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Half Gone« meint dasselbe wie »Peak Oil«. Der Gipfel der Ölförderung tritt ein,
wenn etwa die Hälfte des gesamten ursprünglichen Reservoirs konventionellen
Erdöls in der Erdkruste gefördert ist. Und das gilt wiederum, sofern die globale
Förderkurve von konventionellem Erdöl symmetrisch hinsichtlich des Gipfelpunkts
ist – zwar nicht wirklich der Gestalt nach, aber doch hinsichtlich der
beiden Flächen unter der Anstiegs- und unter der Abstiegskurve. Dass diese beiden
Flächen gleich sind, dafür spricht sowohl geologisch als auch erdöltechnisch
vieles – Leggetts Buch ist somit ein weiteres in der Kette von »peak-oil«-Büchern,
die inzwischen in großer Zahl erschienen sind. Der »topping point«, so Leggetts
Überzeugung, ist nahe. Was ist die Besonderheit seines Buches, die es lohnt, es
zur Kenntnis zu nehmen?
Die erwartungsvolle Antwort auf diese Frage lautet: Niemand sonst verbindet
in seiner (beruflichen) Biografie das »peak-oil«-Thema mit dem Klimathema in
vergleichbarer Weise wie Jeremy Leggett. Zur Erinnerung: Leggett war etablierter
Ölingenieur, Lecturer am Imperial College in London, als ihm die Bedeutung
des Klimathemas klar wurde. In der Folge hat er die Seiten gewechselt: Zunächst
als »wissenschaftlicher Chefberater« von Greenpeace, später hat er im Auftrag
der Versicherungswirtschaft in den 1990er Jahren die multilateralen Klimaverhandlungen
als Augenzeuge verfolgt. Seit einem knappen Jahrzehnt ist er Unternehmer,
engagiert im Geschäft mit erneuerbaren Energien. Leggett bringt aufgrund
dieser wechselreichen Biographie auch eine Sicht vom Inneren der
Finanzindustrie mit und kann das Zusammenfallen von Ölknappheit und Klimaproblematik
aus dieser Perspektive reflektieren. Dass beide Krisen sich verbinden,
ist zu erwarten bzw. zu erhoffen, in beiden Fällen nämlich steht eine synchron eintretende Knappheit von menschheitsgeschichtlicher Bedeutung ins
Haus.
Hier scheint somit endlich die dazu am meisten berufene Person aufzutreten
und zu fragen: Unter welchen Bedingungen ist die kommende bzw. eingetretene
Ölkrise ein Bundesgenosse zur Lösung des Klimaproblems – et vice versa? Ist das
Verhältnis beider Krisen synerg- oder eher antagonistisch? Oder genauer: Wovon
hängt es ab, ob das eine oder das andere im weiteren Verlauf der Ölkrise der Fall
sein wird? Das ist das Besondere an dem Buch, und dass der »Peak Oil«-Titel dem
Buch nur halb angemessen ist, ist in Kauf zu nehmen.
Das Buch enthält zwei Hauptteile: I »Oil Depletion«; und II, mit lapidarem
Titel, »Oil Depletion meets Global Warming« – als wenn sich zwei Bekannte in
der Stadt zufällig träfen. Diese beiden sachlichen Hauptteile werden eingerahmt
von einem literarischen Text in Form einer Erzählung: »The Story of the Blue
Pearl« als Prolog, »The Future of the Blue Pearl« als Epilog. Die Rahmenerzählung
ist, obwohl »nur« eine Erzählung, von tragender Bedeutung. Um zunächst
den Tonfall der Erzählung erfahrbar zu machen, hier ihr Anfang bis zu der Stelle,
an der die »blue pearl« eingeführt ist:
»Once upon a time there was a planet on which life evolved into such a state
that the highest animal species could think. They were conscious of their own past,
present and future. They could organize parties, and invent luggage with wheels.
They could also fight with hideous cruelty, and rig wholesale power markets. lt
took more than four and a half thousand million years for this to happen, but it
was all very remarkable once it did. Some of the more advanced Thinkers took a
look out into space, did a few sums, and worked out that there wasn’t a cat’s chance
in hell of sentient life of such complexity on any other planet within light years of
theirs. There was a chance, indeed, that there was nothing like the Thinkers anywhere
else in all the known universe. Boy, did that make them feel special.
