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Politik und Gesellschaft Online
International Politics and Society 1/1999

KLAUS MÜLLER
Sequenzentheorien der postkommunistischen Transformation

Vorläufige Fassung / Preliminary version

Beinahe zehn Jahre postkommunistischer Reformpolitik haben zu der mittlerweile weitgehend akzeptierten Erkenntnis geführt, daß gesellschaftliche Transformationen nicht nach dem Modell eines radikalen Systemwechsels verlaufen, sondern mehrdimensionale und zeitlich differenzierte Prozesse darstellen. Man könnte dies als eine Binsenwahrheit ansehen, wenn nicht sehr unterschiedliche Vorstellungen über die Leitvariablen, den Zeithorizont und über die vorzuziehende Abfolge von Reformschritten kursieren würden, Vorstellungen, die zugleich recht verschiedene Auffassungen über die Rolle westlicher Unterstützung beinhalten.

Ich möchte im folgenden drei Ansätze zu einer Theorie der Transformation skizzieren, die in den jeweils bevorzugten Reformsequenzen und auch in den zugrunde liegenden Erfolgskriterien differieren. An erster Stelle das Konzept der strukturellen Anpassung (bisweilen auch "Schocktherapie" genannt), zum zweiten die gradualistische (oder auch evolutionistische) Kritik hieran; zum dritten die demokratietheoretische Diskussion um die Abfolge von ökonomischen und politischen Reformen, die an der klassischen "Sequencing"-Diskussion der 60er Jahre anknüpft - die ja insbesondere auch eine Diskussion über Entwicklungskrisen und den Zerfall von Modernisierungsprojekten war.

Strukturelle Anpassung: Komplementaritäten radikaler Reformpolitik

Die lauteste Stimme im Transformationsdiskurs erheben aus vielen Gründen die Vertreter des von der neoklassischen ökonomischen Theorie inspirierten Konzepts der strukturellen Anpassung, das seit Beginn der der 90er Jahre zu einer Art Leitwissenschaft der osteuropäischen Reformen avancierte. Der hohe Kredit dieses Ansatzes reicht in die Zeit der spätsozialistischen Reformexperimente zurück, die bis zum Ende der 80er Jahre keine Erfolge erzielten und vielfach noch mit der Vision eines Marktsozialismus spielten.

Die entscheidende Wende der osteuropäischen Reformpolitik wurde durch den polnischen "Big Bang" am 1. Januar 1990 herbeigeführt. Auf Einladung der ersten postkommunistischen Regierung entwarfen mit David Lipton und Jeffrey Sachs erstmals "bürgerliche Spezialisten" ein Programm zum möglichst raschen Übergang zur Marktwirtschaft. Nahziel dieses Programms war die makroökonomische Stabilisierung der in eine Hyperinflation abgleitenden Wirtschaft durch drastische Einschränkung der öffentlichen Ausgaben, durch den schonungslosen Abbau von Subventionen und die Freigabe der Preise. Die Liberalisierung des Außenhandels und des Kapitalverkehrs sowie die Privatisierung der staatlichen Industrien sollten einen unumkehrbaren Weg zum westlichen Kapitalismus festschreiben. Unter dem Eindruck der polnischen Stabilisierungserfolge wurde diese "Schocktherapie" am 1. Januar von der tschechoslowakischen Regierung übernommen und seit dem 1. Januar 1992 zur Grundlage der russischen Reformpolitik.

Die hohe Ansehen der neoklassischen Transformationstheorie basierte nicht allein darauf, daß sie den "mainstream" der westlichen Wirtschaftswissenschaften verkörpert und dem anti-etatistischen Politikverständnis osteuropäischer Radikalreformer entsprach. Sie offerierte eine universale Strategie für den kaum zu leugnenden Stabilisierungsbedarf der osteuropäischen Wirtschaften, eine Strategie, die sich auf mehrfache Erfolge berief. Sachs hatte seine Fähigkeiten in der Beseitigung der bolivianischen Hyperinflation Mitte der 80er Jahre und durch seine Mitarbeit an wirtschaftspolitischen Strategien für Venezuela und Ecuador bewiesen; Stanley Fischers Kooperation mit führenden russischen Reformern waren Erfolge in der Reduzierung der israelischen Hyperinflation vorausgegangen. Die Übertragung der in aller Welt angewandten Strukturanpassungsprogramme auf die osteuropäischen Verhältnisse erschien vor diesem Hintergrund nicht als praxisferne Übung oder Ignoranz gegenüber den Besonderheiten der osteuropäischen Situation. Sie war von der Überzeugung getragen, daß elementare Marktgesetze, monetäre Zusammenhänge und fiskalpolitische Restriktionen in allen möglichen Welten gelten.

