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Politik und Gesellschaft Online International Politics and Society 1/1998 |
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Burkard Schmitt Europäische Integration und Atomwaffen Vorläufige Fassung / Preliminary version Während des Kalten Krieges war das Atom gleichzeitig ein entscheidender Faktor zur Strukturierung des internationalen Systems und der zentrale Bezugspunkt für die Militärstrategien beider Blöcke. Kernwaffen erschienen als höchste Insignien der Macht und als unverzichtbare Instrumente der Kriegsverhinderung. Mit der Auflösung des Warschauer Paktes und der Implosion der Sowjetunion hat sich dies radikal geändert. Ohne massive Bedrohung der vitalen Interessen haben Kernwaffen ihre unmittelbare militärische Funktion eingebüßt. Auch politisch wurde das Atom drastisch entwertet; eine Großmacht definiert sich heute weniger über den nuklearen Status als über die ökonomische Leistungsfähigkeit. Gleichzeitig sind mit dem Zerfall der Sowjetunion und dem zweiten Golfkrieg die Gefahren nuklearer Proliferation ins Zentrum der internationalen Aufmerksamkeit gerückt. Auf die nukleare Ordnung des Kalten Krieges drohte die nukleare Anarchie der neuen Welt(un)ordnung zu folgen. Eine fortschreitende Delegitimierung von Kernwaffen war die Folge. Angesichts der sicherheitspolitischen Veränderungen seit dem Fall der Mauer kreiste die Nukleare Frage in den letzten Jahren zwangsläufig um Nichtverbreitung und Abrüstung. Die Bilanz ist dabei gemischt. Mit Südamerika, Afrika, dem Südpazifik und Südostasien sind weite Teile der südlichen Hemisphäre heute kernwaffenfreie Zonen. Die offiziellen Nuklearmächte haben ihre Arsenale zum Teil erheblich reduziert und sich anläßlich der Verlängerung des Non-Proliferationsvertrages (NPT) zu weiteren Abrüstungsschritten verpflichtet. Dennoch ist eine kernwaffenfreie Welt nach wie vor in weiter Ferne: Die russische Duma verweigert noch immer die Ratifizierung des START-II-Vertrages, und selbst wenn dieser eines Tages umgesetzt sein sollte, werden die USA und Rußland beide noch immer über 3500 einsatzfähige strategische Sprengköpfe verfügen und mindestens die gleiche Anzahl als strategische Reserve behalten. Für die taktischen Nuklearwaffen bestehen bislang keinerlei vertragliche Vereinbarungen. Gleichzeitig hat Moskau anders als der Westen die Rolle des Nuklearen in seiner Verteidigungsdoktrin nicht verringert, sondern erhöht. Die fünfte offizielle Nuklearmacht, die Volksrepublik China, ist dem Abrüstungsprozeß ganz ferngeblieben und ist im Gegenteil dabei, ihr Nukleararsenal auszubauen. Dennoch ist abzusehen, daß die Nuklearmächte insbesondere auf den NPT-Folgekonferenzen weiter unter Rechtfertigungszwang geraten werden. Nichtregierungsorganisationen (NGOs) und die kernwaffenfeindlichen Staaten werden weiter auf eine vollständige nukleare Abrüstung drängen und in den UNO-Foren wirkungsvolle Verstärker finden. Während sich Rußland, China und die inoffiziellen Kernwaffenstaaten Israel, Indien und Pakistan von derartigen Forderungen unberührt zeigen, gilt im Westen eine kernwaffenfreie Welt heute nicht mehr nur als Chimäre. Anders als während des Kalten Krieges ist in den USA und in Europa auch der nukleare Konsens der politischen und militärischen Eliten brüchig geworden. Die Kommission von Canberra ist nur ein Beispiel für die lange Liste jener Entscheidungsträger, die vom Befürworter nuklearer Abschreckung zum Gegner konvertierten. Vor diesem Hintergrund ist die französische Initiative einer konzertierten europäischen Abschreckung international vielfach mit Irritation und Ablehnung aufgenommen worden. Viele Beobachter vermuteten ein bloßes Manöver zur Rechtfertigung der Nukleartests im Südpazifik und übersahen dabei, daß die Diskussion um eine Europäisierung der force de dissuasion in Frankreich schon Anfang der neunziger Jahre begann (und nach dem Ende der Versuche weiterlief). Diese Kontinuität zeigt bereits, daß das Thema einer europäischen Abschreckung in einem weiteren Kontext steht. Kernwaffen dienten auch vor dem Fall der Mauer nicht nur zur Abschreckung
einer äußeren Bedrohung. Sie garantierten zugleich die absolute
Vormachtstellung der Vereinigten Staaten im westlichen Bündnis und
symbolisierten die nationale Souveränität der Nuklearmächte.
Heute durchlaufen sowohl die Allianz als auch das politische Europa einen
tiefgreifenden Wandel, der beides in Frage stellt. Das transatlantische
Verhältnis steht ebenso wie die Rolle des Nationalstaats in Europa
vor einer Neudefinition. Eben weil Kernwaffen die innere Struktur des Bündnisses
so entscheidend bestimmten, können diese Wandlungen die nukleare Frage
nicht unberührt lassen. Die Diskussion um eine europäische Abschreckung
ist unter diesem Aspekt eine logische Folge der Ereignisse seit 1989. Solange
der Westen auf eine nukleare Rückversicherung nicht verzichten will,
muß die Debatte um eine europäische Verteidigungsidentität
zwangsläufig eine nukleare Dimension erhalten. Kernwaffen in Europa Nirgends hat das Ende des Kalten Krieges die strategische und politische Landkarte so sehr verändert wie in Europa. Die taktischen Atomwaffen der ehemaligen Sowjetarmee sind nach Rußland zurückgezogen worden, die NATO hat 9/10 ihres Nukleararsenals abgebaut. Ein weites nukleares Niemandsland erstreckt sich vom Nordkap bis Albanien und von der Elbe bis an die russische Grenze. An die Stelle der massiven militärischen Bedrohung durch einen klar erkennbaren Gegner sind diffuse Sicherheitsrisiken getreten, denen sich mit Kernwaffen kaum begegnen läßt. Auf absehbare Zeit erscheint weder im Osten noch im Süden Europas eine bewaffnete Auseinandersetzung denkbar, die den Einsatz nuklearer Mittel rechtfertigen könnte. Rußland wird selbst bei einem Scheitern des Demokratisierungsprozesses aufgrund seiner wirtschaftlichen Schwierigkeiten auf Jahrzehnte hinaus nicht in der Lage sein, eine massive konventionelle Bedrohung aufzubauen, und auch aus der südlichen Hemisphäre ist eine existentielle Gefährdung Europas derzeit nicht erkennbar. Die Möglichkeit, daß sich westliche Truppen eines Tages im Rahmen eines out-of-area-Einsatzes mit ABC-Waffen konfrontiert sehen, ist zwar nicht auszuschließen, doch wären selbst dann nukleare Schläge schwer vorstellbar. Die Atlantische Allianz hat ihr Dispositiv den strategischen und politischen Veränderungen angepaßt und die Rolle des Nuklearen drastisch reduziert. Die Nuklearstreitkräfte wurden umstrukturiert und konzeptionell wie materiell von den konventionellen Streitkräften getrennt. Die Nukleardoktrine sind seit dem Wegfall einer massiven Bedrohung zwangsläufig vager geworden und beschränken sich auf einige wenige Kernpunkte. Dennoch ist erkennbar, daß sich die USA, Großbritannien und Frankreich heute anders als während des Kalten Krieges über die Grundprinzipien einig sind. Alle drei sehen Kernwaffen vor allem als politische Instrumente, deren Aufgabe sich in Europa darauf beschränkt, das noch vorhandene russische Nukleararsenal auszubalancieren und eine zusätzliche Option zur Abschreckung möglicher ABC-Proliferanten zu schaffen. Der allgemeine Trend geht hin zu einer Minimalabschreckung, die sich auf ein reduziertes, dabei aber flexibel einsetzbares Kernwaffenpotential stützt. In seiner Grundanlage