Kurzfassungen:
Marcus
Höreth
Das Demokratiedefizit lässt sich nicht wegreformieren
Über Sinn und Unsinn der europäischen Verfassungsdebatte
Anton
Hemerijck
The Self-Transformation of the European Social Model(s)
Robert Christian van Ooyen
Der Internationale Strafgerichtshof zwischen Normativität,
Machtpolitik und Symbolik
Hans-Joachim
Spanger
Zwischen demokratischem Idealismus und sicherheitspolitischem
Realismus Russland und der Westen nach dem 11. September
Marcus Höreth
Das Demokratiedefizit lässt sich nicht wegreformieren
Über Sinn und Unsinn der europäischen Verfassungsdebatte
Vom Laekener Konvent wird u.a. erwartet, dass er Reformvorschläge
zur Stärkung der demokratischen Legitimation europäischer Politik
unterbreitet. Doch überzeugende Lösungen sind nicht in Sicht.
Vorhandene Demokratiemodelle sind auf die EU-Ebene nicht erfolgreich
übertragbar. Sie führen letztendlich nicht zu einem Mehr, sondern
zu einem Weniger an Legitimität. Eine dem Leitbild der parlamentarischen
Demokratie verpflichtete Reformstrategie muss daran scheitern,
dass es kein gesamteuropäisches „Volk“ gibt. Die Nationen sind
nicht bereit, sich gegebenenfalls von „ausländischen“ Mehrheiten
wichtige Entscheidungen aufdrängen zu lassen. Ein Zwei-Kammern-System
hingegen, das das Prinzip „eine Stimme pro Person“ mit dem Prinzip
„eine Stimme pro Mitgliedsland“ kombiniert, würde einer permanenten
Blockadegefahr unterliegen und somit hohe Entscheidungskosten
verursachen. Darüber hinaus würde es aufgrund vielfältiger Verhandlungszwänge
die Intransparenz der Entscheidungsprozesse nicht verringern,
sondern erhöhen. Auch die jüngst zunehmend geforderte Errichtung
einer präsidentiellen Demokratie nach US-Muster kann dieses
Problem nicht aus der Welt schaffen. Außerdem ist sie den europäischen
Verfassungstraditionen fremd. Eine auf postparlamentarische
zivilgesellschaftliche Partizipation setzende Strategie würde
im Ergebnis mächtige und gut organisierte Gruppen privilegieren.
Postparlamentarische Entscheidungsnetzwerke würden für die breite
Öffentlichkeit intransparent bleiben und sowohl das Prinzip
der öffentlichen Kontrolle politischer Entscheidungen als auch
das der politischen Gleichheit aller Bürger verletzen. Gerade
weil sich das Demokratiedefizit nicht wegreformieren läßt und
damit die Möglichkeit qualitativer Verfassungssprünge verbaut
ist, müsste sich die europäische Politik darauf konzentrieren,
die Problemlösungsfähigkeit Europäischen Regierens – seine Effizienz
und Effektivität – zu erhöhen. Die Begriffe Koordinierung, Subsidiarität
und differenzierte Integration weisen in die Richtungen, die
es dabei zu verfolgen gilt. Die Fähigkeit Probleme zu lösen,
die auf nationaler Ebene nicht zu lösen sind, wird auch in Zukunft
die wichtigste Legitimationsbasis der EU sein. D.h. die Union
muss sich in erster Linie durch ihren Politik-Output legitimieren.
Je besser ihr das gelingt, desto besser kann sie auch mit dem
Demokratiedefizit leben. Müssen tut sie es sowieso.
Anton Hemerijck
The Self-Transformation of the European Social Model(s)
Ein hohes Beschäftigungsniveau bei hoher Verteilungsgerechtigkeit
zu sichern, ohne dass die privaten und öffentlichen Haushalte
unter der Finanzierungslast zusammen brechen – diesem Trilemma
stehen die europäischen Wohlfahrtsstaaten gegenüber, und bislang
ist es ihnen nicht gelungen, es komplett aufzulösen. In den
angelsächsischen Ländern wurde das Ziel der Verteilungsgerechtigkeit
vernachlässigt, in Skandinavien ist die Finanzierung das zentrale
Problem und auf dem europäischen Kontinent die Beschäftigung,
allerdings ohne dass Verteilungsgerechtigkeit und Finanzierbarkeit
gesichert wären. Die europäischen Wohlfahrtsstaaten haben durch
eine Reihe von Reformen versucht, die genannte Herausforderung
zu bewältigen. Der Vielfalt der gesellschaftlichen und politisch-institutionellen
Rahmenbedingungen entspricht dabei eine Vielfalt von Reformansätzen,
welche die eingefahren Bahnen des jeweiligen Modells nur selten
verlassen („bounded change“). Gemeinsam ist ihnen eine Hinwendung
zur aktiven Arbeitsmarktpolitik, flankiert durch Maßnahmen,
mit denen die Vereinbarkeit von Erwerbstätigkeit und Familie
gewährleistet werden soll. Zentral sind auch Maßnahmen zur Verbesserung
der finanziellen Situation der Alterssicherungssystemen, meist
einhergehend mit einer Verschärfung der Anspruchsvoraussetzungen.