Institutionellen Rückhalt gewann sie darüber hinaus aus einer Verankerung, die ihr zugleich ein unvergleichliches politisches Gewicht verlieh: aus ihrer programmatischen und organisatorischen Vernetzung mit den osteuropäischen Aktivitäten der Weltbank, des Internationalen Währungsfonds (IMF) und der Europäischen Bank für Wiederaufbau und Entwicklung (EBRD). Die Internationalen Finanzorganisationen haben der Liberalisierung der früheren Planwirtschaften durch die Konditionalitäten ihrer Kreditvergabe allerdings nicht allein praktisch Nachdruck verliehen - und dadurch den osteuropäischen Regierungen die Möglichkeit gegeben, die Härten ihrer Politik unter Hinweis auf internationale Imperative zu rechtfertigen. Nicht weniger entscheidend waren die von diesen Organisationen erstellten Expertisen, die zum ersten Mal haltbare Bestandsaufnahmen der osteuropäischen Wirtschaften erlaubten, indem sie deren statistische Systematik von Materialprodukts- auf Preisgrößen umstellten. Die erste umfassende Analyse der sowjetischen Wirtschaft wurde 1990 von den Forschungsabteilungen des IMF, der Weltbank, der EBRD und der OECD vorgelegt und in den folgenden Jahren für die Nachfolgestaaten der Sowjetunion aktualisiert. Die Kreditgewährung des IMF verlangt die Offenlegung einst als Staatsgeheimnis behandelter Daten. Die Europäische Union finanziert "Russian Economic Trends", die erste vom Staatlichen Statistischen Komitee (Goskomstat) unabhängige Berichterstattung durch das Moskauer Institut für Makroökonomische Forschung. Polen, Ungarn, Rußland, die Tschechische Repubik und die Slowakei wurden in die Länderberichte der OECD aufgenommen und damit verpflichtet, sich den Standards der OECD-Statistik anzupassen. Die jährlich erscheinenden Berichte der EBRD ergänzen und korrigieren die nationalen Erhebungen der osteuropäischen Länder und die Untersuchungen anderer internationaler Institutionen. Nicht umsonst also wird von einer statistischen Revolution gesprochen, die einerseits über den Reformbedarf und die Fortschritte der postkommunistischen Gesellschaften Auskunft geben soll und andererseits durch Rückrechnung neuerer Daten auch retrospektiv die Errungenschaften des Sozialismus in ein anderes, bescheideneres Licht setzt.

Man kann also sagen, daß die Wirkungsmacht des neoliberalen Reformdiskurses darauf beruht, daß er theoretische wie praktische, ökonomische wie politische und ideologische Funktionen in sich vereint. "Strukturanpassung" ist kein ökonomisches, etwa in der Allgemeinen Gleichgewichtstheorie fundiertes Konzept im engeren Sinn. Es handelt sich um den Oberbegriff für ein Bündel politischer Strategien, deren gemeinsamer Nenner in der Annahme besteht, über ökonomische Anreize und Zwänge gesellschaftlichen Wandel in Richtung demokratischer Marktwirtschaften induzieren zu können. Der Diskurs radikaler Reformen basiert auf einer ganzen Reihe von Annahmen, die weit über ökonomische Standardtheorien hinausschießen: auf Annahmen über das kulturelle Erbe des Sozialismus, über die Dynamik sozialer Strukturen, über die Motivation individueller und kollektiver Akteure, über die Rolle des Staates und nicht zuletzt über die Zeithorizonte institutionellen Wandels.

Um mit dem letzten Punkt anzufangen: Die Radikalität von Reformen bemißt sich sicherlich nach der Geschwindigkeit ihrer Durchsetzung. Hierfür werden üblicherweise vier Argumente angeführt, von denen nur zwei im engeren Sinn ökonomisch gerechtfertigt sind. Zwei weitere Argumente unterstellten dagegen fragwürdige politische und soziale Kausalitäten.

Was die ökonomische Seite angeht, so machte die Haushaltslage und der Geldüberhang spätsozialistischer Gesellschaften drastische Stabilisierungsmaßnahmen zweifellos unvermeidlich. Die Freigabe von Preisen, flankiert von einer strikten Fiskal- und Geldpolitik, war erforderlich, um inflationäre Erwartungen zu brechen und um die finanzielle Handlungsfähigkeit des Staats wiederherzustellen. Die zweite ökonomische Rechtfertigung reklamiert Komplementaritäten und positive Externalitäten einer raschen Stabilisierungspolitik: die möglichst zeitnahe Liberalisierung des Außenhandels sollte die Unternehmen unter Preisdisziplin setzen und dezentrale Restrukturierungen der Industrielandschaft erzwingen. Privatisierungen induzieren voraussetzungsgemäß unternehmerische Eigeninitiative, zwingen die Manager der Betriebe, sich von der Maximierung von Subventionen auf die Erwirtschaftung von Gewinnen umzustellen und mobilisieren so Kapitaleinlagen. International geöffnete Kapitalmärkte sollen zur realistischen Bewertung der Unternehmen und zur Schließung unrentabler Betriebe führen. Die Elemente dieser Standardstrategie verhalten sich offenbar komplementär zueinander; die rasche Abfolge der einzelnen Schritte sollte Monopolstellungen, "rent-seeking"-Koalitionen und gradualistische Kompromisse aushebeln.

