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Macht wird gemeinhin als Fähigkeit eines Akteurs definiert, einen anderen zu
einem Handeln zu bewegen, welches er anderenfalls unterlassen hätte. Diese
Fähigkeit, Einfluss auf das Handeln eines Akteurs auszuüben, kann sowohl in
Form von Zwang (»hard power«) als auch in Form von Überzeugung (»soft
power«) in Erscheinung treten. Da Macht erst in der Wechselwirkung von verschiedenen
Akteuren entsteht, ist sie zwangsläufig ein relationales Phänomen.
Der Machtbegriff beinhaltet also immer Beziehungen zwischen verschiedenen
Akteuren. In den internationalen Beziehungen sind dies vorwiegend Staaten,
aber zunehmend auch Organisationen.
Es sind insbesondere diese Akteure, die im Mittelpunkt des von Michael
Piazolo herausgegebenen Sammelbandes »Macht und Mächte in einer multipolaren
Welt« stehen. In den einzelnen Beiträgen wird auf die Macht ausgewählter
Staaten und Organisationen im internationalen System nach der Zeitenwende
der Jahre 1989/90 eingegangen. Dabei richtet sich der Blick insbesondere auf die
Beantwortung der zugrundeliegenden Kernfrage, ob die internationale Politik
nach dem Ende der Bipolarität unübersichtlicher geworden ist. Zunächst werden
in einem ersten Schritt der komplexe Machtbegriff, Modelle internationaler Ordnung
und neue Herausforderungen für die internationale Sicherheitspolitik
thematisiert. Nach Piazolo wird Macht nicht allein durch objektive Faktoren wie
das ökonomische und militärische Potenzial eines Staates sondern auch durch subjektive Faktoren bestimmt. Hierzu zählen der Wille und die Bereitschaft, dieses
Potenzial zur Unterfütterung einer grundlegenden Ordnungsidee auch tatsächlich
einzusetzen. Dieser »Wille zur Macht« bedarf laut Piazolo in hohem Maß
auch der internen Zustimmung. Folgerichtig werden in den sich anschließenden
Länderstudien auch die jeweiligen innerstaatlichen Strukturen untersucht. Hierbei
wird in einzelnen Aufsätzen die Stellung der USA, Russlands, Chinas, Japans,
Indiens, sowie erstaunlicherweise auch die der Europäischen Union als internationales,
beziehungsweise regionales Machtzentrum erörtert und das jeweilige
politische System, die wirtschaftliche und militärische Stärke sowie die Außenpolitik
der Staaten untersucht.
Wie bei einem Sammelband nicht anders zu erwarten, variieren die einzelnen
Abhandlungen und ihr Blick auf die Stellung der Länder in der multipolaren
Welt. So geraten bei einigen Länderberichten die Ausführungen zur jeweiligen
Innenpolitik der Staaten manchmal länger, als dies für einen Band zur internationalen
Politik notwendig erscheint. Hervorzuheben ist jedoch der Beitrag von
Stefan Fröhlich zu den USA als der »einzig verbliebenen Supermacht«, die der Autor
aus der beispiellosen Kombination von politischem Führungswillen, wirtschaftlichem
und militärischem Potenzial und kultureller Hegemonie Amerikas
ableitet. Die Frage nach einem eventuellen Andauern des »unipolaren Moments«
stellt er aber nicht. Obwohl der Machtbegriff in den Beiträgen ausgiebig behandelt
wird, gerät die Diskussion um die tatsächliche Existenz der im Titel des Sammelbandes
angesprochenen »multipolaren Welt« etwas kurz. Nimmt man mit
Blick auf die USA die Machtressourcen zum Maßstab, kann man eben auch zu
dem Ergebnis gelangen, dass die Welt nach Ende des Kalten Krieges gerade nicht
in eine multipolare sondern in eine unipolare Phase eingetreten ist.
Michael Piazolo misst interessanterweise auch der Europäischen Union einen
staatenähnlichen Status zu, denn seine Abhandlung zur EU als internationaler
Machtfaktor wurde bewusst in das Kapitel über regionale und internationale
Großmächte einbezogen. Diese Einteilung erscheint sehr gewagt. Piazolo rechtfertigt
sie mit einer seiner Meinung nach zunehmend als eigenständig anerkannten
EU-Außenpolitik und spricht von einer »derivativen Staatsgewalt« der EU, die
sich aus der Rechtssetzungsbefugnis der einzelnen Mitgliedsstaaten ableitet. Er
erkennt in der Folge allerdings an, dass die EU auf dem Feld der Gemeinsamen
Außen- und Sicherheitspolitik (GASP) dem Prinzip der Kooperation unterliegt
und daher eher einer internationalen Organisation ähnelt. Da die EU in ihrer derzeitigen
Verfasstheit auf dem Feld der GASP keine bundesstaatliche Struktur aufweist,
wäre es logischer gewesen, sie in das abschließende Kapitel zur Rolle der
internationalen Organisationen einzubeziehen.