ist das westliche Abschreckungssystem erhalten geblieben. Das kollektive Nuklearpotential der NATO setzt sich nach wie vor aus amerikanischen und britischen Kernwaffen zusammen. Offiziell befinden sich noch einige hundert amerikanische Atombomben des Typs B 61 in Westeuropa, mit denen im Ernstfall Flugzeuge der US Air Force und/oder der europäischen Luftwaffen bestückt würden. Diese substrategischen Kernwaffen erfüllen keine unmittelbare militärische Funktion, sondern dienen vor allem als « Platzhalter » für Nuklearsysteme, die im Krisenfall aus den USA nach Europa verlagert werden könnten. Ihre eigentliche Funktion ist politisch: Sie symbolisieren die nukleare Solidarität zwischen den Bündnispartnern, sichern die strategische Koppelung Westeuropas an die USA und stützen den amerikanischen Einfluß in der NATO. Wieviele amerikanische Atomwaffen tatsächlich wo genau stationiert sind, bleibt geheim. Manche Beobachter gehen sogar davon aus, daß mittlerweile auch die B 61 vollständig in die USA zurückgezogen worden sind. Großbritannien, Deutschland, Italien, Belgien, die Niederlande, Griechenland und die Türkei verfügen zumindest über die Infrastruktur, um amerikanische Kernwaffen aufzunehmen. Großbritannien wird künftig auf luftgestützte Nuklearsysteme verzichten und als einzige Atommacht nurmehr über eine seegestützte Komponente verfügen. Bis Anfang des kommenden Jahrtausends wird London 4 neue U-Boote der Vanguard-Klasse anschaffen. Diese sind mit Trident-Raketen bestückt, die gegenüber ihren Polaris-Vorgängern eine größere Reichweite haben, wesentlich präziser und flexibler einsetzbar sind. Aufgrund dieser Charakteristika kann die Trident im britischen Nuklearkonzept strategische und substrategische Funktionen erfüllen. Anders als ursprünglich geplant wird jedes der 4 U-Boote nicht 128, sondern höchstens 96 Sprengköpfe an Bord tragen. Auch die modernisierte U-Boot-Flotte bleibt der NATO assigniert und sichert Großbritannien einen entscheidenden Einfluß auf die Nuklearpolitik des Bündnisses. Die britische Nukleardoktrin steht dadurch in Symbiose mit denen der NATO und der USA. Dennoch betont London stets die nationale Unabhängigkeit und Eigenständigkeit seiner Nuklearstreitkräfte. Die nichtnuklearen Verbündeten haben über die integrierte Militärorganisation verschiedene Môglichkeiten, an den nuklearen Entscheidungen der NATO mitzuwirken. Zum einen sind europäische Offiziere, vor allem Deutsche (und Briten), bei SHAPE und im NATO-Hauptquartier an der Ausarbeitung der militärischen Planungen für Nukleareinsätze beteiligt. Zum anderen bietet die Nuclear Planning Group (NPG) den Bündnismitgliedern die Möglichkeit, unter amerikanischer Federführung die politischen und strategischen Aspekte nuklearer Rüstung zu erörtern. Nachgeordnete Gremien wie die High Level Group (HLG) und die Senior Level Weapons Protection Group (SLWPG) unterstützen die NPG. All diese Gremien haben ihre Aktivitäten nach dem Ende des Kalten Krieges drastisch reduziert. Dagegen wurden 1994 mit der Senior Politico-Military Group on Proliferation (SGP) und der Senior Defense Group on Proliferation (DGP) zwei neue Instanzen ins Leben gerufen, die sich mit den politischen bzw. den militärischen Aspekten der Proliferation befassen. Die SGP und die DGP stehen außerhalb der integrierten Struktur und rekrutieren ihr Personal nicht aus dem internationalen Stab. Die zweite westeuropäische Atommacht, Frankreich, hat ihre Kernwaffen nach wie vor nicht der NATO assigniert. Sie nimmt auch am nuklearen Planungs- und Konsultationsprozeß nicht teil und ist lediglich in der SGP sowie der DGP als vollwertiges Mitglied vertreten. Unter Jacques Chirac wurde das französische Nukleararsenal erheblich reduziert. Nach der ersatzlosen Streichung der Hadès-Kurzstreckenraketen und der S 3D Mittelstreckenraketen wird sich die force de disuasion künftig nur noch aus einer see- und einer luftgestützten Komponente zusammensetzen. Das Streitkräftemodell von 1996 sieht bis 2015 die Anschaffung 4 neuer U-Boote der Triomphant-Klasse vor. Jedes dieser Boote trägt 16 M 45 Mittelstreckenraketen mit jeweils 6 TN 75 Sprenköpfen. Ab 2010 werden diese durch die leistungsfähigere M 51 Rakete und einen verbesserten Sprengkopf ersetzt. Die luftgestützte Komponente umfaßt heute 45 Mirage 2000N und 30 Super Etendards der Marine, die jeweils einen nuklearen Marschflugkörper (ASMP) tragen. Ab der Jahrtausenwende werden diese Flugzeuge schrittweise durch die Rafale ersetzt, ab 2008 wird eine verbesserte Generation von Marschflugkörpern eingeführt (ASMP-Plus). Die westliche Kernwaffenpolitik steht heute vor verschiedenen Herausforderungen. Offiziell herrscht zwischen den Allianzmitgliedern Konsens darüber, daß Kernwaffen weiterhin eine wichtige Rolle für die gemeinsame Sicherheit spielen werden. Dieser Konsens steht aber auf tönernen Füßen. Wie die französischen Nukleartests 1995 gezeigt haben, überwiegt in vielen europäischen Ländern eine latent antinukleare Grundstimmung, die leicht in offenen Protest umschlagen kann. Ohne erkennbare massive Bedrohung wachsen in der Bevölkerung und in großen Teilen der politischen Klasse Zweifel am Sinn und Zweck von Kernwaffen. Zugleich geht die « nukleare Kultur » der nichtnuklearen Verbündeten schrittweise verloren, weil die Konsultationsgremien der NATO mangels Entscheidungs- und Planungsbedarf nur noch pro forma existieren und eine nukleare Mitwirkung der Europäer kaum mehr stattfindet. Der brüchige Nuklearkonsens ist umso bedenklicher, als eine Diskussion über die künftige Rolle von Kernwaffen noch aussteht. Sollbruchstellen drohen unter anderem durch die amerikanische Neigung, die Bedeutung des Nuklearen weiter zu reduzieren. Die eigene konventionelle Stärke spielt dabei ebenso eine Rolle wie die geographische Lage. Die strategische Gemeinde in den USA stellt heute offen Grundelemente der westlichen Nuklearpolitik wie das Prinzip der erweiterten Abschreckung, die Option des nuklearen Ersteinsatzes und den Verbleib amerikanischer Atomwaffen in Europa in Frage. Inwieweit diese Tendenzen die Regierungspolitik beeinflussen werden, bleibt abzuwarten. Unklar ist auch die Rolle, die Kernwaffen gegenüber anderen Massenvernichtungswaffen spielen können. Im Zusammenhang mit der Verlängerung des NPT haben sich die offiziellen Kernwaffenmächte in unilateralen Erklärungen verpflichtet, nichtnukleare Staaten nicht mit Atomwaffen zu bedrohen. Der internationale Druck wächst, diese sogenannten negativen Sicherheitsgarantien in einen multilateralen, völkerrechtlich bindenden Vertrag zu kleiden. Würde dies die Möglichkeit ausschließen, den Einsatz biologischer und chemischer Waffen durch die Androhung nuklearer Vergeltung abzuschrecken? Schreckt das Atom nur noch das Atom ab? Von den Europäern haben sich bislang nur Briten und Franzosen eingehend mit der Bedeutung der nuklearen Abschreckung gegenüber neuen Sicherheitsrisiken befaßt. Die anderen Europäer zeigen sich auch hier wenig engagiert, obwohl sich die meisten potentiellen ABC-Proliferanten in ihrem eigenen geographischen Umfeld befinden. Politisch stellen Kernwaffen die Allianz vor eine externe und eine interne
Herausforderung: Zum einen müssen die Bündnispartner gegenüber
Rußland gleichzeitig ein kooperatives Verhältnis schaffen und