Das dritte Argument für einen drastischen Reformkurs ist politischer Natur und zielt auf zwei Wirkungszusammenhänge. Reformpolitiker wie Balzerowicz und Gaidar haben im vollen Bewußtsein der damit verbundenen Risiken dafür plädiert, die Regeln des Spiels auf einen Schlag zu verändern: Zum einen, um die in den Planungsministerien konzentrierten Interessengruppen zu desorganisieren und so einen irreversiblen Wechsel der Macht sicherzustellen: mit der Reduktion des staatlichen Sektors gehe die Reforminitiative von ineffizienten Bürokratien auf eine selbsttätige Unternehmerklasse über, während die Geschwindigkeit der Reformschritte die Korruptionsanfälligkeit der Politik reduziere. Zum anderen, um das "window of opportunity", d.h. die Euphorie der ersten Stunde, in politischen Kredit für einen anfangs notwendig schmerzhaften Kurswechsel umzusetzen. Die anfängliche Unklarheit über die Verteilung der Übergangskosten verhindere die Herausbildung blockierender Interessengruppen. Im Bewußtsein einer tiefen Krise und in Erwartung späterer Verbesserungen würde die Bevölkerung eher radikale Maßnahmen akzeptieren. Statt von einem "Dilemma der Gleichzeitigkeit" (Offe) sprechen Aslund und andere Vertreter des Konzepts daher von einer strengen Komplementarität zwischen ökonomischen Reformen und Demokratie.

Ein viertes, dezidiert soziologisches Argument schließt von Marktzwängen auf sozialstrukturelle und institutionelle Anpassungsbewegungen: Jeffrey Sachs hat stets großen Wert darauf gelegt, daß die polnische Schocktheraphie nicht primär ökonomisch motiviert und nicht von außen oktroyiert war. Die Gründe seien vielmehr in der Besonderheit der sozialistischen Sozialstruktur zu suchen gewesen: aufgrund mangelhaft ausdifferenzierter Interessenlagen fehlte der Reformbewegung geeignetes Personal für die Implementierung einer anspruchsvollen Reformpolitik. Genau deshalb habe die neue Regierung so viel Initiative so früh wie möglich an den Markt delegiert. Die postsozialistische Klassenbildung sollte über das Interesse an neuerworbenem Eigentum, insbesondere im privaten Sektor, sowie über allem Anschein nach erstaunlich flexible Arbeitsmärkte verlaufen. Auch für die Dynamik der Institutionenbildung wird eine Komplementarität zu frühen und radikalen Reformen angenommen: die Existenz von Privatunternehmen und Marktbeziehungen erzeuge von sich aus einen Bedarf nach Institutionen zum Schutz von Eigentumsrechten und vertraglichen Ansprüchen. Hierauf haben sich denn auch im Großen und Ganzen die Aktivitäten der Reformpolitik zu beschränken.

Nicht zuletzt bietet die neoklassischen Programmatik klar definierte Maßstäbe zur Bewertung von Reformerfolgen. Denn die zentralen makrökonomischen Indikatoren scheinen eine unzweideutige Sprache zu sprechen: die Senkung der Inflationsraten, die Ausgeglichenheit der öffentlichen Haushalte, die Anteile der privaten Sektoren am Sozialprodukt, der strukturelle Wandel von überdimensionierten industriellen zu bislang unterentwickelten Dienstleistungsbereichen, etc. lassen sich quantitativ ausweisen und zu Liberalisierungsskalen zusammenfassen, auf denen die Fortschritte der verschiedenen Transformationsländer abgetragen werden. Bezogen auf diese Indikatoren können Hypothesen über das relative Gewicht der jeweiligen Ausgangsbedingungen, der jeweils eingeschlagenen Strategie, über die Bedeutung einer stetigen Reformpolitik und die Auswirkungen der jeweiligen politischen Koalitionen formuliert und empirisch überprüft werden.

Die empirische Erfolgsgeschichte, die etwa Anders Aslund und die Weltbank zur Rechtfertigung dieser Annahmen vortragen, läßt sich in wenigen Kernaussagen zusammenfassen.

