückhalt von „Großmächten“ unbedingt erforderlich ist. Zuletzt wurde dies deutlich bei der Einsetzung der UN-Tribunale für Jugoslawien und Rwanda durch den UN-Sicherheitsrat. Der jetzt seine Tätigkeit aufnehmende ICC bildet hiervon keine Ausnahme. Der Gerichtshof bleibt nicht nur bei all seinen Kompetenzen zur strafrechtlichen Verfolgung von Völkermord, Kriegsverbrechen, Verbrechen gegen die Menschlichkeit und Aggression der staatlichen Zuständigkeit nachgeordnet. Auch bei den Fällen, die überhaupt vor den ICC gelangen, ist er - zu Recht - auf den machtpolitischen Rückhalt des UN-Sicherheitsrats angewiesen, der im Zweifelsfall allein mit den Maßnahmen nach Kap. VII UN-Charta über wirkungsvolle politische Zwangsmittel verfügt. Vor diesem Hintergrund erweist sich der Streit auf beiden Seiten eher als ein Akt bloß symbolischer Politik. Denn die jetzt auf der Grundlage von Art. 16 ICC-Statut beschlossene Sicherheitsrats-Resolution 1422, die den USA zunächst für ein Jahr „Schonzeit“ einräumt, ist aus pragmatischer Sicht kein „fauler Kompromiss“. Sie offenbart nur das, was die Effektivität des ICC voraussetzt - und was im Übrigen mit der institutionellen Anbindung des Gerichts an die UN schon im Statut auch ganz bewusst gewollt worden ist. Heute gilt es, den Blick dafür zu schärfen, was der Gerichtshof „realistischer“ Weise in den nächsten Jahren leisten kann.

Hans-Joachim Spanger                                            

Zwischen demokratischem Idealismus und sicherheitspolitischem Realismus: Russland und der Westen nach dem 11. September

Seit dem 11. September 2001 ist ein historischer Wandel in den Beziehungen zwischen den USA und Russland eingetreten. Für die USA ist der Kampf gegen den Terrorismus seither die zentrale Herausforderung. Russland spielt hierbei eine wichtige politisch-symbolische Rolle, verleiht doch der russische Beitritt zur globalen Koalition dem amerikanischen Krieg gegen den Terrorismus die Weihen einer zivilisatorischen volonté generale, von materiellen Vorteilen wie dem Zugang zu den zentralasiatischen Operationsbasen im ehemals exklusiv russischen Sanktuarium der GUS-Staaten einmal abgesehen. Für Russland liegt der potenzielle Nutzen der neuen außenpolitischen Strategie auf der Hand: zum einen die Hoffnung auf westliche Konzessionen, insbesondere hinsichtlich der beschleunigten Aufnahme in die WTO und der Verlangsamung der NATO-Erweiterung, und zum anderen die berechtigte Erwartung, der Westen werde im Interesse einer stabilen Anti-Terror-Koalition nicht mehr auf einer Demokratisierung Russlands insistieren. Die neue russisch-amerikanische Entente ist unverblümte Realpolitik, beruhend auf einer gemeinsamen außenpolitischen Basis, deren gemeinsamer Nenner sich darin manifestiert, dass auf westlicher Seite ein genuines außenpolitisches Interesse an Russland entstanden ist, das die einst dominante Demokratisierungsagenda in den Hintergrund ritueller Bekenntnisse gedrängt hat, und a umgekehrt auf russischer Seite ein genuines innenpolitisches Interesse an ebenso autoritärer wie beschleunigter Modernisierung dominiert. Gemeinsam tragfähig ist ein solcher Nenner auf Dauer aber nur, wenn er für beide Seiten einen messbaren Erfolg garantiert. Hier ist die Bilanz in den Monaten nach dem 11. September für Russland allenfalls gemischt.

© Friedrich Ebert Stiftung | net edition malte.michel | 9/2002