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Politik und Gesellschaft Online International Politics and Society 1/1999 |
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Robert Kappel (Hrsg.):
Vorläufige Fassung / Preliminary version
Der Band vereinigt im wesentlichen die Referate einer 1995 an der Universität Bremen durchgeführten Tagung zum gleichen Thema. Die insgesamt 16 Artikel behandeln die Beziehungen zwischen Weltwirtschaft und Armut aus unterschiedlichen Perspektiven und sollen - lt. Vorwort - zu einem besseren Verständnis dafür beitragen, "daß der stärkeren Integration in die Weltwirtschaft kein Automatismus zur Überwindung der Armut innewohnt." Ausgehend von einer Kritik an der These vom "Ende der großen Theorie" stellt H. Elsenhans im ersten Beitrag des Bandes sein globale Reichweite beanspruchendes Erklärungsmodell unterentwickelter Ökonomien vor, als deren prägende Kennzeichen die Marginalität (Un- fähigkeit zur Subsistenzproduktion) eines großen Teils der Bevölkerung und die Bedeutung von Renten(einkommen) angegeben werden. Nicht nur der Modellcharakter der dargestellten Zusammenhänge, auch der ökonomistisch-kryptische Argumentationsstil des Autors macht die Herstellung von Bezügen zur konkreten Entwicklungsproblematik bzw. der realen Situation in einzelnen Drittweltstaaten oder -regionen nicht leicht. Elsenhans sieht in der Beseitigung der Marginalität in der Landwirtschaft den zentralen Ansatzpunkt zur Überwindung der Armut, wobei er zu übersehen scheint, daß die Produktions- und Produktivi-tätserhöhungen im Gefolge der von ihm geforderten Agrarreformen mittelfristig Verdrän-gungseffekte generieren werden, welche zwangsläufig das Heer der städtischen Armen vergrößern. Bedenkenswert ist sein Vorschlag, im Falle von Reformfeindlichkeit der Eliten Entwicklungshilfe nur im Austausch gegen den Armen mögliche (einkommenschaffende) Arbeitsleistungen zu gewähren, um auf diesem Weg den Binnenmarkt zu stärken.
W. Hein präsentiert Vorüberlegungen zu einer Theorie ungleicher Entwicklung im Weltmaß- stab, die auf die Erklärung der räumlich-konkreten Charakteristika der Kapitalverwertung in Abhängigkeit von globalen Entwicklungstrends abzielt. Zentrale Elemente seines Ansatzes bilden das je spezifische Verhältnis von Kapitalverwertungsbedingungen und -erfordernissen, der technische Fortschritt, die Rolle des Staates und soziokulturelle Faktoren; außerdem mißt er dem Aspekt der Ungleichzeitigkeit von Entwicklungsschüben große analytische Bedeutung bei. Der Beitrag bietet eine anregende Lektüre, auch wenn er außer einigen sehr allgemeinen Bemerkungen keine direkten Bezüge zum Phänomen Armut enthält. Unmittelbar ins Zentrum des Armutssyndroms führt hingegen ein zweiter (früher bereits an anderer Stelle publizierter) Beitrag Heins, der sich mit der Welternährungsproblematik beschäftigt. Darin werden u.a. die wesentlichen Ursachen der unzureichenden Nahrungsmittelversorgung eines Großteils der Weltbevölkerung kenntlich gemacht sowie die Dimensionen einer politischen Strategie langfristiger Nahrungssicherheit skizziert. Bei der Beantwortung der Frage, ob es bei der Gewährleistung einer global ausreichenden Nahrungsmittelversorgung in erster Linie um "mehr produzieren", "besser verteilen" oder "anders konsumieren" gehe, wird die Priorität der zweiten Alternative betont, wobei das sog. entitlement, d.h. dem Zugang zu ausreichenden Einkommen oder Produktionsfaktoren als vielversprechendster Lösungsansatz bezeichnet wird. So einleuchtend letzteres klingt, so unüberbrückbarer scheinen die machtpolitischen Barrieren einer Realisierung dieses Konzepts. Fundierte wirtschaftswissenschaftliche Kenntnisse verlangt der Nachvollzug der mit volkswirtschaftlichen Gleichungen gespickten Argumentationsführung im Beitrag von H. Schui, der entgegen der vorherrschenden Lehrmeinung die negativen Auswirkungen einer Situation des Freihandels auf Lohnhöhe und Beschäftigungsvolumen nachzuweisen sucht. Beachtung verdient seine These, daß die Tendenz zur Lohnsenkung im Gefolge wachsender internationaler Konkurrenz nicht auf unqualifizierte Arbeit beschränkt bleibt. Meyer-Stamer stellt in seinem Beitrag das von ihm und anderen Wissenschaftlern erarbeitete Konzept systemischer Wettbewerbsfähigkeit vor und fragt nach dessen Potential für Wohlstandsmehrung. Das Konzept geht von der Prämisse aus, daß der Lebensstandard der Industrienationen auf der Wettbewerbsfähigkeit der Unternehmen und deren Fähigkeit beruht, hohe Löhne zu zahlen. Es ist sodann die Qualität der Verknüpfung und der Artikulation zwischen vier Ebenen (u.a. auf der Makroebene eine verläßliche Wirtschaftspolitik), von der die Wettbewerbsfähigkeit abhängt. Lt. Meyer-Stamer bestehen trotz fortschreitender Globalisierung nationale Handlungsspielräume, die allerdings anderer Art seien als in früheren Zeiten und Optionen "jenseits von Subventionswettlauf, Sozialdumping und Ökodumping" enthielten. Der Autor anerkennt zwar, daß Wettbewerbsfähigkeit in der Dritten Welt nicht mit Wohlfahrt oder gar breitenwirksamer Entwicklung gleichgesetzt werden kann, sieht aber auch für arme Entwicklungsländer keine realistische Alternative zur Stärkung marktwirtschaftlicher Mechanismen.