  • In jedem der Länder mit radikaler Reformpolitik wurde die Inflation innerhalb von zwei Jahren auf unter 50% gedrückt, während gradualistische Kompromisse deutlich höhere Werte hinterlassen hätten.
  • Je früher die Reformen einsetzten, desto schneller konnte der Einbruch der Produktion überwunden werden. Der offiziellen Weltbankposition zufolge zahlen sich über das gesamte Spektrum der Reformländer die anfänglichen Kosten nach drei Jahren konsequenter Liberalisierung aus, selbst wenn man unterschiedliche Startbedingungen in Rechnung stellt. Gemessen am Abbau der Inflationsraten und am statistisch ausgewiesenen Umfang des privaten Sektors wird selbst Rußland ein erfolgreicher Übergang zu einer dezentralisierten, pluralistischen Marktgesellschaft attestiert.
  • Überraschenderweise scheint eines der hartnäckigsten politologischen Vorurteile widerlegt: radikale Politikmuster wurden von den Wählern überwiegend prämiert; selbst dort, wo Reformregierungen verdrängt wurden, ist der Liberalisierungskurs als solcher nicht revidiert worden.

Ein knappes Jahrzehnt nach Beginn der Transformation erscheint diese noch im Sommer 1998 bekräftigte Erfolgsdiagnose absurd. Rußland ist unfähig, das Personal der staatlichen Institutionen zu bezahlen und klare Grenzen zwischen Politik und organisiertem Verbrechen zu ziehen. Es steht am Rand der Unregierbarkeit. Die durch spekulative Kapitalbewegungen ausgelöste russische Krise von 1998 hat die trügerische Stabilität der monetären Sphäre zum Einsturz gebracht. Nach einem zwischen 1989 und 1995 kumulierten Produktionsrückgang von über 30 Prozent für die osteuropäischen und baltischen Staaten und von über 50 Prozent für die frühere Sowjetunion besitzt die erreichte "Stabilisierung" einen bitteren Beigeschmack. Allein Polen hat den Ausgangspunkt von 1989 überschritten. Das Entwicklungsmuster Ungarns, das seit Jahren die höchsten ausländischen Direktinvestitionen auf sich zieht, wird mit dem "Maquiladora"-Kapitalismus Nordmexikos verglichen. Bulgarien und Rumänien sind in der zweiten Hälfte von 1996 in eine makroökonomische Krise geraten, die zu erneuten inflationären Schüben und einem Verlust der Stabilisierungserfolge führten. Aber auch Tschechien, bis von kurzem das Modell einer erfolgreichen Reformpolitik, ist über fragwürdigen Privatisierungen und einer ausbleibenden Unternehmensreform in eine politische Krise geraten, die 1997 den Rücktritt der neoliberalen Regierung erzwang und in wirtschaftliche Stagnation mündete. Nach der jüngsten OECD-Prognose wird das tschechische Wachstum bis zum Jahr 2000 unter dem der Bundesrepublik liegen. Der Beitritt in die EU scheint in die Ferne gerückt.

Keine dieser Entwicklungen wurde von den neoliberalen Beratern vorhergesehen. Der methodische Optimismus und die Geschlossenheit der radikalen Reformkonzeption bedingt offenbar zugleich gewisse Wahrnehmungsschwächen. Nicht in die hoffnungsvollen Szenarien passende Ausfallerscheinungen können innerhalb des eigenen Ansatzes nicht reflektiert werden. Unerwartete Rückschläge werden exogen erklärt: durch politisches Fehlverhalten, populistische Kompromisse und Rentier-Interessen - ohne zu erwägen, ob die programmatische Desorganisation der politischen Strukturen und die mit überstürzten Privatisierungen eröffneten Bereicherungschancen für kleine Gruppen alter und neuer Funktionsträger nicht zum Teil des Problems geworden sind. Dies bringt mich zu meinem zweiten Punkt.

Gradualismus: Politische Ökonomie des "Sequencing"

Die interne Kritik an der neoliberalen Programmatik läßt sich noch innerhalb der Allgemeinen Gleichgewichtstheorie formulieren und erinnert an die bekannten Argumente des deutschen Ordoliberalismus gegen das Laissez Faire. In diesem Sinn haben Frank Hahn und Kenneth Arrow die institutionellen Voraussetzungen funktionsfähiger Märkte in Erinnerung gerufen und auf die herausragende Rolle hingewiesen, die staatliche Politik in allen erfolgreichen Entwicklungsstrategien seit dem Zweiten Weltkrieg gespielt hat. Man kann die Argumente beider zu der paradox scheinenden Aussage zusammenfassen, daß von der Allgemeinen Gleichgewichtstheorie her eher eine zeitlich gestreckte Übergangspolitik erforderlich wäre, die die von Aslund und anderen vermuteten Komplementaritäten erst herzustellen hätte.