Da Staaten nach wie vor die entscheidenden Akteure in den internationalen
Beziehungen sind, nehmen die einzelnen Länderstudien folgerichtig den größten
Raum im vorliegenden Sammelband ein. Es ist jedoch ebenso bedeutend, die
Rolle von internationalen Organisationen über ihr bloßes Dasein als Foren zwischenstaatlicher Verhandlungen hinaus zu beleuchten. Ein Kapitel über die
Macht der internationalen Organisationen und deren Stellung im internationalen
System rundet den Sammelband konsequenterweise ab. Hierbei wird insbesondere
auf die NATO wie auch auf die Vereinten Nationen eingegangen. Mit Blick
auf die von Piazolo einleitend analysierten objektiven und subjektiven Faktoren
von Macht stellt sich die Frage, inwieweit bei den internationalen Organisationen
die militärisch leistungsfähige Organisation durch eine politische Grundlage
(NATO), beziehungsweise der »Wille zur Macht« durch die notwendigen Ressourcen
(UNO) untermauert werden.
Insgesamt ist der von Piazolo herausgegebene Sammelband als tour d’horizon
durch die internationale Politik durchaus sehr lesenswert und dürfte über das
wissenschaftliche Fachpublikum hinaus auch eine breitere Öffentlichkeit ansprechen.
Der einleitend gestellten Frage, ob die internationale Politik unübersichtlicher
geworden ist oder einfach zu ihrer jahrhundertealten normalen Unordnung
zurückgekehrt ist, wird allerdings nicht immer konsequent nachgegangen. Manche
Abhandlungen sind zu deskriptiv und zu wenig analytisch. So zum Beispiel
Piazolos Überblick über die Vielfalt der internationalen Organisationen. Seine
Ausführungen zur Macht als Schlüsselbegriff der internationalen Ordnung sind
hingegen überzeugend. Gleiches gilt auch für die meisten Länderstudien. Ebenso
ist der Aufbau des Bandes, mit Ausnahme der Einordnung der EU in das Kapitel
zu den Länderstudien, weitgehend schlüssig und kompakt.
Beschäftigt sich der von Piazolo herausgegebene Sammelband mit der Wirkung
von Staaten und Organisationen auf das internationale System, so wendet
Andrea Liese in »Staaten am Pranger« die Blickrichtung und untersucht, inwieweit
internationale Regime Einfluss auf die internen Strukturen von Staaten haben.
Am Beispiel der Menschenrechtspolitik analysiert sie in dieser überarbeiteten
Fassung ihrer Dissertationsschrift die Auswirkungen des Anprangerns staatlichen
Fehlverhaltens durch Nichtregierungsorganisationen (NGOs) und Kontrollorgane
der UNO und des Europarats auf das Verhalten von liberalen, beziehungsweise
defekten Demokratien. Mit dem Ziel, die Diskrepanz zwischen der Anerkennung
einer Norm und ihrer tatsächlichen Beachtung zu erklären, entwirft Liese in einem
ersten Schritt ein Theoriemodell, das versucht, konstruktivistische Ansätze
mit denen des rationalistischen Institutionalismus zu verbinden. In einem zweiten
Schritt wird der Bogen zur empirischen Analyse geschlagen. Mit Hilfe des
Theoriemodells untersucht Liese die Auswirkungen des Anprangerns auf die innerstaatliche
Menschenrechtspolitik in den »blockierten Demokratien« Ägyptens
und der Türkei einerseits, sowie, als Beispiel für liberale Demokratien, auf die
Menschenrechtspolitik Großbritanniens, Nordirlands und Israels.
Als theoretisches Fundament dienen Liese dabei sowohl Annahmen der konstruktivistischen
Normwirkungsforschung im Bezug auf die globale Geltung von
Menschenrechtsnormen, wie auch Annahmen des rationalistischen Institutionalismus
mit Blick auf mögliche Verfahren zur Förderung der Normachtung. Während Konstruktivisten in erster Linie dazu in der Lage sind zu erklären, warum es
überhaupt zu einer Anerkennung von Menschenrechtsnormen kommt, billigt die
Autorin dem Rationalismus eine größere Erklärungskraft für das Fortbestehen
von Menschenrechtsverletzungen zu. Die Synthese aus konstruktivistischen und
rationalistischen Annahmen ist für Liese daher besonders relevant, da die Anerkennung
von Normen als notwendige Bedingung für deren Beachtung anzusehen
ist.