eine nukleare Rückversicherung gegen die innen- und außenpolitischen
Unwägbarkeiten des Riesenreiches erhalten. Dabei wird die Nukleargarantie
der USA auf eine umso größere Belastungsprobe gestellt, je weiter
sich die Allianz nach Osten ausweitet. Zum anderen stellt sich die Frage,
ob und wie die Nuklearkomponente in die innere Neugestaltung der Atlantischen
Allianz einbezogen werden soll. Dies beinhaltet eine transatlantische und
eine innereuropäische Dimension: Gilt das propagierte Ziel, die Allianz
auf zwei Säulen zu stellen, auch in nuklearer Hinsicht? Kann, soll
oder muß dann eine europäische Verteidigungsidentität eine
nukleare Komponente beinhalten? Europa - ein nuklearer Akteur? Während des Kalten Krieges richtete sich die gesamte Nuklearpolitik der Allianz einseitig an Washington aus. Zwar gab es gegen Ende der fünfziger Jahre als Reaktion auf die Zweifel an der amerikanischen Nukleargarantie Ansätze einer europäischen Kernwaffenkooperation, diese versandeten aber rasch. Westeuropa war viel zu schwach und uneins, als daß es angesichts der sowjetischen Bedrohung mehr hätte sein können als ein strategisches Anhängsel der Supermacht USA. Gleichzeitig lehnte Washington eine europäische Zusammenarbeit auf dem sensiblen Gebiet nuklearer Abschreckung als inakzeptablen Verstoß gegen die Bündnisdisziplin ab. Was den Europäern blieb, war der Versuch, über die NATO Einfluß auf die nuklearen Planungen der USA zu nehmen. Lediglich Frankreich ging eigene Wege und verfolgte seit 1966 im Schatten der amerikanischen erweiterten Abschreckung einen semi-autonomen Kurs. Auch heute noch wird nukleare Abschreckung in Europa nicht in europäischen Gremien, sondern ausschließlich in der NATO oder bilateral thematisiert. Die Europäische Union (EU) befaßt sich lediglich mit der zivilen Nutzung des Atoms und den politischen Aspekten der Non-Proliferation. Die Westeuropäische Union (WEU) beschränkt sich auf den konventionellen Bereich und hat sich bislang höchstens in gelegentlichen Kommuniqués zur Abschreckung im Rahmen der Atlantischen Allianz bekannt. Dennoch wird seit Beginn der neunziger Jahre (wieder) verstärkt über eine europäische Abschreckung diskutiert. Anders als in den fünfziger und sechziger Jahren sind derartige Überlegungen heute vor allem politisch motiviert:
Die Diskussion über eine Europäisierung der britischen und französischen Nuklearstreitkräfte hat erst begonnen, und entsprechend vage sind die Vorstellungen darüber, wie eine europäische Abschreckung aussehen könnte. Die Kooperationsmöglichkeiten sind zumindest in der Theorie ebenso vielfältig wie die Bereiche, die zur Kernwaffenpolitik gehören: Jenseits der politischen Abstimmung in Abrüstungs- und Nonproliferationsfragen kann sich die Zusammenarbeit beziehen auf: die Herstellung der Trägersysteme und der Kernwaffen, die Ausarbeitung einer politischen Nukleardoktrin und militärischer Einsatzpläne, die Entscheidungsfindung im Krisenfall und die Verfügungsgewalt über die Waffen selbst. Je nachdem, in welchem Bereich welche Form der Zusammenarbeit gewählt wird, ergeben sich unterschiedliche Modelle einer kollektiven Abschreckung. Bruno Tertrais beispielsweise unterscheidet für Europa vier mögliche Typen, die er zugleich als zeitlich aufeinanderfolgende Stufen ansieht:
Diese Modelle haben nur illustrativen Charakter. Sie zeigen aber, daß eine europäische Abschreckung im weiteren Sinn des Wortes nicht unbedingt eine föderative Entscheidungsstruktur voraussetzt. Abgestufte Formen der Zusammenarbeit sind auch auf zwischenstaatlicher Ebene möglich. Großbritannien und Frankreich sind sich allerdings einig, daß eine europäische Abschreckung an vier Bedingungen geknüpft ist:
Die Entwicklung einer europäischen Abschreckung bedingt damit ein
hohes Maß an Übereinstimmung zwischen den Europäern und
die Abstimmung mit den Amerikanern. Die USA haben sich bislang nicht offiziell
zu der Idee geäußert; solange von europäischer Seite keine
gemeinsame Initiative zu erwarten ist, besteht für Washington dazu
auch kein Anlaß. Allerdings liegt es nahe, daß die Vereinigten
Staaten eine europäische Zusammenarbeit nur akzeptieren würden,
wenn diese an die NATO angebunden wäre. Unter den Europäern wiederum
ist die Idee höchst umstritten. Wie sehr die Vorstellungen auseinandergehen,
zeigt das bisherige Schicksal der französischen Idee einer « dissuasion
concertée ». Die « konzertierte Abschreckung » Laut der offiziellen Nukleardoktrin schützt die force de dissuasion die territoriale Unversehrtheit und die vitalen Interessen Frankreichs. Paris hat diese vitalen Interessen auch während des Kalten Krieges nie definiert oder geographisch eingegrenzt. Der potentielle Agressor sollte im Unklaren bleiben, an welchem Punkt er den französischen Nuklearschlag auslösen würde. Durch diese Ungewißheit kam - so die offizielle Deutung - die bloße Existenz des nationalen Arsenals der Sicherheit ganz Westeuropas zugute. Frankreich hat allerdings stets abgelehnt, eine Verpflichtung einzugehen, den Verbündeten im Ernstfall mit nuklearen Mitteln beizustehen. Auch bei der Formulierung der Nukleardoktrin wurden die Interessen der Partner nicht formell miteinbezogen. Ebensowenig kam eine Mitsprache bei den französischen Einsatzplanungen in Frage. Diese nationale Interpretation nuklearer Abschreckung geht zurück auf die politische und strategische Isolation, in der sich Paris Mitte der sechziger Jahre befand: Frankreich lehnte damals als einziges Bündnismitglied gleichermaßen die Struktur der Atlantischen Allianz wie die « flexible response »-Strategie der NATO ab. Unter diesen Bedingungen schien die Semi-Autonomie die einzige Möglichkeit, eine politische Sonderstellung zu erreichen und ein kontinentaleuropäisches Korrektiv in die amerikanisch ausgerichtete Nuklearstrategie der Allianz einzubauen. Die französische Nukleardoktrin der « dissuasion du faible au fort » war daher in bewußtem Gegensatz zu ihrem NATO-Pendant formuliert. Zwar blieb das tatsächliche Maß an nationaler Autonomie weit hinter dem sorgsam gepflegten Mythos zurück, weil die französische Abschreckung stets im Zusammenspiel mit der erweiterten amerikanischen Abschreckung funktionierte und im Ernstfall zweifellos eine Abstimmung mit dem alliierten Oberkommando stattgefunden hätte. Dennoch behielten die französischen Atomwaffen eine eigenständige Rolle und waren nicht in die NATO-Planungen integriert. Im Zuge einer allgemeinen Flexibilisierung seiner Bündnispolitik hat Frankreich in den letzten Jahren eine Vorreiterrolle in der Diskussion über eine europäische Abschreckung übernommen. Bis 1993 plädierte Paris für den Aufbau europäischer Verteidigungsstrukturen außerhalb der NATO. Nachdem sich dieser Weg als unrealistisch erwiesen hatte, leitete die bürgerliche Regierung Balladur einen Annäherungsprozeß an die NATO ein, der sich nach der Wahl Jacques Chiracs 1995 noch verstärkte. Beide Ansätze zielten jeweils auf die Entwicklung einer eigenständigen europäischen Verteidigungsidentität und beinhalteten eine Öffnung der eigenen Kernwaffenpolitik. Symbol dieser neuartigen Flexibilität wurde die Idee einer konzertierten Abschreckung. Anfang 1992, kurz nach der Unterzeichnung des Maastricht-Vertrages, stellte François Mitterrand mit Blick auf die gemeinsame Außen- und Sicherheitspolitik (GASP) im Rahmen der EU erstmals