Diese theoretischen Einsichten wurden von Gradualisten verschiedener Coleur in Transformationsstrategien umgesetzt. Zu ihnen kann man Peter Murrell, David Stark, Gerard Roland, Alec Nove und Janos Kornai zählen und auch wichtige internationale Forschergruppen, wie die AGENDA-Autoren, die Group on East-South Systems Transformations oder die vom Europäischen Forum für Demokratie und Solidarität initiierte Studie von John Eatwell, Michael Ellman, Mario Nuti u.a. Diese im weiteren Sinn sozialdemokratisch orientierten Autoren teilen die Befürchtung, daß angesichts der spezifischen Vorgeschichte der postkommunistischen Länder und unter den Bedingungen einer verschärften Krise Märkte nicht institutionalisiert und demokratische Verhältnisse nicht konsolidiert werden können. Denn entgegen aller Rhetorik schlagen radikale Reformen recht häufig in einen unfreiwilligen Gradualismus um, der politische Rückschläge oder kontraproduktive Resultate provoziert. Der entscheidender Einwand lautet, daß der Verlauf der postkommunistischen Krisen und die Zerstörung von alten Institutionen und Netzwerken vor Bereitstellung funktionsfähiger Alternativen durch verschiedene Sequenzfehler der Reformpolitik verursacht, zumindest aber verschärft worden sein könnte. Gradualistische Reformstrategien zielen auf die Überwindung sozialer und politischer Restriktionen, die der Durchsetzung umfangreicherer Maßnahmen entgegenstehen.

Um nur einige der von Gradualisten antizipierten Probleme der postkommunistischen Transformationen zu nennen: Übereilte Privatisierungen spielten in die Hände der alten Eliten und verwandeln staatliche in private Monopole, ohne die erforderlichen Restrukturierungen auf Unternehmensebene erzwingen zu können. Die Preisfreigabe und die einhergehende Inflation haben die Sparguthaben der Bevölkerung entwertet, ohne zu funktionsfähigen Geldwirtschaften geführt zu haben. An den Bankenkrisen in der gesamten Region läßt sich ablesen, daß die institutionellen Voraussetzungen für funktionsfähige Kapitalmärkte kaum gegeben sind. Offenbar bedurfte es erst der russischen Schuldenkrise, um die Risiken eines unregulierten Kapitalverkehrs für Länder mit unentwickeltem Finanzsystem vor Augen zu führen. Die umstandslose Öffnung für ausländische Direktinvestitionen kann - wie insbesondere in Tschechien und Polen - Gefühle des "nationalen Ausverkaufs" mobilisieren. Nicht zuletzt untergraben Arbeitslosigkeit, unübersehbare Ungleichheiten und Korruption die Legitimität der jungen, noch nicht konsolidierten Demokratien.

Aus diesem Grund sollen partielle Reformen dem experimentellen Charakter des Übergangs zur Marktwirtschaft von vornherein Rechnung tragen: um Zeit zum Lernen und zu gegebenenfalls erforderlichen Korrekturen einzuräumen. So sollen Unsicherheiten über Reformergebnisse reduziert und eine breitere Front zu ihrer Unterstützung aufgebaut werden: Erfolge im Kleinen erhöhen - selbst unter den Funktionären des alten Regimes - die Bereitschaft, weitergehenden Schritten zuzustimmen. Drastische Rückgänge der Einkommen und des Konsums sollten vermieden, das zu erwartende Versagen zunächst unvollkommener Märkte abgefangen werden. Die Neuverteilung von Eigentumsrechten erfordert neben Effizienzgesichtspunkten Kriterien sozialer Gerechtigkeit. Allein unter diesen Bedingungen scheinen wirtschaftliche und politische Reformen gleichzeitig durchsetzbar.

Allerdings setzt auch die Durchführung partieller Reformsequenzen funktionsfähige politische und administrative Strukturen voraus und damit ein höheres Maß an Kontinuität, als radikalen Reformern lieb ist. Gradualisten weisen die liberalistische Philosophie eines Minimalstaates zurück. Einem relativ starken Staat wird die Aufgabe zugewiesen, knappe Ressourcen in die Restrukturierung zukunftsträchtiger Industrien, in die Modernisierung der Infrastruktur und des Bildungssystems zu investieren und die Verlierer des Umbaus sozialpolitisch einzubinden. Selbstredend setzt dies eine Reform des öffentlichen Sektors voraus und es liegt auf der Hand, daß der postkommunistische Staat sich zur Realisierung all dieser Aufgaben die Steuerhoheit zurückerobern muß.