M. Massarat führt den Entwicklungserfolg der Industrienationen zum einen auf technologisch bedingte Produktivitätsfortschritte und zum anderen auf systematische ökologische und soziale Kostenexternalisierung dort selbst und in der Dritten Welt zurück. Er betont den ideologischen, die Machtungleichgewichte ausblendenden Charakter des Theorems komparativer Kostenvorteile und sieht in der Kostenexternalisierung "die Hauptursache für die Verfälschung der ökologisch und sozial richtigen Marktpreise für Güter und Dienstleistungen auf den Weltmärkten, für die Verzerrung der internationalen Arbeitsteilung, für die Forcierung der asymmetrischen Wohlstandsverteilung und für die Etablierung von sozial und ökologisch nicht-nachhaltigen Strukturen." Das Erklärungsmodell bedarf wohl noch einer Vertiefung und Verfeinerung, um eine gewisse Originalität gegenüber den bisher vorliegenden theoretischen Ansätzen beanspruchen zu können. Ebenfalls nicht restlos überzeugend ist der Beitrag von G. Vobruba, der die zunehmend wichtiger werdenden grenzüberschreitenden sozialen Prozesse durch Einführung des "soziologischen Grundbegriffs" Wohlstandsgefälle zu erklären sucht. Es liegt auf der Hand, daß für massive legale und illegale Grenzübertritte von Arbeitsmigranten zuvörderst ökonomische Motive verantwortlich sind; neu sind freilich die Dimensionen solcher Prozesse. Außerdem relativiert sich die Erklärungskraft von Wohlstandsgefällen angrenzender Staaten angesichts von großräumigen Migrationsbewegungen, die mehrere Transitländer einschließen. Vobruba unterscheidet prinzipiell zwei Reaktionsmuster betroffener "reicher" Staaten: Maßnahmen der Exklusion zwecks Abwehr der Migrationswilligen und solche der Inklusion, die auf eine Verbesserung der Lebensbedingungen in den Herkunftsländern abzielen. Richtig ist der Befund, daß Begriffe einer "transnationalen Soziologie" erarbeitet werden müssen, die dem Umstand Rechnung tragen, "daß Vorgänge in einem Land die Lebensbedingungen in einem anderen unmittelbar tangieren."
R. Dombois untersucht in seinem Beitrag am Beispiel Lateinamerika die Entwicklung von Arbeits- und Sozialstandards im Globalisierungsprozeß. Die wenig ergiebigen Erörterungen münden in die Schlußfolgerung, daß die zunehmende weltwirtschaftliche Verflechtung bislang nicht zu einer umfassenden Abwärtsspirale bei Arbeits- und Sozialstandards geführt hat und daß es den auf die Einhaltung von Mindeststandards abzielenden bestehenden internationalen Vereinbarungen an effizienten Durchsetzungsmöglichkeiten mangelt. R. Kappel thematisiert die Charakteristika der afrikanischen Entwicklungskrise, die insgesamt nur wenige Lichtblicke zu bieten vermag. Angesichts der zahlreichen Strukturdefizite und der großen ökonomischen Verwundbarkeit der schwarzafrikanischen Ökonomien heben sich schon diejenigen Länder positiv vom Regelfall ab, die vergleichsweise gute Makroindikatoren aufweisen. Obwohl sie häufig die soziale Situation weiter verschlechtern, betont Kappel die Notwendigkeit von Strukturanpassungsmaßnahmen, um die Bereicherungspraktiken der Eliten zu unterminieren. In einem Kontext, in dem der informelle Sektor zum dominierenden Teil der Volkswirtschaft geworden ist, setzt der Autor auf endogene Entwicklungspotentiale, deren Stärkung er vor allem durch die zunehmenden Verstädterungsprozesse gegeben sieht. Die am Ende der streckenweise etwas befremdlichen Argumentationsführung (v.a. wegen einer Sichtweise, die die Defizite der afrikanischen Wirtschaften allzu stark aus deren Vergleich mit den Charakteristika entwickelter Ökonomien ableitet) genannten Bedingungen für eine Überwindung der Entwicklungskrise sind allzu weit von der jetzigen Realität entfernt, als daß sie Hoffnungen auf eine baldige Trendwende wecken könnten.