Some Thinkers made a spaceship that could blast perilously from the planet
and land on a large rock in orbit around it. The occupants of the spaceship stood
on the barren and lifeless surface of the rock and looked back at their planet. A
small blue pearl in a thick sea of black mystery. That’s how it looked. They were
more than routinely glad to survive the return journey« (S. 1).
Die Überschrift des zweiten Hauptteils lässt erwarten, dass die Frage nach
Synergie und Konflikt geklärt wird. Dieser Erwartung wird das Buch, wenn auch
in Grenzen, gerecht. Über weite Strecken findet der professionelle Leser zunächst
einmal lediglich eine Art »account« der wesentlichen Stationen der öffentlichen
Debatte zu den Themen »Klima« und »Ölknappheit«, häufig sogar allein auf
Basis von Presseberichten – was, wenn es aus der Feder eines Journalisten oder
eines politologischen Doktoranden stammte, in aller Regel abstoßend wäre. Hier,
aus Leggetts Feder geflossen, lohnt die Lektüre. Es ist sein profunder Hintergrund,
der ihm erlaubt, mit sicherem Instinkt allem gleichsam »Angesammelten«
Tiefenschärfe zu geben und durch die Zusammenstellung ein wirkliches »Bild« des Geschehens über ein Jahrzehnt zu geben. Diese Konzentration auf ein Bild
macht den Nachvollzug auch für Experten, die in den Details häufig ein Déja-vu-
Empfinden beschleicht, zu einer ertragreichen Lektüre.
Der zweite Hauptteil besteht aus drei Kapiteln: Zweimal »How we got into
this mess«, erst arabisch 1, dann arabisch 2 – dann drittens das Lösungskapitel
»What can we do about it?« Hier werden fünf »Argumente« entfaltet. Erst wird
bestätigt, dass es »im Prinzip« möglich sei, »[…] to replace oil, gas and coal completely
with a plentiful supply of renewable energy; and faster than most people
think« (S. 198).
Im zweiten Argument wird darauf verwiesen, dass das Problem jedoch zeitkritisch
sei: Die Handlungsnotwendigkeiten aufgrund der Ankunft des »topping
point« werden sich kurzfristig, überraschend ergeben und uns also unvorbereitet
treffen: »[…] the shortfall between current expectation of oil supply and actual
availability will be such that neither gas, nor renewables, nor liquids from gas and
coal, nor nuclear, nor any combination thereof, will be able to plug the gap in
time to head off the economic trauma resulting from the oil topping point«
(S. 199).
In dieser Krisensituation, für die er die in der ökonomischen Lehre bislang
unbekannte Vokabel »Trauma« einführt, wird eine Konkurrenz eintreten: Der
»natürliche« Prozess hin zur Substitution der fossilen Energieträger, hier zuvörderst
von Öl(produkten) als Treibstoff durch erneuerbare und Energieeffizienz,
wird wegen der Plötzlichkeit und des Trauma-Charakters »gestört« werden –
durch ein »revival« der Kohle. In Leggetts Worten: »However – another very big
however – amid the ruins of the old energy modus operandi many will try to turn
to coal. This means that the extent to which renewable energy grows explosively
instead of coal expansion, rather than alongside it, will determine whether economies
and ecosystems can survive the global warming threat« (S. 199).
Hintergrund dieser Einschätzung sind einerseits Leggetts intime Kenntnis der
Kohle-Szene mit ihrer so besonderen Kultur, insbesondere in den USA, und ihrer
Beziehung zur Politik, und andererseits seine Kenntnis der riesigen Forschungsprogramme,
die inzwischen aufgelegt worden sind, um die Kohle wettbewerbsfähig
zu halten. Die am meisten verstörende Perspektive ist die mit hohen Ölpreisen
realistisch gewordene Aussicht auf »Kohlebenzin« (im Jargon: CtL, für
»Coal to Liquid«) mit Hilfe der Fischer-Tropsch-Synthese. Dieses technologische
Verfahren wurde in Deutschland entwickelt und dort mit dem Ergebnis einer
Verlängerung des Zweiten Weltkriegs in Europa eingesetzt. Es hat in Südafrika
dank der Embargo-Politik der Staatengemeinschaft gegen Südafrikas Politik der
Rassendiskriminierung nicht nur »überwintert«, sondern hat dort deutliche Fortschritte
erzielt, mit dem Ergebnis einer erheblichen Effizienzsteigerung, das heißt
Kostensenkung. Gegenwärtig boomt die Errichtung von Anlagen dieser Technologie
in China und in den USA, den beiden Staaten also, die sich darin gleich
sind, dass sie sowohl über erhebliche Kohlevorkommen verfügen als auch, gemessen am Inlandsbedarf, viel zu geringen Ölvorkommen. Leggett gibt einen
Überblick über die »[…] forces which, directly or indirectly, will favour a massive
retreat into coal when panic descends in the wake of the oil topping point«
(S. 241).