Daß Staatsversagen und die Erosion öffentlicher Institutionen wesentlichen Anteil an den postkommunistischen Krisen haben, wird heute auch von den Internationalen Organisationen selbstkritisch eingeräumt, so etwa von Donald Johnston, dem Direktor der OECD: "In retrospect, we in the OECD countries, along with many reformers in Russia, underestimated the weakness of the state and thus the enormity of the task of institutional reform to be accomplished." Die verschiedenen Reformpfade der osteuropäischen Länder erscheinen aus dieser Sicht in einem gänzlich anderen Licht: der Rückzug des Staats aus der politischen Verantwortung, wird zur entscheidenden Erklärungsgröße für das unterschiedliche Ausmaß der Transformationskrisen. Polens relative Erfolge folgen demnach weniger aus radikalen Deregulierungen als vielmehr daraus, daß ein weitgehend intakt gebliebener Staatsapparat ein anspruchsvolles Reformprojekt auf den Weg bringen konnte. Auf der anderen Seite wäre der Zusammenbruch der russischen Transformation weniger einem halbherzigen Gradualismus als dem radikalen Abbau staatlicher Strukturen anzulasten, der die Wirtschaft seit Ende der 80er Jahre einem chaotischem Zerfallsprozeß und die Politik den partikularen Interessen organisierter Machtgruppen überlassen hat.

Was die internationale Dimension angeht, so sind von einem gradualistischen Standpunkt aus technische und administrative Hilfe den von den Internationalen Finanzorganisationen vorgeschlagenen Freihandelslösungen vorzuziehen. Eine strategische Handelspolitik soll eigene Entwicklungspotentiale vor der übermächtigen westlichen Konkurrenz abschirmen und die Ausbildung des "maquiladora"-Syndroms auf europäischen Boden verhindern. Von der Europäischen Union, der eine überragende Rolle beigemessen wird, wären asymmetrische Handelskonzessionen zu erwarten, die zwar im Prinzip bereits vereinbart sind, in concreto jedoch unzulänglich bleiben. Davon zeugt nicht nur allein die drastische Verschlechterung der Handelsbilanzen der osteuropäischen Länder gegenüber der EU, sondern auch die Diskriminierung ausgerechnet jener Produktgruppen, für welche die osteuropäischen Länder komparative Vorteile geltend machen könnten. Die mangelhafte interne Integration der Region nach der Desintegration des Rats für Gegenseitige Wirtschaftshilfe (RGW) ist kaum als Problem erkannt.

Die immer wieder zitierten Beispiele für erfolgreiche Rekonstruktionsprozesse sind die westeuropäische Nachkriegsmodernisierung sowie die japanische und südkoreanische Strategie. Gradualisten sind allerdings vorsichtig genug, keinen universellen Reformpfad auszuzeichnen. Genauer betrachtet sind verschiedene Formen eines evolutionären "Sequencing" zu unterscheiden, die von den historischen Voraussetzungen der Reformländer und der Krisenhaftigkeit des Übergangs abhängen.

In den mittel- und osteuropäischen Gesellschaften etwa soll eine wohlüberlegte Abfolge wirtschaftlicher und sozialpolitischer Reformen die Gleichzeitigkeit von Demokratie und Marktwirtschaft wahrscheinlich machen. Empirische Belege für die Funktionsfähigkeit gradualistischer Strategien liefert nicht nur der stabile Reformpfad Ungarns, der gegen die Auswirkungen der mexikanischen Peso-Krise erfolgreich verteidigt wurde. Vielleicht ein noch stärkeres Argument bietet der getarnte Gradualismus Tschechiens, der eine radikale Rhetorik mit korporatistischen Arrangements im Bereich der Lohnpolitik und einer nur selektiven Öffnung für ausländische Direktinvestitionen verband. Nicht zufällig hat die tschechische Sozialdemokratie die jüngsten Wahlen mit einem offen gradualistischen Programm gewonnen - und mit dem Versprechen, suspekte Privatisierungen einer Revision zu unterziehen. Einem expliziten oder auch getarnten Gradualismus also scheint es verdankt, daß trotz aller Rückschläge keine prinzipielle Umkehr der osteuropäischen Reformpolitik eingetreten ist.

In agrarischen Gesellschaften mit funktionsfähigem Staatsapparat geht es dagegen um einen ökonomischen Gradualismus auch auf Kosten von Demokratie. Als prominentestes Beispiel gilt China: hier ist es gelungen, die vom Agrarsektor ausgehenden Liberalisierungen mit hohen Produktivitätsgewinnen und Wachstumsraten zu verbinden und zugleich die aus Osteuropa bekannten Inflationierungen zu vermeiden. Gleichwohl scheinen zumindest retrospektiv gewisse Lektionen für die osteuropäischen Länder ableitbar: strikte Preis-, Lohn- und Kreditkontrollen für den staatlichen Sektor seien solange aufrechtzuerhalten, bis ein neues Steuersystem etabliert ist. Die entscheidende Botschaft liegt auch hier darin, daß für die optimale Abfolge von Liberalisierungen die feste Hand des Staats erforderlich bleibt.