Weitergehende Reformen gehen meist von einer tiefgreifenden
Krise aus und erfordern einen umfassenden Konsens der politischen
Akteure (Beispiele: Niederlande, Schweden, Italien; Gegenbeispiel:
Frankreich). Die Standardrezepte neoliberaler Politikentwürfe
kommen dabei kaum zur Anwendung. Die europäische Integration
hat in den 90er Jahren den Bereich der Beschäftigungs- und Sozialpolitik
erreicht. Der Legitimität der EU wird dies zugute kommen, da
wirtschaftliche Integration ohne sozialen Fortschritt auf Dauer
nicht ausreicht. Mit der „Offenen Methode der Koordinierung“
kommt dabei ein Ansatz der Politikkoordinierung zum Einsatz,
welcher der Vielfalt der Rahmenbedingungen und Herausforderungen
Rechnung trägt und differenziertes policy learning im europäischen
Kontext ermöglicht.
Dick Howard
The Left Agenda After September 11
An American View
Die Ereignisse des 11. September 2001 haben exemplarisch eine
dominante Tendenz traditionellen linken Diskurses in Erscheinung
treten lassen, die den heutigen politischen Problemen eklatant
unangemessen ist. Es ist die Tendenz, die Debatte schnurstracks
auf die strukturellen Wurzeln der diversen Übel dieser Welt
zu lenken und von daher eine geschlossene und gleichzeitig moralisch
überlegene Weltsicht zu konstruieren. Aus der Kenntnis des Grundübels
– typischerweise die Gesetzmäßigkeiten der kapitalistischen
Wirtschaft und die durch sie bedingten gravierenden weltweiten
Gerechtigkeitsdefizite – lassen sich klare Schuldzuweisungen
und eindeutige Strategien für langfristiges politisches Handeln
ableiten. Die Gefahr ist, dass derartige fundamentale Gewissheiten
wichtige politische Entscheidungsfragen einfach wegrelativieren.
Wer den Blick nur auf das vermeintliche Grundübel gerichtet
hat, verabschiedet sich aus der politisch relevanten Debatte
und gibt dabei wichtige Ziele (z.B. die zu beachtenden Restriktionen
im Kampf gegen den Terrorismus) preis. Kritische Intelligenz
sollte sich darauf besinnen, dass vor allem anderen das Recht
zur Kritik – das erst die Aufdeckung von Missständen ermöglicht
und legitimiert – zu verteidigen ist. Dieses Recht ist in den
demokratischen Grundwerten verankert und basiert auf dem Postulat,
dass es keine letztendliche Gewissheit gibt, dass alles Gesellschaftliche
infrage gestellt werden darf. Dieses Recht zum Infragestellen
von Gewissheiten muss auch in demokratisch verfassten Staaten
ständig neu erkämpft werden. Auch demokratische Gesellschaften
haben die Tendenz, den Bereich legitimer politischer Debatte
einzuengen und durch tabugeschützte „Werte“ zu ersetzen. Dies
gilt ganz eindeutig für den dominierenden Interessen dienenden
Diskurs. Aber auch die linke Kritik ist gegen diese Tendenz
nicht gefeit. Gegen eine derartige von der Linken und der Rechten
gleichermaßen betriebene „Antipolitik“ gilt es, Demokratie ständig
neu zu aktivieren. Das impliziert, dass Widersprüche zwischen
gegensätzlichen Werten anerkannt und zum Gegenstand politischer,
Umstände in Betracht ziehender „Deliberation“ gemacht werden.
Die Aufgabe der Linken wäre es, den Kampf gegen den Terrorismus
und seine Wurzeln in einen weiter gefassten Kampf für Demokratie
gegen neo-totalitäre und fundamentalistische Tendenzen jedweder
Provenienz einzubetten. Traditionellen linken Gerechtigkeitszielen
tut dies keinen Abbruch – im Gegenteil.