öffentlich die Frage nach einer europäischen Nukleardoktrin. Schon wenige Wochen später präsentierte das französische Verteidigungsministerium verschiedene Modelle nuklearer Zusammenarbeit und benutzte dabei erstmals den Begriff « konzertierte Abschreckung ». Nachdem diese Avancen bei den europäischen Partnern auf völliges Desinteresse gestoßen waren, wurde das Thema zunächst hintangestellt. Im Verteidigungsweißbuch von 1994 wird eine europäische Abschreckung zwar erwähnt, aber als langfristige Perspektive dargestellt. Anfang 1995 griffen Jacques Chirac und Alain Juppé die Idee einer « dissuasion concertée » im Vorfeld der französischen Präsidentschaftswahlen wieder auf. Die allgemeine Empörung über die Nuklearversuche hat der Diskussion dann weiteren Auftrieb gegeben. Heute sind sich in Frankreich alle großen Parteien darin einig, daß es in Zukunft eine Verbindung zwischen der force de dissuasion und einer europäischen Verteidigungsidentität geben muß. Wie diese Verbindung aussehen soll, bleibt bislang vage. Im September 1995 stellte der damalige Ministerpräsident Alain Juppé in einer vielbeachteten Rede klar, daß es bei der konzertierten Abschreckung weder um eine einseitige Ausdehnung des französischen Nuklearschirms, noch um eine Teilung der nuklearen Verfügungsgewalt gehe. Auch ziele die Idee keineswegs darauf, die amerikanische Nukleargarantie zu ersetzen oder Westeuropa strategisch von den USA abzukoppeln. Vielmehr wolle Frankreich seiner Nukleardoktrin eine « kollektive Dimension » geben und mit den wichtigsten Partnern einen « gleichberechtigten Dialog » über nukleare Fragen führen. Der Begriff einer konzertierten Abschreckung steht damit weniger für einen bestimmten Endzustand als für einen allmählichen Wandel der gegenwärtigen Verhältnisse. Er bedeutet eher einen politischen Prozeß als ein vorgefertigtes Projekt. Frankreich will die Kernwaffenfrage in den europäischen Einigungsprozeß einbeziehen und gleichzeitig verhindern, daß die Debatte über die Zukunft des Nuklearen eine einseitig atlantische Dimension erhält. Die Konzertation ist gewissermaßen als unterste Stufe einer europäischen Abschreckung gedacht. Wann es darüber hinaus zwischen wem zu welcher Form der Zusammenarbeit kommen soll, bleibt zunächst offen und hängt maßgeblich von der künftigen Richtung des europäischen Einigungsprozesses und der Reform der Atlantischen Allianz ab. Diese progressive Herangehensweise entspricht der Sensibilität des Themas ebenso wie den machtpolitischen Möglichkeiten Frankreichs: Eine Ausdehnung des französischen Nuklearschirms würde zwar nicht zwangsläufig die Stationierung von Atomwaffen auf dem Territorium der Partner bedingen, sehr wohl aber deren Zustimmung und die Einrichtung eines ständigen Konsultationsmechanismus voraussetzen. Eine erweiterte französische Abschreckung könnte daher allenfalls das Ergebnis einer europäischen Konzertierung sein. Die USA durch einen Anschlag auf den amerikanischen Nuklearschirm aus Europa zu verdrängen, liegt schon deshalb nicht im französischen Interesse, weil eine glaubwürdige Abschreckung für die gesamte EU das Zusammenspiel mit den britischen und den amerikanischen Nuklearstreitkräften braucht. In Paris ist man sich auch bewußt darüber, daß eine europäische Zusammenarbeit keine Kopie der NATO-Kooperation sein kann; Frankreich ist keine Supermacht wie die USA und besitzt keinen machtpolitischen Vorsprung vor Großbritannien oder Deutschland. Die Zusammenarbeit zwischen Europäern muß daher auf gleichberechtigter(er) Basis stattfinden, auch wenn die Unterschiede zwischen Nuklear- und Nichtnuklearstaaten auf absehbare Zeit bleiben werden. Solange es kein supranationales Europa und keine zentrale Entscheidungsinstanz gibt, ist an eine gemeinsame Verfügungsgewalt jedenfalls nicht zu denken. Beides ist heute schwer vorstellbar und liegt bestenfalls noch in weiter Ferne. Die Idee einer konzertierten Abschreckung ist die französische Konsequenz aus der Einsicht, daß sich eine strikt nationale Lesart der nuklearen Abschreckung in Europa überlebt hat. Es ist im Grunde undenkbar, daß etwa eine existentielle Bedrohung Deutschlands nicht als Gefährdung der vitalen französischen Interessen gewertet würde. Umgekehrt ist es kaum vorstellbar, daß Frankreich seine wichtigsten europäischen Partner nicht konsultieren würde, wenn eine Krise eskalierte und der Einsatz nuklearer Waffen denkbar würde. Zudem verspricht Kooperationsbereitschaft im Kernwaffenbereich heute politisch mehr Vorteile als die selbstauferlegte Isolation des Kalten Krieges:
Die Idee einer konzertierten Abschreckung ist demnach eine logische
Konsequenz aus den strategischen und politischen Herausforderungen, vor
denen die Nuklearmacht Frankreich heute steht. Sie ist mehr als ein taktisches
Manöver, denn es entspricht durchaus französischen Europavorstellungen,
der europäischen Verteidigungsidentität eine nukleare Komponente
zu geben. So langfristig diese Perspektive auch sein mag: Frankreich verfolgt
das Ideal eines Europas, das als eigenständiger Akteur in der Weltpolitik
auftritt. Diese Rolle setzt aus französischer Sicht voraus, über
die entsprechenden Machtmittel zu verfügen, und dazu zählt Paris
« natürlich » auch Nuklearwaffen. Frankreichs konzertierter Bilateralismus Gemessen an der gaullistischen Orthodoxie des Kalten Krieges hat sich die französische Kernwaffenpolitik damit beträchtlich geöffnet. Bei den anderen Europäern stießen die jüngsten Avancen freilich auf wenig Resonanz: Die « neutralen » EU-Mitglieder lehnen die nukleare Abschreckung grundsätzlich ab, andere argwöhnen einen politischen Führungsanspruch Frankreichs, und fast alle fürchten eine Aushöhlung der transatlantischen Sicherheitsbeziehungen. Zudem glauben im Grunde auch diejenigen EU-Mitglieder, die den Beitrag der britischen und der französischen Nuklearstreitkräfte zur gemeinsamen Sicherheit anerkennen, sich mit dem Nuklearschirm der NATO begnügen zu können. Hinzu kommen vielfach innenpolitische Bedenken: Seit dem Fall der Mauer haben sich in der Bevölkerung die ohnehin vorhandenen Vorbehalte gegen Kernwaffen noch verstärkt. Der Vorschlag einer nuklearen Konzertierung wäre während des Kalten Krieges möglicherweise als Geste der Bündnissolidarität willkommen gewesen; heute dagegen ist die Gefahr groß, daß eine zunehmend kritische Öffentlichkeit ihn als unpassenden Versuch versteht, eine vermeintlich überkommene Waffengattung aufzuwerten. Unter diesen Bedingungen fürchten gerade Befürworter der Abschreckung, daß jede Diskussion über eine « dissuasion concertée » Kernwaffen weiter diskreditieren könnte. Darüber hinaus erscheint vielen Beobachtern die europäische Konstruktion im politischen Bereich noch viel zu fragil, als daß sie für eine Einbeziehung des Nuklearen geeignet wäre. Da Europa gerade erst beginnt, sich als sicherheitspolitischer Akteur zu begreifen, sei es - so das Argument - verfrüht, heute eine europäische Abschreckung auf den Weg zu bringen. Zum jetzigen Zeitpunkt würde eine Nukleardiskussion die Divergenzen zwischen den EU-Staaten nur verstärken und Fortschritte auf dem Weg zu einer effektiven GASP gefährden. Naheliegender sei es, sich um den konventionellen Bereich zu kümmern, weil hier der aktuelle Handlungsbedarf größer ist und wenigstens Minimalkompromisse möglich