H. Heide stellt die konstitutiven Elemente des südkoreanischen "Wirtschaftswunders" dar. Die herausragende Bedeutung eines starken Staates, der als zentrale Planungs- und Koordi- nierungsinstanz der wirtschaftlichen Entwicklung fungierte, verweist auf das nicht-marktwirt-schaftliche Erfolgsrezept des koreanischen Modells und - indirekt - auf die geringen Chancen einer Wiederholung dieses Experiments in anderen Weltregionen. Die angeführten Daten zur Armut und sozialen Sicherung belegen zwar beträchtliche Defizite, deren Ausmaß aber nicht dem tristen Regelfall in der Masse der Drittwelt-Staaten entspricht. Einer der gehaltvollsten Beiträge des Bandes ist der von J. Betz zum Thema "Strukturanpassung, Armut und Sozialpolitik". Der Autor zeichnet ein sehr differenziertes Bild der Implikationen und Auswirkungen von marktwirtschaftlichen Strukturanpassungs-programmen, wobei es ihm auf überzeugende Weise gelingt, eine Reihe populärer Vorwürfe gegen diese Maßnahmen als Pauschal- oder Vorurteile zu entlarven. Betz gibt zu bedenken, "daß auch erfolgreiche Strukturreformen die Armut nur dann verringern können, wenn sie von Maßnahmen zur Reduzierung gesellschaftlicher Ungleichheit begleitet sind."
K. W. Menck thematisiert Art und Auswirkungen der europäischen Entwicklungskooperation mit Schwarzafrika. Das aus dieser Zusammenarbeit resultierende Potential positiver Entwicklungsimpulse für Afrika hat sich durch das Aufkommen neuer Konkurrenten aus Osteuropa einerseits und die auf eine Relativierung der Präferenzen der Lomé-Abkommen hinaus laufenden Beschlüsse der Uruguay-Runde andererseits vermindert. Vor dem Hintergrund einer Situation, in der das Ausbleiben nachhaltiger Entwicklungsfortschritte vor allem endogene Ursachen hat, qualifiziert Menck die europäischen Initiativen zwar als "erfolgreiche Ansätze zur Überwindung der Armut und zur Beschleunigung des Strukturwandels", beläßt es vor allem im Hinblick auf das Armutsproblem jedoch bei einer Aufzählung der entsprechenden Programme, ohne aussagekräftige Daten oder konkrete Beispiele zu präsentieren. J.H. Wolffs Thesen zur Armutsbekämpfung sind nur partiell einleuchtend. Er unterstellt der "entwicklungspolitisch interessierten Öffentlichkeit" die Überzeugung, Wirtschaftswachstum habe keine Armutsreduzierung zur Folge, um dann diesem Popanz die undifferenzierte Behauptung entgegenzustellen, Wachstum führe "quasi automatisch zur Reduktion der Armut". Anders als Wolff glauben machen will, bestätigt die empirische Forschung diese Extremposition nicht; Wirtschaftswachstum kann, muß aber nicht ohne weiteres zur Verringerung der Armut beitragen. Der Agrarexportboom in den 50er und 60er Jahren in Zentralamerika, der hohe Wachstumsraten und eine enorme Verschärfung des Armutsproblems brachte, bietet dazu bedrückendes Anschauungsmaterial. Mehrere Beiträge des Bandes enthalten anregende, die entwicklungstheoretische bzw. politische Debatte belebende Überlegungen und Thesen. Dies verleiht dem Reader seinen Wert, ändert aber nicht daran, daß der weit überwiegende Teil der dort versammelten Artikel keine vertiefenden Erkenntnisse zum Armutssyndrom oder originelle analytische Zugänge zu diesem globalen Problem Nr. 1 zu offerieren vermag.
Karl-Dieter Hoffmann
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