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Dies ist kein Buch über die Weltwirtschaft oder das internationale Finanzsystem.
Man erfährt nicht, wie sich die internationalen Finanzströme oder die
Verschuldung der Staaten oder Unternehmen entwickelt haben. Selbst Beschreibungen
und kritische Analysen zentraler ökonomischer Prozesse, wie etwa die
Auswirkungen einer Abwertung auf Wachstum und Beschäftigung, sucht der Leser
vergebens. Es ist eigentlich überhaupt kein wirtschaftswissenschaftliches Buch
im engeren Sinn.
Was Christian Kellermann liefert, ist eine Analyse der Metaebene jenseits der
realen wirtschaftlichen Abläufe. Ihn interessiert – und besser auch den Leser,
wenn er nicht enttäuscht sein will – wie sich die öffentliche Wahrnehmung der
Realprozesse konstituiert, wie durch die Formung der Wahrnehmung, insbesondere
von Problemen, Krisen und deren Ursachen, auch die Auswahl und Legitimation
von Politiken gestaltet wird. Wir Leser erfahren nicht, was ist, sondern
was wahrgenommen wird und warum es so wahrgenommen wird. Und vielleicht
unterliegen die, die denken, man könne wissen, was ist, ohnehin einer gefährlichen
Illusion.
Gerade in einem von Interessen so durchtränkten Feld wie der Wirtschaft ist
jede Information über die »Realität« gefiltert und abhängig von Paradigmen.
Kellermann bewegt sich in dieser postmodernen Tradition von Foucault und anderen,
er dekonstruiert (auch wenn dieses Wort im Zweifel nie in diesem Buch auf taucht) den Diskurs der Ökonomie. Dabei verortet er sich selbst eher in einer
noch älteren Tradition: im Hegemoniemodell des italienischen Marxisten
Gramsci. Dieses abstrakte Modell verankert er in konkreten operativen Elementen,
die beschreiben, wie Diskurse organisiert sind und wie sich Macht und Interessen
in ihnen durchsetzen. Dieses Instrumentarium wird im ersten Kapitel auf
50 Seiten vorgestellt.
Der Gegenstand der Dekonstruktion ist die internationale Währungspolitik
der 1980er und 1990er Jahre. In dieser Periode vollzog sich ein Rollenwandel des
Internationalen Währungsfonds, der wichtigsten supranationalen Regulierungsinstanz
der globalen Finanzmärkte. Das klassische Aufgabenprofil des IWF war
mit dem Zusammenbruch des Bretton-Woods-Systems in den 1970er Jahren
weitgehend obsolet geworden. Gleichzeitig standen mit der Verschuldungskrise
der Entwicklungsländer in der Folge der Ölschocks und des waghalsigen Recyclings
der Petrodollars an arme Länder durch die Banken der reichen Länder neue
Aufgaben auf der Tagesordnung. Der IWF wurde zum Vermittler zwischen
Schuldnerländern und Gläubigern und zum Überwacher der Strukturanpassungsprogramme,
mit denen die verschuldeten Länder zurück zur Kreditwürdigkeit
geführt werden sollten. Diese Entwicklung bildet Kapitel 2, wo sie kurz umrissen
wird, ohne dem informierten Leser viel Neues zu bieten.
Den echten Mehrwert dieses Buches findet der Leser im dritten Abschnitt, in
dem Kellermann die diversen Denkschulen und Interessengruppen identifiziert
und in ihrem Wirken und ihrer Interaktion analysiert. Er wendet hier konsequent
und systematisch sein Handwerkszeug an und es gelingt ihm mit einer beeindruckenden
und klar strukturierten Detailfülle nachzuzeichnen, wie Interessen
versuchen, die Deutungshoheit über Phänomene zu gewinnen. Unterschiedliche
Interpretationen von Krisen, vor allem der Asienkrise von 1997/98, erlauben die
Begründung unterschiedlicher Politiken, hinter denen massive wirtschaftliche Interessen
stehen.
Im Detail kommt dieser Ansatz an zwei Fallbespielen zum Tragen: der Reform
des IWF (Kapitel 4) und der Debatte um ein internationales Insolvenzrecht für
Staaten (Kapitel 5). Kellermann zeigt, wie sich konservativ-liberale Interessen, die
eng mit der »community« der großen privaten Banken verbunden sind, letztlich
durchsetzen, indem sie geschickt Intellektuelle für sich mobilisieren und mit
Thinktanks, einflussreichen Medien und wichtigen politischen Fraktionen die
Agenda bestimmen.
Sprachlich ist das Buch etwas gewöhnungsbedürftig. »Laissez-Fairer« als ein
Substantiv, das die Vertreter liberaler Marktwirtschaft und minimaler Staatseingriffe
bezeichnet, hat den Rezensenten schon überrascht. Sätze wie: »Diese Kritik
richtet sich in erster Linie an dessen methodologischen Individualismus, exogene Interessenkonstitution und instrumentalistisches Institutionenverständnis. Ihr
Fokus ist die endogene Interessenformierung im Kontext strategischer Interaktionen,
weshalb sich konstruktivistische Ansätze auch vom Staatsbegriff des Neorealismus distanzieren.« (S. 30), könnten harmlosen Gemütern das Buch
schon auf Seite 30 aus der ohnmächtigen Hand gleiten lassen. Was schade wäre,
denn hinten wird es wirklich spannend, wenn man verstehen will, wie, von wem
und warum Realität gemacht wird.
Michael Dauderstädt,
Friedrich-Ebert-Stiftung Bonn
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