sind. Auch institutionell stellt sich die Frage, wie unter den gegebenen Bedingungen eine europäische Konzertierung aussehen könnte. Im Rahmen der GASP fehlt schon der Minimalkonsens über nukleare Abschreckung. Die WEU bietet sich nur theoretisch als Handlungsrahmen an: Erstens würde die Schaffung eines nuklearen WEU-Konsultationsgremiums leicht als Verdoppelung der NATO-Strukturen interpretiert, was selbst die Vollmitglieder ablehnen. Zweitens verfügt die WEU nicht über die nötige « nukleare Kultur ». Beide Einwände ließen sich noch überwinden, wenn der politische Wille vorhanden wäre. Schwerer wiegt, daß eine wie auch immer geartete « Nuklearisierung » der WEU den ohnehin steinigen Annäherungsprozeß an die EU weiter verkomplizieren würde. Die NATO wiederum scheidet als Alternative aus, solange Frankreich nicht in die militärische Integration zurückgekehrt ist. Um diese Schwierigkeiten zu umgehen, versucht Paris zunächst, mit seinen wichtigsten Verbündeten einen inhaltlichen Grundkonsens über nukleare Fragen zu erreichen. Das Atom trennt Frankreich nicht nur von den kernwaffenkritischen EU-Mitgliedern, sondern auch von der anderen westeuropäischen Nuklearmacht und jenen « have nots », die sich zur nuklearen Abschreckung bekennen. Schwerer noch als die institutionellen Unterschiede wiegen dabei die gegensätzlichen Denkweisen, die sich seit 1966 herausgebildet haben. In den letzten drei Jahrzehnten standen sich in Westeuropa zwei völlig unterschiedliche Abschreckungsmodelle gegenüber: Anders als die « flexible-response »-Strategie der NATO war die französische Nukleardoktrin nie an der tatsächlichen Möglichkeit nuklearer Einsätze ausgerichtet. Sie war stets eine politische Doktrin, die darauf zielte, einen bewaffneten Konflikt durch die unmittelbare Androhung des nuklearen Holocausts zu verhindern. Die taktisch-operative Ebene blieb dabei klar im Hintergrund. Gleichzeitig suchte Frankreich ein Maximum an Autonomie von den USA, während sich die anderen Westeuropäer um eine möglichst effektive Einflußnahme auf die Politik ihrer Schutzmacht bemühten. Dadurch ist Frankreich im Ergebnis heute mit den nuklearen Planungs- und Konsultationsmechanismen der NATO ebensowenig vertraut wie umgekehrt die nichtnuklearen Europäern mit der Funktionsweise und der Philosophie der französischen Abschreckung. Diese nukleare « Entfremdung » verursacht grundlegende
Perzeptionsunterschiede, die jeder Zusammenarbeit im Wege stehen. Aus französischer
Sicht kommt es daher zunächst darauf an, ein prinzipielles Einvernehmen
über den Wert und die Grundregeln nuklearer Abschreckung zu erzielen.
Eine institutionelle Lösung erscheint demgegenüber als zweitrangig.
Solange weder die Rolle der WEU noch die eigene Stellung innerhalb der
Atlantischen Allianz Haltung hinreichend geklärt ist, würde ein
fertiges Konzept für die künftige Einbindung der westeuropäischen
Nukleararsenale auch wenig Sinn machen. Frankreich will natürlich
zu gegebener Zeit seine Kernwaffen in den Poker um die weitere Entwicklung
der europäischen Sicherheitsarchitektur einbringen, möchte dann
aber nicht isoliert auftreten. Dazu versucht Paris zunächst, bilateral
die bestehenden Gräben zu überbrücken. Im Mittelpunkt stehen
dabei naturgemäß Großbritannien und Deutschland. Großbritannien Im britisch-französischen Verhältnis findet eine Konzertierung bereits statt. Die beiden Nuklearmächte haben Anfang der 90er Jahre Gespräche über Möglichkeiten der Zusammenarbeit aufgenommen. Im Juli 1993 wurde der Dialog institutionalisiert und zu einer ständigen « gemeinsamen Kommission für die Ausarbeitung einer Nuklearpolitik und -doktrin » weiterentwickelt. Unmittelbarer Anlaß dieser Kooperation waren Überlegungen, gemeinsam eine neue luftgestützte Mittelstreckenrakete zu entwickeln. Da die britische Regierung eine Entscheidung 1990 erst vertagte und sich 1993 dann definitiv gegen die Anschaffung eines derartigen Systems entschied, traten jedoch rasch andere Themen in den Vordergrund.
Beide Seiten lobten wiederholt die Nützlichkeit der Gespräche und die Fortschritte, die erzielt werden konnten. Wieweit die Zusammenarbeit im einzelnen geht, bleibt aufgrund der Geheimhaltung offen. Auf dem französisch-britischen Gipfel von 1995 hieß es im Schlußkommuniqué jedenfalls, daß es in Fragen der Nukleardoktrin keine unüberwindlichen Gegensätze gebe und die vitalen Interessen beider Länder untrennbar seien. Der positive Verlauf dieser Konsultationen ist umso bemerkenswerter, als die beiden Nuklearmächte ihre Kernwaffenpolitik bis 1989 völlig unterschiedlich ausgerichtet hatten: Anders als Frankreich hat Großbritannien für sein Nuklearprogramm seit 1958 massiv technologische Unterstützung von den USA erhalten. Im Gegenzug hat sich London verpflichtet, nukleare Informationen nicht ohne amerikanische Zustimmung an Dritte weiterzugeben und seine Nuklearstreitkräfte in die Planungen der NATO zu integrieren. Die enge Verflechtung der britischen und der amerikanischen Abschreckung einerseits, sowie der französische Sonderstatus in der Allianz andererseits schlossen eine Zusammenarbeit während des Kalten Krieges aus. Erst der weltpolitische Gezeitenwechsel von 1989/90 trieb das ungleiche Paar in eine partielle Interessengemeinschaft, die fortbestehende Gegensätze überbrücken half: Beide Länder sehen ihre internationale Position insbesondere durch die deutsche Vereinigung gemindert, beide halten weiterhin an Nuklearwaffen als dem Garant nationaler Sicherheit und als politischen Trumpf fest, und beide haben als nukleare Mittelmächte in Abrüstungs- und Rüstungskontrollverhandlungen ähnliche Interessen. Angesichts leerer Kassen ist es durchaus möglich, daß Frankreich
und Großbritannien ihre Zusammenarbeit etwa im Bereich der Computersimulation
und der Sicherheit von Atomwaffen weiter vertiefen werden. Auch die Perspektive,
daß sich der START-Prozeß langfristig multilateralisieren und
die westeuropäischen Arsenale miteinbeziehen könnte, dürfte
beide Länder noch enger zusammenführen. Andererseits bleiben
der Zusammenarbeit durch die enge nukleare Bindung Großbritanniens
an die USA Grenzen gesetzt. London wird auch weiterhin alles vermeiden,
was das Verhältnis zu Washington gefährden könnte. So stellte
die Regierung Major 1995 ausdrücklich fest, daß eine Abstimmung
der U-Boot-Patrouillen oder der Zielplanungen erst in Betracht komme, wenn
Frankreich sich an der Nuklearen Planungsgruppe der NATO beteilige. Auch
gebe es außerhalb der NATO keinen Raum für ein europäisches
Nukleargremium. Es ist wenig wahrscheinlich, daß die neue Labour-Regierung
