Zu diesem Heft — Heft 2 / 2004
 
       
    Liegt Lateinamerika im Windschatten der Weltpolitik? Die aktuelle weltpolitische Debatte spiegelt zumindest einen »benign neglect«, eine wohlwollende Vernachlässigung wider, wie sie auch der Hegemonialmacht USA gegenüber ihrem »Hinterhof« derzeit häufig zugeschrieben wird. Im Zeichen einer »Versicherheitlichung« (»securitization«) von Außenpolitik und der Konzentration auf die Bekämpfung des internationalen Terrorismus schaut die globale Medienöffentlichkeit verstärkt nach Osten. Lateinamerika und die Karibik sind hingegen auf der Landkarte des Anti-Terror-Krieges vergleichsweise unbedeutend. Vermeintliche islamistische Terroristen gibt es vor allem auf dem US-amerikanischen Stützpunkt Guantánamo Bay, und Kuba ist der einzige, recht gut isolierte »Schurkenstaat« in dieser Region.
 
Aber ein Windschatten ist in der Regel nicht von langer Dauer und schon gar nicht mit Ruhe und Frieden zu verwechseln. Diese Ausgabe von "Internationale Politik und Gesellschaft" richtet daher den Blick gezielt nach Westen. Der Anspruch auf eine umfassende Analyse der Perspektiven des riesigen – und äußerst heterogenen – Subkontinents wäre vermessen. Lateinamerika passt in kein Zeitschriftenformat. Ziel ist vielmehr, einigen Kernproblemen der Region auf den Grund zu gehen und Zukunftsoptionen zu prüfen.
 
Nie war Lateinamerika so demokratisch wie heute – betrachtet man die formalen Regeln der Regierungssysteme. Dieter Nohlens Beitrag macht jedoch die brüchige gesellschaftliche Basis der Demokratie sichtbar. Das Vertrauen in die demokratischen Institutionen und die Unterstützung der Demokratie als Herrschaftsform sind in Lateinamerika rückläufig. Das für eine lebendige Demokratie nötige Vertrauen in den generalisierten Anderen, das Putnam’sche »Sozialkapital«, ist unterentwickelt. Hingegen ist das Vertrauen in private Beziehungsnetzwerke ausgeprägt, wodurch eine politische Kultur des Klientelismus und Nepotimus begünstigt wird. Welche Beharrungskraft diese unter dem Deckmantel von Modernisierungsdiskursen und Pseudo-Reformen aufweist, illustriert auch H.C.F. Mansillas Analyse der bolivianischen Verwaltungsreformen.
 
Um die Hindernisse der demokratischen Konsolidierung zu überwinden, kommt – so Dieter Nohlen – der Zivilgesellschaft eine entscheidende Rolle zu. Diese muss sich allerdings von der historisch begründeten, aber heute kontraproduktiven anti-institutionellen Haltung verabschieden, weil sie die Demokratie weiter untergräbt und populistischen Tendenzen Vorschub leistet.
 
Die lateinamerikanische Geschichte ist seit jeher von Migration geprägt. Heute sind die Staaten Lateinamerikas und der Karibik Netto- Exporteure von Arbeitskräften, die in die reichen und alternden Gesellschaften der Industrieländer abwandern. Migration hat jedoch, wie Keith Nurse aufzeigt, negative Auswirkungen auf die gesellschaftliche und ökonomische Entwicklung der armen Länder, die allein durch die finanziellen Rückflüsse der Diaspora-Community nicht kompensiert werden. Erforderlich ist eine regionale Strategie, insbesondere Investitionen in Bildung und Ausbildung, an denen sich auch die Einwanderungsländer beteiligen.
 
Migration als »Exit«-Strategie ist nicht für alle Menschen eine Option. Die wiederkehrenden Krisen und die Verschärfung sozialer Problemlagen in Lateinamerika, bei gleichzeitigem Fortbestehen von Privilegien der Eliten, haben gerade in jüngster Zeit wieder massive gesellschaftliche Proteste hervorgebracht. In Argentinien hat die breite Nutzung der »Voice«-Option letztlich zum Sturz der konservativ-neoliberalen Regierung geführt, die für den Kollaps der argentinischen Wirtschaft im Jahr 2001 verantwortlich gemacht wurde. Julio Godio rekonstruiert in seinem Beitrag die lange Vorgeschichte ökonomischer Fehlentwicklungen, die in die »globale Krise« führten und den in der Gesellschaft fortlebenden Mythos eines wohlhabenden, zur »ersten Welt« aufschließenden Landes jäh beendeten. Sollte der Regierung Kirchner die Wende von einer Rentenökonomie zur »working society« gelingen, hätte der eingeschlagene neue Entwicklungspfad eine Chance.
 
