Zu diesem Heft — Heft 2/2006
 
    
  

Im letzten Viertel des vergangenen Jahrhunderts haben einige Dutzend Staaten ihre politischen Systeme nachhaltig demokratisiert. Doch längst ist klar, dass Demokratisierung kein unaufhaltsamer gleichsam naturgesetzlich voranschreitender Prozess ist, wie uns weiland die Wortführer der Transitionsforschung glauben machen wollten. Demokratisierung kann Fortschritte machen, sie kann stocken oder regredieren, denn es handelt sich um einen komplexen und dynamischen Prozess, in den eine Vielzahl von Faktoren hineinwirken, und der letztlich durch die historische Individualität von Ländern geprägt wird. Gerade wer Indizien für Trends sucht, wird deshalb die politischen Prozesse und Systemkonfigurationen in konkreten Ländern und Regionen genau in den Blick nehmen müssen.

Mit der vorliegenden Ausgabe von INTERNATIONALE POLITIK UND GESELLSCHAFT soll das Augenmerk auf den Zustand der Demokratie in Russland, dem Kosovo, Zentralasien und im Nahen Osten gelenkt werden, wo Regierungssysteme entstanden sind, die demokratische und nicht-demokratische Elemente auf unterschiedliche Art und Weise kombinieren.

Dass sich in Russland nach der Auflösung der Sowjetunion ein politisches System eigener Art entwickelt hat, zeigt Matthes Buhbe in seiner Analyse des russischen Parteiensystems. Es gibt im russischen Regierungssystem zwar die Kernelemente einer Demokratie wie freie Wahlen und das Recht, sich politisch zu betätigen und zu organisieren; und die Verfassung, die Russland als föderalen Rechtsstaat definiert, sieht die Kontrolle der Regierung durch das Parlament vor. Doch ist die Exekutive übermächtig, und das Parlament hat im Institutionengefüge eine ausgesprochen schwache Position. Da sich die Regierung überdies bemüht, die Handlungsmöglichkeiten der Opposition und der Zivilgesellschaft immer weiter einzuschränken, eine politische Kontrolle über die Medien zu etablieren und die Unabhängigkeit der Justiz zu schmälern, sprechen Kritiker von einer „gelenkten Demokratie“ oder gar von „neo-zaristischen Tendenzen“.

Die größten und wichtigsten Parteien, die unter diesen Voraussetzungen in Russland entstanden sind, verstehen sich als Stütze der Regierung und arbeiten ihr zu. Es handelt sich um „Parteien der Macht“, die durch Wohlverhalten die Gunst des Kreml zu gewinnen versuchen und sich in Abhängigkeit von der Exekutive begeben, um an der Macht zu partizipieren. Auf die Entscheidungen der Regierung haben sie nur geringen Einfluss. Der zentrale Grund für ihre Unterordnung unter die Exekutive liegt aber nicht darin, dass das Präsidentenamt mit weitreichenden Machtbefugnissen ausgestattet ist, sondern darin, dass die bisherigen Präsidenten über eine eigene Wähler- und Unterstützerbasis verfügten, die größer war als die der Parteien.

In den fünf zentralasiatischen Republiken Kasachstan, Usbekistan, Turkmenistan, Kirgisistan und Tadschikistan, die Reinhard Krumm in den Blick nimmt, dienen die Kernelemente der Demokratie lediglich als Versatzstücke autokratischer Systeme. Usbekistan wird in den einschlägigen Rankings als eines der unfreiesten Länder der Welt geführt. In Kasachstan sind die Machthaber dank der Renteneinkommen aus der Ölförderung nicht darauf angewiesen, mit anderen gesellschaftlichen Gruppen und Akteuren Kompromisse zu schließen oder auf irgend jemanden Rücksichten zu nehmen. Auch in den anderen Republiken neigen die Machthaber dazu, sich über Regeln und Interessen hinwegzusetzen; Wahlen werden in allen fünf Republiken manipuliert. Dass rentistische Strukturen Demokratisierungsprozesse eher behindern als fördern, legen auch Oliver Schlumbergers Analyse der Nahostregion und Andreas Wittkowskys Überlegungen zum Kosovo nahe.

Die anderen Beiträge dieser Ausgabe schlagen thematisch einen weiten Bogen: Wil Hout stellt die Konzepte der europäischen Sozialdemokratie zur Gestaltung der Globalisierung zusammen. Michael Hofmann und Jürgen Zattler machen Vorschläge zur Steigerung der Effizienz von Entwicklungshilfeleistungen. Gunter Schubert beschreibt neue Entwicklungen der Nationsbildung in Taiwan. Jürgen Kahl analysiert die Tragfähigkeit der wirtschaftlichen Erholung in Japan.

 

     
 
     
 
 
     
© Friedrich-Ebert-Stiftung   net edition: Gerda Axer-Dämmer | 4/2006  < Top