in dieser Frage eine andere Position vertritt. Deutschland Der insgesamt erfolgreiche Verlauf der britisch-französischen Gespräche bildete 1995 den Hintergrund für den Vorschlag Juppés und Chiracs, Deutschland in die Konsultation einzubeziehen. Zwar sondierte Frankreich auch in Rom und Madrid, vorrangiges Ziel bleibt aber, die bestehende französisch-britische Verbindung um ein französisch-deutsches Pendant ergänzen. Ein solcher konzertierter Bilateralismus zwischen den beiden Kernwaffenstaaten und der führenden nichtatomaren Macht gilt in Paris als Grundlage für eine weiterreichende Europäisierung. Die Schlüsselstellung Bonns liegt auf der Hand: Die deutsch-französischen Beziehungen bleiben trotz aller immer wiederkehrenden Turbulenzen das tragende Element des europäischen Einigungsprozesses. Zum einen braucht ein Projekt dieser Dimension automatisch die Mitarbeit des größten und wichtigsten Partners, zum anderen setzen die Verantwortlichen in Paris auf die Sogwirkung, die eine deutsche Beteiligung auf die übrigen Europäer haben würde. Hinzu kommt, daß Frankreich mit der Bundesrepublik seit Jahren im konventionellen Bereich zusammenarbeitet, und beide Länder mit dem gemeinsamen Verteidigungs- und Sicherheitsrat bereits über ein Gremium verfügen, in dem sich ein kontinuierlicher Austausch über nukleare Fragen ansiedeln könnte. Die Reaktion der Bundesregierung war - nicht zuletzt wegen der Empörung der eigenen Öffentlichkeit über die französischen Nukleartests - zunächst überaus reserviert. Aber selbst nachdem die Proteste abgeflaut waren, blieb die deutsche Haltung insgesamt zurückhaltend. Offensichtlich scheuten die Verantwortlichen in Bonn die offene Auseinandersetzung mit einem Thema, daß keineswegs dringlich erscheint, dafür aber erheblichen politischen Zündstoff in sich birgt. Anders als in Frankreich und Großbritannien, wo die nationalen Nukleararsenale für ein Mehr an Unabhängigkeit, Sicherheit und Einfluß stehen, symbolisieren Kernwaffen in Deutschland vor allem Bedrohung der eigenen Existenz und Abhängigkeit von fremden Mächten. Wie die innenpolitischen Debatten um die NATO-Nachrüstung zeigten, war die nukleare Abschreckung schon während des Kalten Krieges keineswegs unumstritten. Die Wiedervereinigung und der Wegfall einer militärischen Gefahr haben die Akzeptanz von Kernwaffen weiter sinken lassen. Dabei ist die Haltung der deutschen Öffentlichkeit in der Kernwaffenfrage gleichermaßen pazifistisch und atlantizistisch: Der Nuklearschirm der USA erscheint vielen Deutschen noch erträglich, weil er nach über 40 Jahren gewissermaßen zum Selbstverständnis der alten Bundesrepublik gehört hat und zudem seit dem fast vollständigen Abzug der amerikanischen « nukes » nahezu unsichtbar geworden ist. Französische Atomwaffen dagegen gelten nach 30 Jahren gaullistischer Rhethorik vielfach als Ausdruck eines überkommenen Nationalismus und als Symbol einer ehemaligen Großmacht, die ihren machtpolitischen Abstieg nicht verwinden kann. Hinzu kam die jahrelange Diskussion um die Pluton- und Hadès-Kurzstreckenraketen, die im Ernstfall auf deutschem Territorium eingesetzt worden wären, ohne daß die Bundesregierung Einfluß auf die Planungen hätte nehmen können. Dieser Aspekt nationaler Autonomie hat das deutsche Verhältnis zur französischen Abschreckung nachhaltig gestört. Diese Vorbehalte finden sich auch in weiten Teilen der politischen Klasse wieder und haben wesentlich zur Zurückhaltung beigetragen, mit der Bonn im Herbst 1995 die französischen Avancen aufnahm. Dennoch zeichnet sich allmählich eine größere Bereitschaft ab, die nukleare Abschreckung in den deutsch-französischen Dialog miteinzubeziehen. Die Streichung des Hadès-Programmes im Februar 1996 hat die deutsche Haltung dabei sicher positiv beeinflußt (wenngleich sie weniger aus Rücksichtnahme auf Bonner Empfindlichkeiten als aus strategischen und budgetären Überlegungen erfolgte). Nachdem es zunächst nur informelle Kontakte auf Regierungsebene und zwischen Parlamentariern beider Ländern gab, erklärte sich die Bundesregierung im deutsch-französischen Sicherheitskonzept vom Dezember 1996 erstmals offiziell bereit, einen Dialog über die « künftige Rolle der Nuklearwaffen im Kontext der europäischen Verteidigungspolitik » aufzunehmen. Im Juli 1997 sprach sich auch die SPD dafür aus, das Thema zu erörtern. In einem gemeinsamen Papier von französischen Sozialisten und deutschen Sozialdemokraten heißt es: « Es kann keine Mehrheitsentscheidungen über den Einsatz von Nuklearwaffen geben. Aber was es geben kann und muß ist eine offene Diskussion darüber, wie das französische Nuklearpotential in den Prozeß der europäischen Integration eingebracht werden kann. Deutschland hat und will keine Nuklearwaffen, und es will auch keinen 'Finger am Abzug' fremder Nuklearwaffen. Aber in der deutsch-französischen Schicksalsgemeinschaft kann es keine Tabuzonen geben. Warum also nicht eine nukleare Konsultationsgruppe schaffen, in der Europäer über die politische und militärische Rolle von Nuklearwaffen sprechen können? » Diese Gesprächsbereitschaft bleibt vorsichtig, markiert aber doch eine Wende gegenüber der bisherigen Politik. Zwar mißt in Bonn niemand der nuklearen Frage besondere Dringlichkeit bei, dennoch besteht ein grundsätzliches Interesse daran, die französischen Nuklearstreitkräfte in einen multilateralen Rahmen einzubinden. Aus deutscher Sicht bringt die nationale Ausrichtung der französischen Abschreckung zwar heute militärisch weit weniger Probleme mit sich als während des Kalten Krieges, sie stellt aber politisch zunehmend eine Anomalität dar. Die Bundesregierung befürwortet daher, die französischen und britischen Arsenale langfristig in den europäischen Einigungsprozeß einzubeziehen. Kurzfristig geht es ihr allerdings eher darum, Frankreich aus seiner Sonderrolle in der Allianz herauszulotsen oder zumindest durch konkrete Projekte möglichst viele Brücken nach Paris zu bauen. Dabei bleibt für Bonn die entscheidende Bedingung, daß eine nukleare Konzertierung mit Frankreich keinesfalls zu Lasten der NATO und des amerikanischen Nuklearschirms gehen darf. Bislang blieb es zwischen Frankreich und Deutschland bei offiziellen
Erklärungen und informellen Kontakten. Die Instanzen des Verteidigungs-
und Sicherheitsrates sollten sich ursprünglich Anfang 1997 mit der
« dissuasion concertée » befassen; als in
Frankreich die Entscheidung zur Parlamentsauflösung fiel, wurde das
Thema allerdings wieder von der Tagesordnung genommen. Möglicherweise
wollte die Regierung Juppé die nukleare Frage während des Wahlkampfes
zurückstellen, nachdem die Opposition bereits zuvor das gemeinsame
Strategiepapier als französischen Kotau vor dem bundesdeutschen « Atlantizismus »
gegeißelt hatte. Seit dem unerwarteten Wahlsieg der Linken ruht das
Dossier wieder im Elysée. Da auch die Sozialisten eine europäische
Konzertierung befürworten, bleibt die Idee jedoch aktuell. Anfang
September 1997 hat der neue Premierminister Lionel Jospin bekräftigt,
daß Frankreich den Dialog mit seinen wichtigsten Partnern über
den « gesamten Bereich nuklearer Abschreckung » vertiefen
will. Sicher ist, daß die Instanzen des deutsch-französischen
Verteidigungs- und Sicherheitsrates nach wie vor das grundsätzliche
Mandat haben, nukleare Fragen zu erörtern. Auch steht fest, daß