In den Länderstudien geht die Autorin anschließend darauf ein, inwieweit die
Reaktionsweisen der Staaten am Pranger vom Grad der Anerkennung einer Norm
sowie vom Herrschaftssystem eines Staates abhängen. Anhand des Beispiels des
internationalen Verbots von Folter und Misshandlung untersucht Liese die eingetretenen,
beziehungsweise ausgebliebenen Veränderungen in der innerstaatlichen
Menschenrechtspolitik in Ägypten, der Türkei, Israel und Großbritannien in den
1990er Jahren. Das Folterverbot als klassisches Abwehrrecht, welches das Individuum
gegenüber dem Staat besitzt, wurde nicht zuletzt deshalb ausgewählt, weil
es einerseits als sogenanntes »Recht der ersten Generation« heute als global etablierte
Rechtsnorm betrachtet werden kann, andererseits die Lücke zwischen
Normanerkennung und Normachtung hierbei besonders weit auseinander klafft.
Die Auswahl der Fallstudien ergibt sich durch das Herrschaftssystem und den
unterschiedlichen Grad der Unterwerfung unter internationale Kontrollorgane.
Als liberale Demokratien unterscheiden sich Großbritannien und Israel beispielsweise
hinsichtlich der Anerkennung von Kontrollmechanismen, die bei Großbritannien
durch Ratifikation der Europäischen Menschenrechtskonvention und
Anerkennung des Europäischen Menschenrechtsgerichtshof weit stärker ausgeprägt
ist als bei Israel. Ähnlich verhält es sich bei den »blockierten Demokratien« Türkei und Ägypten. Als Mitgliedsland des Europarates und mit der Perspektive
auf Beitritt zur Europäischen Union unterliegt die Türkei einer weit
stärkeren Kontrolle als Ägypten. Liese gelangt zu dem Befund, dass das Anprangern
staatlichen Fehlverhaltens vor allem dort am erfolgreichsten ist, wo ein liberales
politisches System und stark ausgebaute Verfahren der Rechtsauslegung und
Tatsachenermittlung zusammengehen. Dadurch, so Liese, fällt es Staaten weit
schwerer, Gegenstrategien zu entwickeln und sich der Legitimationskontrolle zu
entziehen. Mit Blick auf die zu Beginn skizzierten konstruktivistischen und rationalistischen
Ansätze kommt Liese zu dem Schluss, dass die aus dem Konstruktivismus
hervorgehende Logik der Angemessenheit, welche normgeleitetes Verhalten
bedingt, hinter der Logik des Zweckrationalismus, also der strategischen
Durchsetzung von Interessen zur Nutzenmaximierung, beim Verhalten der
Staaten zurücktritt. Regelgeleitetes Verhalten ist demnach das Ergebnis einer
Kosten-Nutzen-Rechnung. Insbesondere bei Staaten die sich mit terroristischen
Bewegungen konfrontiert sehen, konstatiert Liese eine starke Tendenz zu zweckrationalem,
die Sicherheit des Staates gegenüber den Rechten des Individuums
betonendem Verhalten. Mit Blick auf den weltweiten Kampf gegen den transnational agierenden Terrorismus, auf den die Autorin in ihren Schlussbetrachtungen
leider nicht mehr eingeht, lassen Lieses Ergebnisse eher den Fortbestand, ja vielleicht
sogar eine Vergrößerung der Lücke zwischen Normanerkennung und tatsächlicher
Normachtung befürchten.
Auch wenn Argumentation und Ergebnisse der Autorin überzeugen, so wird
das Buch kaum in der Lage sein, über einen mit dem Thema der Menschenrechtspolitik
befassten Expertenkreis hinaus eine breitere Öffentlichkeit anzusprechen.
Dafür verlangt Lieses Arbeit zu viele Vorkenntnisse, sowohl auf dem Feld politikwissenschaftlicher
Theorien, als auch in der Thematik der Menschenrechtspolitik.
Dies muss bei einer aus einer Dissertationsschrift hervorgegangenen Arbeit jedoch
nicht unbedingt als Kritik verstanden werden. Für das Fachpublikum vermag
Liese sicherlich neue Perspektiven zu erschließen, für den weniger fachkundigen
Leser dürfte der Elfenbeinturm der Politikwissenschaft jedoch verschlossen
bleiben.
Tim Maschuw, Bonn
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