Robert Christian van Ooyen
Der Internationale Strafgerichtshof
zwischen Normativität, Machtpolitik und Symbolik
Der Streit um die Verlängerung der UN-Mission in Bosnien und
die Sonderregelung für die USA bzgl. der Strafverfolgung des
International Criminal Court (ICC) ist bei vielen europäischen
Staaten auf große Empörung gestoßen, ja als „Erpressungsversuch“
empfunden worden, der überhaupt die ganze Arbeit des neuen Gerichtshofs
torpediere. Doch führt man sich die politischen Bedingungen
vor Augen, an die eine effektive internationale Strafgerichtsbarkeit
zur Zeit gebunden bleibt, dann ist festzustellen, dass der machtpolitische
Rückhalt von „Großmächten“ unbedingt erforderlich ist. Zuletzt
wurde dies deutlich bei der Einsetzung der UN-Tribunale für
Jugoslawien und Rwanda durch den UN-Sicherheitsrat. Der jetzt
seine Tätigkeit aufnehmende ICC bildet hiervon keine Ausnahme.
Der Gerichtshof bleibt nicht nur bei all seinen Kompetenzen
zur strafrechtlichen Verfolgung von Völkermord, Kriegsverbrechen,
Verbrechen gegen die Menschlichkeit und Aggression der staatlichen
Zuständigkeit nachgeordnet. Auch bei den Fällen, die überhaupt
vor den ICC gelangen, ist er - zu Recht - auf den machtpolitischen
Rückhalt des UN-Sicherheitsrats angewiesen, der im Zweifelsfall
allein mit den Maßnahmen nach Kap. VII UN-Charta über wirkungsvolle
politische Zwangsmittel verfügt. Vor diesem Hintergrund erweist
sich der Streit auf beiden Seiten eher als ein Akt bloß symbolischer
Politik. Denn die jetzt auf der Grundlage von Art. 16 ICC-Statut
beschlossene Sicherheitsrats-Resolution 1422, die den USA zunächst
für ein Jahr „Schonzeit“ einräumt, ist aus pragmatischer Sicht
kein „fauler Kompromiss“. Sie offenbart nur das, was die Effektivität
des ICC voraussetzt - und was im Übrigen mit der institutionellen
Anbindung des Gerichts an die UN schon im Statut auch ganz bewusst
gewollt worden ist. Heute gilt es, den Blick dafür zu schärfen,
was der Gerichtshof „realistischer“ Weise in den nächsten Jahren
leisten kann.
Hans-Joachim Spanger
Zwischen demokratischem Idealismus
und sicherheitspolitischem Realismus: Russland und der Westen
nach dem 11. September
Seit dem 11. September 2001 ist ein historischer Wandel in
den Beziehungen zwischen den USA und Russland eingetreten. Für
die USA ist der Kampf gegen den Terrorismus seither die zentrale
Herausforderung. Russland spielt hierbei eine wichtige politisch-symbolische
Rolle, verleiht doch der russische Beitritt zur globalen Koalition
dem amerikanischen Krieg gegen den Terrorismus die Weihen einer
zivilisatorischen volonté generale, von materiellen Vorteilen
wie dem Zugang zu den zentralasiatischen Operationsbasen im
ehemals exklusiv russischen Sanktuarium der GUS-Staaten einmal
abgesehen. Für Russland liegt der potenzielle Nutzen der neuen
außenpolitischen Strategie auf der Hand: zum einen die Hoffnung
auf westliche Konzessionen, insbesondere hinsichtlich der beschleunigten
Aufnahme in die WTO und der Verlangsamung der NATO-Erweiterung,
und zum anderen die berechtigte Erwartung, der Westen werde
im Interesse einer stabilen Anti-Terror-Koalition nicht mehr
auf einer Demokratisierung Russlands insistieren. Die neue russisch-amerikanische
Entente ist unverblümte Realpolitik, beruhend auf einer gemeinsamen
außenpolitischen Basis, deren gemeinsamer Nenner sich darin
manifestiert, dass auf westlicher Seite ein genuines außenpolitisches
Interesse an Russland entstanden ist, das die einst dominante
Demokratisierungsagenda in den Hintergrund ritueller Bekenntnisse
gedrängt hat, und a umgekehrt auf russischer Seite ein genuines
innenpolitisches Interesse an ebenso autoritärer wie beschleunigter
Modernisierung dominiert. Gemeinsam tragfähig ist ein solcher
Nenner auf Dauer aber nur, wenn er für beide Seiten einen messbaren
Erfolg garantiert. Hier ist die Bilanz in den Monaten nach dem
11. September für Russland allenfalls gemischt.
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