informelle Gespräche weiterlaufen werden. Perspektiven Angesichts der Zurückhaltung der anderen Europäer ist nicht damit zu rechnen, daß die französische Initiative schnell zu weitreichenden Ergebnissen führt. Die politische und strategische Situation erfordert dies auch nicht. Dennoch weist die Idee der konzertierten Abschreckung in die richtige Richtung: Auch wenn das Ziel einer gemeinsamen Verteidigungspolitik oder gar einer gemeinsamen Verteidigung noch in weiter Ferne liegt, können EU und WEU auf Dauer nicht einfach ignorieren, daß zwei ihrer Mitglieder Nuklearmächte sind und bleiben wollen. Zudem bliebe eine europäische Verteidigungsidentität ohne Einbeziehung der nuklearen Komponente unvollständig. Natürlich kann eine gemeinsame Abschreckung mit geteilter Verfügungsgewalt allenfalls am Ende des europäischen Einigungsprozesses stehen. Nur in einem supranationalen Europa wären die Asymmetrien in den nuklearen Rollen und Verantwortlichkeiten vollständig aufgehoben. Eine vollständige Integration im Kernwaffenbereich läßt sich aber - wenn überhaupt - nur über Zwischenschritte und abgestufte Formen der Kooperation erreichen. Es bedarf einer langen Übergangsphase der intergouvernementalen Zusammenarbeit und der Teilintegration, um die bestehenden Unterschiede allmählich abzuschleifen. Daß eine Kooperation auch unterhalb der Supranationalität möglich ist, hat die NATO dreißig Jahre lang vorgeführt. Selbst eine zwischenstaatlich organisierte europäische Zusammenarbeit hätte für die nichtnuklearen Europäer Vorteile gegenüber dem derzeitigen NATO-Modell: Zum einen sprechen geographische wie politische Gründe dafür, daß die britische und die französische Abschreckung mittelfristig Europa einen begrenzteren, dafür aber zuverlässigeren Schutz bieten als der amerikanische Atomschirm. Zum anderen blieben den nuklearen « have nots » wahrscheinlich größere Mitsprachemöglichkeiten, weil der machtpolitische Abstand zu den Kernwaffenmächten wesentlich geringer wäre. Die Nichtnuklearen könnten gerade die Flexibilität der französischen Initiative nutzen, um die weitere Entwicklung mitzubestimmen. Allerdings müßten sie im Gegenzug akzeptieren, daß Frankreichs Position in Europa und innerhalb der Allianz politisch aufgewertet würde. Europa wird sein Gewicht als Ganzes nur erhöhen, wenn alle Seiten ihre traditionellen Eifersüchteleien überwinden. Paris geht es nicht darum, Westeuropa von der amerikanischen Nukleargarantie abzukoppeln, sondern diese durch ein europäisches Element zu ergänzen. Gegenteilige Verdächtigungen spiegeln einen « antigaullistischen » Reflex der übrigen Europäer wider, entsprechen aber nicht tatsächlichen französischen Absichten. Frankreich hat trotz seiner Sonderrolle in der Nuklearpolitik stets mit den USA kooperiert. Auch diesmal geht es nicht um den Abbruch, sondern um die Neudefinition der transatlantischen Zusammenarbeit. Eine europäische Kernwaffenkooperation soll die politischen Gewichte in der Allianz verändern, diese aber intakt lassen. Tatsächlich kann eine wie auch immer geartete europäische Abschreckung die europäische Säule im Bündnis stärken. Dazu gilt es freilich zunächst, im Rahmen einer zwischenstaatlichen Konzertierung die Gräben zwischen den Europäern zu überbrücken. Multilateral wird sich diese Konzertierung kurzfristig kaum organisieren lassen. In der WEU wäre zur Zeit allenfalls eine Reflexionsgruppe möglich, deren Arbeit stets durch die Auflage beschränkt bliebe, nicht mit der NPG der NATO zu konkurrieren. Selbst wenn sich ein WEU-Gremium auf die Vollmitglieder beschränken würde, könnte es nur eine grundsätzliche Diskussion über die Rolle von Kernwaffen führen. Frankreich ist aus diesem Grund an einer WEU-Lösung bislang nicht interessiert gewesen, möglicherweise wird sich aber die neue Regierung aufgeschlossener zeigen. Dies bedeutet indes nicht, daß die anderen Europäer ein nukleares WEU-Gremium akzeptieren würden. Die NATO scheidet wegen der französischen Vorbehalte vorläufig aus. Offensichtlich spielte das Nukleare bei den bisherigen Verhandlungen über den Wiedereinstieg Franreichs in die militärische Integration keine Rolle. Angeblich wäre die Regierung Juppé ohne Vorbedingungen der NPG beigetreten, um von innen heraus privilegierte Beziehungen zu bestimmten Verbündeten aufzubauen. Dies hätte der bisher geübten Praxis der NPG entsprochen, manche nichtnukleare Staaten « gleicher » zu behandeln als andere. Nach dem Eklat um die Besetzung des Oberkommando Süd (AFSOUTH) und dem Wahlsieg der Linken ist eine Rückkehr in die militärische Integration auf absehbare Zeit allerdings unwahrscheinlich geworden. Dies wird Frankreich zwar nicht daran hindern, wie bisher nukleare Fragen bilateral mit den USA und Großbritannien zu behandeln und aktiv in der DGP mitzuarbeiten. Paris wird auch nicht von der Zusage vom Dezember 1995 abrücken, nukleare Fragen im NATO-Rat zu erörtern. Eine Mitwirkung in der NPG und den anhängenden Gremien kommt aber unter diesen Bedingungen nicht in Frage. Eine multilaterale Konzertierung zwischen Europäern scheint erst möglich, wenn Frankreich sein Verhältnis zur NATO geklärt hat. Solange Paris an seinem Sonderstatus festhält, werden die Verbündeten jeden Schritt in Richtung auf eine europäische Abschreckung als antiamerikanischen Schritt ablehnen. Die « dissuasion concertée » wird deshalb nur Erfolg haben, wenn sie sich in eine allgemeine Neudefinition der transatlantischen Sicherheitsbeziehungen einfügt. Eine europäische Abschreckung läßt sich nicht als rein europäisches Projekt voranbringen, sondern muß von Anfang an die politische und strategische Koppelung an die amerikanische Abschreckung in ihren Bauplan miteinbeziehen. Dies liegt auch aus praktischen Gründen nahe, da jede nukleare Krise automatisch die USA auf den Plan rufen würde. Vorläufig scheint ein konzertierter Bilateralismus die einzige Möglichkeit, überhaupt ins Gespräch zu kommen. Zwischen den Nuklearmächten selbst gibt es diesen Bilateralismus schon lange; neu wäre ein Dialog zwischen Frankreich und den einzelnen nichtnuklearen Europäern. Auf absehbare Zeit wird es dabei allenfalls zu einer deutsch-französischen Verbindung kommen, weil die anderen Europäer selbst nicht sonderlich interessiert sind und auch Paris zunächst nur auf Bonn setzt. Auch im deutsch-französischen Dialog werden die Perzeptionsunterschiede keineswegs leicht auszuräumen sein: Wenn deutsche Sicherheitspolitiker beispielsweise erklären, Ziel einer Konzertierung müsse die Abrüstung des französischen Potentials sein, dann mag dies zwar eher für die eigene Öffentlichkeit bestimmt sein, spricht aber dennoch nicht für das rasche Zustandekommen einer engen nuklearen Partnerschaft. Eine deutsch-französischer Nukleardialog birgt zudem immer die Gefahr in sich, bei den Partnern Argwohn und nationale Eifersüchteleien zu wecken. Dieses Risiko stellt sich insbesondere, wenn an die Stelle der informellen Kontakte offizielle Gespräche treten sollten. Beide Partner müssen daher ein Interesse daran haben, ihren Dialog gegenüber einer Beteiligung weiterer europäischer Staaten offenzuhalten und den Kontakt zur Atlantischen Allianz zu halten. Letzteres muß kein unüberwindliches Hindernis sein: Franzosen und Briten haben gemeinsam im NATO-Rat ihre Erklärung zur Untrennbarkeit ihrer vitalen Interessen erläutert, und auch Deutschland und Frankreich könnten dem Rat regelmäßig die Ergebnisse ihrer Gespräche vortragen. Trotz der Schwierigkeiten scheint ein deutsch-französischer Bilateralismus als Vorstufe zu einer Europäisierung sinnvoll. Zum einen sind Paris und Bonn traditionell Wegbereiter europäischer Lösungen, und nur eine gemeinsame deutsch-französische Initiative hat Chancen, einer Idee dieser Tragweite zum Durchbruch zu verhelfen. Zum anderen kommt Deutschland von jeher die Funktion zu, Brücken zwischen Frankreich und dem atlantischen Bündnis zu bauen. Beide Länder sind daher prädestiniert, gemeinsam zu prüfen, wie sich eine Konzertierung unter Wahrung der europäischen Identität mit den