Dies bringt mich zu meinem dritten Punkt: zur bis heute kontrovers diskutierten Frage nach der geeigneten Abfolge von Marktwirtschaft und Demokratie.

Übergänge zur Demokratie: Sequenzen politischer, sozialintegrativer und wirtschaftlicher Reformen

Das chinesische Exempel wird von denkbar gegensätzlichen Lagern als Argument für die Unvereinbarkeit von freien Märkten und Demokratie angeführt. Zahlreiche russische Politiker lasten den Zusammenbruch der Sowjetunion Gorbatschows übereilter Demokratisierung an und hätten eine autoritäre Reformvariante nach chilenischem Muster vorgezogen. Einige hätten gegebenenfalls wohl selbst eine "Tiananmen-Lösung" für die osteuropäischen Erhebungen in Kauf genommen. Am gegenüberliegenden Ufer erinnern radikale Liberalisten immer wieder an das Dilemma von Marktwirtschaft und Demokratie. Niemand anderes als Hayek selbst hatte schließlich bemerkt, daß kein Kapitalismus je unter demokratischen Bedingungen entstanden sei und zu weit gefaßte demokratische Rechte die Eigentumsordnung des Marktes untergraben würden.

Gegenüber einem solchen Sequenzialismus, der primär auf Wachstum und erst in zweiter Linie (wenn überhaupt) auf Demokratisierung zielt, knüpft die jüngere Demokratietheorie nun an einer älteren soziologischen Einsicht an: an der Rolle außerökonomischer Bedingungen für die Institutionalisierung von Märkten und Eigentumsrechten. Ihr vorsichtiger Optimismus hinsichtlich der Konsolidierung der neuen zentraleuropäischen Demokratien beruft sich auf eine Sequenz, die ihren Ausgangspunkt in der politischen Sphäre nimmt, also nicht bloß abhängige Variable wirtschaftlichen Aufschwungs ist. Sie kritisiert vielmehr die potentiellen Gefahren einer ökonomistischen Strategie, die politische Freiheit durch wirtschaftliche Liberalisierung legitimieren will und darüber die erforderlichen Reformen des politischen Systems vernachlässigt.

Guiseppe Di Palma, David Apter und am eingehendsten wohl Juan Linz und Alfred Stepan haben den Primat einer demokratisch regulierten Staatsmacht herausgearbeitet. Historischer Hintergrund ist die idealtypisch in der spanischen Transition zur Demokratie bewährte Sequenz, die von politischen über sozialökonomische zu wirtschaftlichen Reformen führt, wobei der Privatisierung des vormals öffentlichen Eigentums ein nachgeordneter Stellenwert eingeräumt wird.

Theoretischer Hintergrund dieser Einschätzung ist der Begriff einer ökonomischen Gesellschaft, die weit über das technische Artefakt eines selbstorganisierten Markts hinausweist. Sowohl die neoliberale Programmatik als auch der anti-etatistische Impuls der osteuropäischen Bürgerbewegungen haben danach dem Staat als Garanten territorialer Integrität und einer Rechtsordnung, die den Geltungsbereich von Bürgerrechten einschließt, unzureichende Aufmerksamkeit geschenkt. Ein funktionsfähiger Staatsapparat, der über eine Bürokratie, über die Steuer- und Rechtshoheit und über institutionalisierte Routinen verfügt, ist jedoch nicht nur erforderlich, um den gesetzlichen und regulativen Rahmen für Märkte zu setzten. Er ist auch erforderlich, um den rechtlichen Status der zivilgesellschaftlichen Assoziationen und Gemeinschaften, wie auch den Handlungspielraum nichtorganisierter Bürger sicherzustellen. So wichtig Organisationsmodelle selbstorganisierter Bewegungen für die "informelle Institutionalisierung" (O'Donnell) der politischen und wirtschaftlichen Aktivitäten sind, so basiert eine zivile Gesellschaft doch ihrerseits auf der Funktionsfähigkeit der "ökonomischen Gesellschaft", die aus einer Reihe sozialpolitisch akzeptierter Normen und Institutionen besteht. Sie setzt darüber hinaus eine ihr komplementäre "politische Gesellschaft" voraus, insbesondere Parteien, die nach festgelegten Regeln an Wahlen teilnehmen, Koalitionen eingehen, Konflikte austragen und Kompromisse formulieren, um darüber erst die Gesellschaft als politische zu konstituieren. Weder eine ethisch versicherte zivile Gesellschaft, noch eine reine Marktwirtschaft, ein routinisierter Staatsapparat oder eine politische Exekutive allein können demzufolge eine "Transition" sicherstellen: Konsolidierte Demokratien setzen das verfassungsförmig kodifizierte Zusammenspiel aller gesellschaftlicher "Arenen" und damit auch die Begrenzung jeder einzelnen Arena durch eine Hierarchie von Normen voraus.