Das kommende Geschehen stilisiert er als eine Entscheidungsschlacht nach
dem Vorbild der Apokalypse der neutestamentlichen Schriften (Armaggedon) –
und das nicht willkürlich. Leggett gibt an etlichen Stellen seines Buches zu erkennen,
wie sehr er die US-Klimapolitik aus dem Geist der endzeitlichen Erwartungen
des dortigen Christentums heraus zu verstehen vermag: »The bottom line
is this. Two ideas will confront each other head-on in the wake of the oil topping
point. We can call them solarization and coalification. This, I contend, will be the
battleground that will decide the fate of the planet« (S. 241/2).
Zum Abschluss des Kapitels mustert Leggett die möglichen »Mächte« durch,
von denen er sich eine Lösung erhoffen könnte. Er fragt, welche von ihnen in der
Entscheidungsschlacht entscheidend Einfluss zu nehmen vermag. Government?
»… cannot be relied on to take the lead in the modern world. Many of them are
led themselves, by industry. They will need to be pushed« (S. 244). Law? Den
»law firms« traut er, auf Basis der US-Rechtsprechung zur Haftung bei der Verursachung
von Großschäden, schon mehr zu. Corporations? Ja, sofern »the financial
institutions invest in survival, not in suicide« (S. 248). Entscheidendes traut
er dem Volk zu, sofern wenige es schaffen, ihre Einsicht und Werthaltung wie eine
Epidemie zur Haltung vieler werden zu lassen. Dafür gibt er auf Basis des Buches
von Malcolm Gladwell »The Tipping Point« etliche konkrete Hinweise und Ratschläge.
Dieses hier in äußerster Konzentration und rein begrifflich wiedergegebene
Ergebnis seiner Überlegungen zur Entscheidungsschlacht zwischen den Streitkräften
der beiden Denkkulturen »solarization« und »coalification« wird in der
»Blue Pearl«-Geschichte begriffsfrei dargestellt, eben erzählt, und zwar so, dass es
für jedermann, selbst für Kinder, anschaulich wird. Die Erzählung hat zudem, ich
vermute dass der Autor sich des literarischen Vorbildes bewusst ist, Anklänge an
die »Once upon a time«-Geschichte, mit der Rachel Carson ihren »Silent Spring«
präludierte – und eine globale Bewegung in Gang zu setzen vermochte. Es kommt
eben beim Versuch des Menschen-Erweckens auch auf den Ton an. Zudem geht
es um einen erstmaligen Vorgang in der Geschichte von etwas Einzelnem, das
lebt, der Erde. In diesem Sinne handelt es sich um einen »biografischen« Vorgang
– so gesehen kein nahe liegender wenn nicht unmöglicher »Gegenstand« für
die Wissenschaft, eher ein Sujet der Dichtung. Ein Grenzfall, mit doppelter Zuständigkeit.
Und doch fehlt mir persönlich Entscheidendes bei der Darstellung des zeitlichen
Zusammentreffens von Klimawandel und Gipfel der Ölförderung: Die Behandlung
der Implikationen dieser Entscheidungsschlacht für die Konstellation
der drei bis fünf Hegemonialmächte sowie die Darstellung dessen, welche Chancen und Gefahren dieses historische Zusammentreffen für den Kreislauf der Weltmachtkonstellationen
mit sich bringt. Diese »hegemonial politische« Perspektive
fehlt. Die Ausrufung des »Kriegs gegen den Terror« fiel mit dem Ausblenden des
Klimaproblems zusammen – das kann doch nicht das letzte Wort einer Macht sein,
welche ihre Macht erhalten will und zugleich durch Manifestationen des Klimawandels,
Unbilden der Energiewirtschaft und weltweite Migrationsbewegungen
vielfältig verletzlich ist. Auch den USA wird eines nicht fernen Tages deutlich werden:
Ihr Sieg gegen die Sowjetunion ist nicht militärisch errungen worden. Die
USA drohen, wenn sie sich gegen einen ephemeren Feind überrüsten, die wahre
Herausforderung dagegen vernachlässigen, die nächste Sowjetunion zu werden.
Hans-Jochen Luhmann,
Wuppertal Institut
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