Amerikanern koppeln ließe. Obwohl sich Großbritannien natürlich in einer anderen Position befindet als die nichtnukleare Bundesrepublik, haben die britisch-französischen Gespräche gezeigt, wie ein deutsch-französischer Dialog aussehen könnte. Am Anfang jeder Konzertierung muß die Suche nach einem grundlegenden Konsens über die Rolle von Kernwaffen für die europäische Sicherheit stehen. Die deutsche Haltung ist in diesem Punkt jenseits verbaler Bekenntnisse zur nuklearen Abschreckung alles andere als klar definiert. Der Dialog mit Frankreich kann Deutschland durchaus helfen, sich über die eigenen Interessen klar zu werden. Inhaltlich geht es zunächst um Information und Meinungsaustausch über die französische Nukleardoktrin und die Mechanismen der französischen Abschreckung. Wo beginnen heute die vitalen Interessen Frankreichs? Unter welchen Bedingungen wird für Paris die Androhung nuklearer Einsätze denkbar? Welche Funktion ist den derzeit vorhandenen und geplanten Waffensystemen zugedacht? Wie ist die Flexibilisierung der französischen Abschreckung zu deuten, die im Weißbuch von 1994 zum Ausdruck kommt? Können prästrategische Nuklearwaffen, deren Einsatz einst als letzte Warnung vor dem Einsatz der zentralen strategischen Systeme konzipiert war, gegenüber neuen Proliferanten eine eigenständige Rolle übernehmen? Wie stellt sich Frankreich die Rolle des Nuklearen zur Abschreckung biologischer und chemischer Waffen vor? Wäre Frankreich bereit, auf das Recht zum nuklearen Ersteinsatz zu verzichten, um die nukleare Abschreckung für die kernwaffenkritischen Europäer akzeptabler zu machen? Der Dialog braucht sich keineswegs auf Fragen der nuklearen Abschreckung im engeren Sinn beschränken. Sinnvoll erscheint auch eine gemeinsame Analyse möglicher Bedrohungen: Wie interpretiert man beispielsweise in Bonn und Paris die Abkehr Rußlands vom Prinzip des « no first use » und die Weigerung der Duma, das SALT-II-Abkommen zu ratifizieren? Was ist mit den taktischen Atomwaffen passiert, die Rußland aus Mittel- und Osteuropa abgezogen hat? Damit einher gehen Fragen der Non-Proliferation und der Abrüstung: Wie würde man reagieren, falls ein potentieller Proliferant tatsächlich über Massenvernichtungswaffen verfügte? Sollte Europa auf eine eindeutigere Formulierung der positiven Sicherheitsgarantien hinarbeiten, als sie der NPT bislang gibt? Welche politische Linie sollen die Europäer auf der nächsten NPT-Folgekonferenz verfolgen? Wäre eine Multilateralisierung des INF-Vertrages zur Beseitigung der landgestützten Mittelstraketenraketen ein gangbarer Weg, um Europa gegen Bedrohungen aus der südlichen Peripherie zu schützen? Derartige Fragen werden zwar zum Teil bereits in der NATO und im Rahmen der GASP besprochen, dennoch scheitert eine gemeinsame europäische Position oftmals an den traditionellen Gegensätzen zwischen Atom- und Nichtatommächten. Ein solcher Austausch würde helfen, die Entfremdung zu überwinden und zu einer gemeinsamen Sichtweise im Kernwaffenbereich zu kommen. Darauf aufbauend könnten Paris und Bonn nach einer institutionellen Lösung für eine europäische Zusammenarbeit suchen. Gibt es beispielsweise einen organisatorischen Mittelweg zwischen der französischen Sonderrolle und der britischen NATO-Option? Wäre Frankreich bereit, einer neu zu gründenden ad-hoc-Gruppe beizutreten, die sich mit Fragen der nuklearen Abschreckung befaßt? Kann im Rahmen der Atlantischen Allianz eine Konzertierung losgelöst von der Rückkehr in die militärische Integration in Gang gesetzt werden? Wie könnte die europäische Rolle im Bündnis auf nuklearem Gebiet gestärkt werden? Welche politischen Konsequenzen sind aus dem reduzierten nuklearen Engagement der Amerikaner zu ziehen? Wie ließe sich das französische Nuklearpotential nutzen, um innerhalb der Allianz das europäische Gewicht insgesamt zu stärken? Wie könnte eine deutsch-französische bzw. eine europäische Rolle in der NPG aussehen? Ob sich ein Dialog über europäische Abschreckung auf Deutschland und Frankreich beschränkt, oder andere Europäer miteinbezieht: Er sollte sich nicht in technischen Details verstricken, sondern sich am großen politischen Ziel orientieren. Letztlich geht es darum, ob das politische Europa überhaupt eine nukleare Komponente haben soll oder nicht. So irrelevant diese Frage heute militärisch erscheinen mag, politisch verbindet sich mit ihr nicht weniger als die Finalität einer Politischen Union. Die Chancen auf eine Welt, die frei von Massenvernichtungswaffen ist, sind denkbar gering. Sich unter diesen Bedingungen auf Dauer einzig dem Nuklearschirm der USA anzuvertrauen, bedeutet letztlich, die Zuständigkeit für die eigene Sicherheit an eine außereuropäische Macht zu delegieren. Auch im russisch-amerikanischen Abrüstungsdialog und in « harten » Proliferationsfragen werden die Europäer nur gehört werden, wenn sie mit einheitlicher Stimme sprechen. In einer nuklearisierten Welt wird Europa in zentralen Fragen seiner eigenen Sicherheit nur handlungsfähig sein, wenn es selbst ein nuklearer Akteur wird. Eine Erörterung nuklearer Abschreckung kann daher durchaus hilfreich sein, um zu klären, welches Europa man jenseits aller Lippenbekenntnisse eigentlich will. Auch auf einer intergouvernementalen Stufe setzt eine europäische Abschreckung eine Maß an Konvergenz voraus, das innerhalb der Europäischen Union kaum erreichbar scheint. Je intensiver sich die Zusammenarbeit gestaltet, desto mehr politische und strategische Übereinstimmung wird erforderlich. Schon die 15 Mitglieder der heutigen EU werden sich kaum auf die Basis einer gemeinsamen Abschreckung verständigen können. Je mehr Staaten in die EU kommen, desto geringer wird die Chance auf einen solchen Konsens. Die Nukleardebatte führt damit ins Zentrum der Diskussion über die Zukunft der europäischen Konstruktion. Das Spannungsverhältnis zwischen Erweiterung und Vertiefung wird sich auch - und gerade - in der Kernwaffenpolitik wohl nur über die Schaffung einer europäischen Kerngruppe auflösen lassen. Es ist durchaus wahrscheinlich, daß die Währungsunion (EWU) zum Ausgangspunkt einer solchen Kerngruppe wird. Die Einführung des « Euro » bringt einen qualitativen Sprung in den europäischen Einigungsprozeß. Die gemeinsame Währung wird die vitalen Interessen der EWU-Teilnehmerstaaten wirklich untrennbar machen und damit eine entscheidende Voraussetzung für eine gemeinsame Abschreckung schaffen. Bleibt - last but not least - die Haltung der Öffentlichkeit: Eine europäische Abschreckung hat nur eine Chance, wenn sie von den Bürgern akzeptiert wird. Es wäre verhängnisvoll für die Idee, wenn eine unvorbereitete Bevölkerung aus den Medien von geheimen Vereinbarungen erführe oder eines Tages vor ein fait accompli gestellt würde. Die Gesellschaft müßte daher frühzeitig in den Dialog einbezogen werden. Andererseits läuft heute jede Diskussion über Kernwaffen Gefahr, in Polemik zu enden. Käme es zu einer offenen Debatte, würde Europa daher einen erheblichen Teil seines politischen Kapitals aufs Spiel setzen. Ob dies gerade heute ratsam ist, scheint durchaus fraglich. Je länger man die nukleare Frage allerdings tabuisiert, desto schwieriger wird es sein, sich öffentlich und rational mit diesen Themen auseinanderzusetzen. |
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