Ein überzogener Wirtschaftsliberalismus und unregulierte Privatisierungen können also Fehlsequenzierungen hervorrufen. Reine Marktwirtschaften kollidieren mit einer demokratischen Konsolidierung: alle bekannten Demokratien verfügen über eine "Mischwirtschaft". Andererseits zeugt das Ausbleiben restaurativer Rückschläge trotz wirtschaftlicher Einbrüche davon, daß die zentraleuropäischen Bevölkerungen ihre Zustimmung zu den Regeln des demokratischen Prozesses, den politischen und den wirtschaftlichen Institutionen zumindest mittelfristig über ihre konkrete wirtschaftliche Situation stellen. Diese Einsicht führt zur Umkehr des konventionellen Dogmas: Demokratisierungen sind nicht Hindernis, sondern Erfolgsbedingung für die Einführung von Märkten.

Perspektiven

Was ergibt ein Vergleich der drei hier skizzierten Sequenztheorien? Über einen universalistischen Zuschnitt und die größte diskursive Macht verfügt zweifellos die Programmatik der strukturellen Anpassung. Sie bemüht keine spezifischen Theorien, sondern appliziert dasselbe Muster, das in allen Entwicklungsländern angewandt wird, auch auf den Postsozialismus. Leitvariable und Erfolgskriterium ist die Liberalisierung von Märkten; der Zeithorizont ist auf die Anpassungsbewegung von Preisen, allenfalls auf Wahlzyklen eingestellt. Ihre langfristige Perspektive ist die einer Konvergenz an die Basisinstitutionen des westlichen Kapitalismus - ein Prozeß von nicht näher spezifizierter Dauer.

Angesichts des unerwartet zähen Verlaufs der Transformationen erscheint die Vorstellung einer "Schocktherapie" nicht nur metaphorisch inkonsistent. Die mit ihr intendierte politische und soziale Restrukturierung der osteuropäischen Gesellschaften kann als gescheitert gelten. In der Praxis haben sich selbst die Verhandlungen des IWF und der Weltbank mit den osteuropäischen Ländern gradualistischen Vorstellungen angenähert. Gradualisten aber sind bereit, den jeweiligen Voraussetzungen gemäß besondere Reformsequenzen zu entwerfen. Ihre Leitvariablen sind industrie-, handels-, steuer- und sozialpolitische Maßnahmen - klassische Felder staatlichen Handelns. Den damit eröffneten Konflikt zwischen Transformationspolitik und Öffnung zum Weltmarkt hoffen sie durch die Einbindung Osteuropas in das politische Regime der EU abzufedern. Da es ihnen primär um die Nachhaltigkeit von Reformen geht, um institutionelles Lernen und Konsensbeschaffung, sind sie zu einem langsameren Kurs bereit.

Demokratietheoretische Sequenzansätze nun erweitern die gradualistischen Variablen um eine Hierarchie legitimierender Faktoren, die von einem territorial definierten Staat über die Institutionen der Demokratie schließlich zu den Akteuren und Ergebnissen der Reformpolitik reicht. Fehlsequenzierungen sind nicht nur innerhalb wirtschaftlicher Programme oder zwischen politischen und wirtschaftlichen Reformen möglich, sondern auch innerhalb der Politik selbst. Insofern geht es den Theoretikern der Transition um mehr als um die Gleichzeitigkeit von Demokratisierung und Liberalisierung - nämlich um den Primat eines verfaßten Staats, der sich seinen Bürgern auch über die Transformationskrisen hinweg als Identifikationsobjekt anbietet. Die Komplexität dieses Entwurfs resultiert daraus, daß er state- und nation-building-Prozesse miteinander verknüpft. Die Überwindung der dabei auftretenden Konflikte aber scheint den Erfolgsaussichten wirtschaftlicher Reformen vorgeordnet. Aufgrund der Vielzahl interagierender Variablen ist ein universalistisches Abfolgeschema nicht zu erwarten. Es handelt sich vielmehr um ein komparatives Design, das spezifische Voraussetzungen sehr unterschiedlicher Wege zur Demokratie artikuliert. Linz, Stepan und andere fangen allerdings auch eine normative Intuition ein, die sehr wohl eine universale Vorbedingung für demokratische Konsolidierung zu sein scheint: nämlich ein nichtkonditionales Verhältnis zur Demokratie selbst.

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