Internationale Politik und Gesellschaft
International Politics and Society 4/2003

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Zu diesem Heft

Francis Fukuyamas schon seinerzeit sehr umstrittene These vom Ende der Geschichte erscheint nach der ersten „geschichtslosen“ Dekade nur noch schwer nachvollziehbar. Wohl hat das doppelte gesellschaftliche Ordnungskonzept „Demokratie plus Marktwirtschaft“ die über hundertjährige Auseinandersetzung mit seinem großen sozialistischen Widersacher klar für sich entschieden. Aber es will auch nicht richtig gelingen, die sich herausbildende globale Gesellschaft nach dem siegreichen Konzept zu gestalten. Das neue Kapitel der Weltgeschichte, das nach der Niederlage des bürokratischen Sozialismus aufgeschlagen wurde, dürfte – so schält sich langsam heraus – von diesem Problem gekennzeichnet sein. Der neue Gegner des westlichen Ordnungsentwurfs sind nicht die Protagonisten einer alternativen Ordnung, sondern es ist die Dynamik der „Unordnung“ oder zutreffender: der gesellschaftlichen Regression.

Diese Dynamik war der zentrale Topos in der 2/2003-Ausgabe von Internationale Politik und Gesellschaft. Und es steht zu erwarten, dass damit ein „Mutterthema“ für lange Zeit identifiziert ist: der Kampf um die „Zivilisierung“ der Welt gegen die Kräfte der Regression. Die terroristische Bedrohung, nach dem 11. September 2001 flugs zur Herausforderung des 21. Jahrhunderts hochstilisiert, ist ein Symptom globaler „Unordnung“. Das gesamte Bedrohungssyndrom, dem sich die „westlichen Wohlstandsinseln“ gegenüber sehen, versucht, samt den zugehörigen politischen Optionen, der Beitrag von Michael Dauderstädt auszuloten.

Wer sich mit dem Problem der gesellschaftlichen Regression und seiner destabilisierenden Konsequenzen befasst, gelangt schnell an jenen zentralen Punkt, den eine optimistischere Weltsicht einst mit dem Begriff der wirtschaftlichen Unterentwicklung belegt hat. Wo der Aufbau – und die ständige Erneuerung – eines modernen Kapitalstocks und damit der Anschluss an das vom Westen vorgelegte Wohlstandsniveau blockiert sind, droht der Kampf um Rentenquellen (und ums Überleben) das gesellschaftliche Geschehen zu organisieren. Wie sich das gewaltanfällige Syndrom der klientelistischen Rentenwirtschaft mit Identitätszuweisungen verbindet, zeigt – einmal mehr – der Beitrag von Stephan Hensell am Beispiel Mazedonien. (Zur Ethnisierung von Verteilungskonflikten, die aus stagnierenden Rentenökonomien erwachsen, sei auch auf die Beiträge unseres Afrika-Schwerpunktes in der 2/2003-Ausgabe verwiesen.)

Die Herausforderung im Interesse globaler „Zivilität“ oder auch nur einer Stabilisierung im westlichen Eigeninteresse ist eine doppelte: die Problemländer aus der Falle der innergesellschaftlichen Stagnationsstrukturen herauszubekommen und zu verhindern, dass weitere Länder sich in ihr verfangen. Ein gewaltiger weltweiter Apparat der Entwicklungszusammenarbeit widmet sich dem seit Jahrzehnten – mit insgesamt geringem Erfolg. Klaus Eßer plädiert in seinem Beitrag für rigorose Konsequenzen: die Zusammenarbeit nur noch dort anzusetzen, wo die gesellschaftlichen Voraussetzungen für modernes weltmarktfähiges Wirtschaften gegeben sind, und darauf zu vertrauen, dass die neuen „südlichen“ Wachstumspole später ihre Nachbarländer mitziehen. Auch die Erfolgsvoraussetzung „Good Governance“ gilt es zuvörderst nicht dort zu stärken, wo sie eklatant fehlt, sondern wo es die sozio-ökonomischen Strukturen begünstigen. Bezogen auf das globale Destabilisierungsproblem bedeutet Eßers Gedankengang, dass die entscheidenden Weichen für die Zukunft der Welt in jenen Ländern gestellt werden, die das Potenzial zu neuen „Tigerstaaten“ haben, aber gleichzeitig mit der Perspektive gesellschaftlicher Regression konfrontiert sind. Südafrika, das vor zehn Jahren seine spezifische historische Blockade überwunden hat, ist ein solches Land par excellence – mit Signalwirkung für einen ganzen Erdteil. Siegmar Schmidt zeichnet ein Bild vom post-Apartheid-Südafrika, das Hoffnungen und Befürchtungen gleichermaßen bestärkt.

Die aus der gesellschaftlichen Regression in (weiten ?) Teilen der Welt kommenden Herausforderungen relativieren den klassischen geopolitischen Fokus von Weltpolitik. Aber sie weisen ihm auch neue Bedeutung zu. Wohl ist die Rivalität sich gegenseitig misstrauender bzw. um knappe Güter konkurrierender Staaten, wie sie die „realistische“ Theorie der internationalen Beziehungen in den Vordergrund stellt, keineswegs aus der Welt. Die Beiträge von Uwe Krüger zum „Poker“ um das kaspische Öl und Kassian Stroh zum Konflikt um das Wasser des Nils liegen auf dieser Ebene. Aber die – funktionierenden – Staaten der Welt haben ein zunehmendes Interesse, die aus der Gesellschaftswelt erwachsenden Bedrohungen, die man mit den verfügbaren Mitteln staatlicher Politik (Dauderstädt weist auf das zentrale Problem der Finanzierbarkeit hin) nicht ausschalten kann, mit eben diesen Mitteln zumindest einzuhegen. Wo innere Stabilität nicht gelingt, werden äußere Kontrolle und die verbündeten Akteure, die sie übernehmen sollen, um so wichtiger. Dieser Imperativ verbindet die ansonsten real- und weltordnungspolitisch rivalisierenden Mächte. Wie der Beitrag von Peter W. Schulze darlegt, ist der Wiedereintritt Russlands in das relevante Konzert der Mächte maßgeblich unter diesem Blickwinkel zu verstehen. Dass das große gemeinsame Stabilisierungsinteresse die Mächte im übrigen nicht davon abhält, mit gezielter Destabilisierung gegenüber Rivalen zu punkten, wird in Uwe Krügers Beitrag mehrfach offenkundig.

Der Palästinakonflikt steht natürlich ganz oben auf der Liste, wenn es um globale Stabilisierung geht. Er ist aber zuallererst ein Konflikt sui generis und ein Beispiel für die bestechende, nahezu unangreifbare Logik kollektiver Irrationalität. Reiner Bernsteins Analyse des neuesten Anlaufs zum Nahostfrieden macht dies in schonungsloser Weise deutlich.

Der verantwortliche Redakteur von Internationale Politik und Gesellschaft verabschiedet sich nach zehn, nicht gerade „geschichtslosen“ Jahren mit diesem „Editorial“ von den Lesern. Die Zeitschrift wird ihre konzeptionelle Linie beibehalten, aber von der ersten Ausgabe des Jahres 2004 an sicherlich in manchem eine andere „Handschrift“ aufweisen.

© Friedrich Ebert Stiftung | net edition malte.michel | 9/2003