Die US-amerikanische Reaktion auf die argentinische Krise symbolisierte – so Mario Carranza – die Wiederkehr des »benign neglect«, der vor allem seit dem 11. September 2001 die Politik der USA gegenüber Lateinamerika prägt. Diese Beobachtung ist jedoch nur Ausgangspunkt seiner Analyse der Kräfteverschiebungen im asymmetrischen Dreieck USA-Lateinamerika-Europa. Die Politik der USA lässt, in Verbindung mit dem gewachsenen Selbstbewusstsein vieler lateinamerikanischer Staaten, neuen Spielraum entstehen für eine Annäherung an die Europäische Union. Allerdings sind für eine Partnerschaft zwischen Europa und Lateinamerika wirtschaftliche Interessenkonflikte zu überwinden, die einem Freihandelsabkommen zwischen der EU und dem südamerikanischen Wirtschaftsraum MERCOSUR bislang im Wege stehen. Zudem sind die USA keineswegs bereit, Lateinamerika aus ihrem Hinterhof zu entlassen. Die geplante gesamtamerikanische Freihandelszone (FTAA) ebenso wie die Alternative einzelner bilateraler Abkommen würde die ökonomische (Inter-)Dependenz vertiefen.
 
Im Anti-Drogenkampf in der Andenregion verfolgen die USA die als solche definierten nationalen Interessen weiterhin auch mit militärischen Mitteln, in Kolumbien in enger Kooperation mit der Regierung. Gerhard Drekonja-Kornat beschreibt die unübersichtliche Konfliktkonstellation als Reihe von »Mikro-Kriegen«, die – von einem politisch motivierten Bürgerkrieg weit entfernt – durch eine florierende Kriegsökonomie am Leben gehalten werden. Wie Godio endet auch Drekonja-Kornats Beitrag jedoch mit einem vorsichtig optimistischen Resumé: Friedensbemühungen der kriegsmüden Zivilgesellschaft und das »Wunder von Bogotá«, wo die einst verslumte Großstadt durch die Initiativen engagierter Lokalpolitiker aufblüht, weisen Wege aus Krise und Gewalt, und auf eine »zweite Chance in der Geschichte« für Kolumbien.
 
Je stärker die USA sich zurückziehen oder aber auf einen harten militärischen Interventionskurs gehen, desto eher wachsen – so argumentiert Carranza – Erwartungen an ein stärkeres Engagement Europas. Lateinamerika kann als ein Testfall für die »Zivilmacht« Europa interpretiert werden. Aber ist Europa überhaupt ausreichend gerüstet, diese Rolle zu übernehmen? Maxime Lefebvre überprüft die außenpolitische Handlungsfähigkeit Europas und kommt zu einem skeptischen Ergebnis. Lefebvre plädiert daher für gemeinsame Initiativen der großen Mitgliedstaaten, die als »handelnde Kraft« der gemeinsamen Außenpolitik die nötigen Impulse geben.
 
Lateinamerika – USA– Europa: Amitai Etzioni ordnet diese Länder bzw. Regionen einem einzigen Überzeugungs- und Wertesystem, dem »Westen«, zu. Für eine gute globale Gesellschaft, deren Grundlinien Etzioni aus kommunitaristischer Perspektive entwirft, bieten die westlichen Werte jedoch keine hinreichende Basis. Eine globale Gesellschaftsarchitektur muss aus einer normativen Synthese der Schlüsselwerte des »Westens« und des »Ostens« entstehen. Sie muss Respekt für individuelle Autonomie mit der Verpflichtung auf das Gemeinwohl und soziale Ordnung vereinen. Der Weg dorthin führt – so Etzioni – über beiderseitiges Lernen, d.h. die »gute« Gesellschaft steht am Ende eines Dialogs der Zivilisationen.
 
Der Westen ist aber nicht nur gefordert, auf internationaler Ebene eine Politik des Werteexports durch Austausch und Dialog zu ersetzen, sondern auch in den eigenen Gesellschaften auf die richtige Balance zwischen Freiheit und sozialer Ordnung, zwischen Rechten und Pflichten, zwischen Individualismus und Solidarität zu achten. In diesem Sinne bestätigen die Protestbewegungen in den USA, Europa und Lateinamerika, die das liberale Modell – oder zumindest seine Auswüchse und »Kollateralschäden « – kritisieren, dass das »Ende der Geschichte« auch im Westen noch nicht erreicht und die Frage »In welcher Gesellschaft wollen wir leben?« nicht abschließend beantwortet ist. Angesichts der vielfältigen Suchbewegungen und Reformbestrebungen könnte Lateinamerika vielleicht zu einem Laboratorium werden, in dem neue Entwicklungswege und ausgewogene Gesellschaftsmodelle erprobt werden.
         
 
··> Editorial als pdf-File in deutsch und englisch  
 
         
 
 
         
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