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Politik und Gesellschaft Online International Politics and Society 2/1998 |
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Matthes Buhbe
Die Türkei und die Grenzen der europäischen Integration Vorläufige Fassung / Preliminary version
Im folgenden wird argumentiert, daß
die gegenwärtig zwischen der Europäischen Union und
der Türkei erreichte Nähe Bestand haben wird. Auf absehbare
Zeit dominieren Faktoren, die sowohl ein Wegdriften der Türkei
von Europa als auch eine EU-Vollmitgliedschaft verhindern. Die
Partnerschaft mit Europa wird sich fortsetzen.
Am Fall der Türkei zeigen sich
die Grenzen der europäischen Integration. Die Erweiterung
der EU wird aus Sorge, den inneren Zusammenhalt zu verlieren,
hinausgezögert. Um die Union zu erweitern, muß sie
institutionell vertieft werden oder - was hier ausgeschlossen
werden soll - das Integrationsziel muß aufgegeben werden.
Wie im folgenden argumentiert wird, bringt die Türkei in
dieser Phase zu viele Defizite ein. Unter gegenwärtigen Bedingungen
hat der Druck der Vereinigten Staaten von Amerika, den noch bestehenden
Abstand schnellstmöglich zu beseitigen und die Türkei
bei der anstehenden Erweiterungsrunde als ersten Anwärter
auf Vollmitgliedschaft zu behandeln, keine Erfolgsaussichten.
Damit würde nämlich die Integrationskraft der EU noch
auf längere Sicht überfordert. Die EU-Außengrenze
an Syrien, den Irak und den Iran vorzuschieben, liegt bis auf
weiteres jenseits der Vorstellungskraft der Unions-Europäer.
Umgekehrt hat das Argument wenig
Plausibilität, wonach eine von Europa enttäuschte Türkei
schon morgen die Zukunft "im Islam", in einem pantürkischen
Großreich oder in einem neoosmanischen Projekt findet. Für
solche Reichsgründungen fehlen nicht nur historische Parallelen,
sondern auch die Partner, die Ressourcen und die Mehrheiten in
der Türkei. Allerdings muß eingeräumt werden,
daß die Europäische Union Sicherheitsnachteile hätte,
wenn die Türkei sich dennoch abwendete. Eine auf sich selbst
zurückgeworfene Türkei ließe befürchten,
daß die Krisenregion Nahost um einen gewichtigen Unsicherheitsfaktor
erweitert würde.
Ein Dilemma türkischer Identität
besteht in der Kluft zwischen räumlicher und gesellschaftlicher
Ortsbestimmung. Die Landmasse der Türkei berührt die
EU nur an der Peripherie. Sie ist zwischen dem Nahen Osten im
Süden, Rußland und der Ukraine im Norden und dem Iran
im Osten eingebettet. Entferntere turksprachige Nachbarn gibt
es zwischen Kaukasien und China. Doch läßt sich der
wirtschaftliche, geschichtliche, staatsrechtliche und außenpolitische
Standort nicht mit dieser Geografie beschreiben. Die Westorientierung
hat tiefe Wurzeln. Eine Annäherung an den "russischen
Norden" wäre kaum weniger mühsam als eine Zerschneidung
der Bindungen an das abendländische EU-Europa. Es wartet
auch kein Staat Arabiens oder des mittleren Ostens darauf, die
Türkei als eine führende Macht der "islamischen
Welt" zu begrüßen, und für eine Nebenrolle
ist sie zu groß.
Eine Standortskizze der Türkei,
das Problem des verblassenden Leitbildes Kemal Atatürks,
die Rollensuche nach dem Ende des Kalten Kriegs, die Beziehungen
zu Europa jenseits klassischer Sicherheitsfragen, die Wirtschafts-
und Sozialentwicklung, die Veränderungen im europäischen
und regionalen Umfeld bilden wesentliche Teile der Argumentationskette
für die eingangs behauptete "Halbdistanz", welche
die Partnerschaft zwischen der Europäischen Union und der
Türkei kennzeichnet.
Standortbestimmung nach 75 Jahren
Republik Türkei
Die Türkei ist ein junger Staat.
Am 29. Oktober 1923 wurde die Republik ausgerufen und damit der
erste Nationalstaat der Türken gegründet. Es ist zu
erwarten, daß die 75-Jahrfeier 1998 unter dem Monumentalbild
des Staatsgründers Kemal Atatürk steht. Die Festreden
werden je nach politischer Richtung verschieden sein. Einige auf
der Linken werden an seine Worte erinnern, es gäbe keinen
Gegensatz von Orient und Okzident, sondern nur den von Rückständigkeit
und Moderne. Atatürk hätte niemals an diese oder jene
Kombinationsmöglichkeit geglaubt, die die abendländische
Technik und Zivilisation mit der tradierten Religion und Kultur
des Morgenlandes zusammenbringen könnte. Er hätte die
Übermacht des Westens auf allen Gebieten als historisch erwiesen
angesehen und es daher als seine politische Pflicht betrachtet,
die Türkei durch eine kompromißlose Verwestlichung
zu retten. Andere werden an seinen stolzen Ausdruck erinnern,
daß sich glücklich schätzen könne, wer von
sich sagen könne, Türke zu sein. Für diese Redner
der Rechten und des Militärs kommt der Selbstbehauptungswille
und der Nationswerdungsprozeß, der sich mit dem Namen Atatürks
verbindet, an erster Stelle. Schließlich werden die proislamischen
Vertreter der inzwischen verbotenen Wohlfahrtspartei ihre kühne
These erneuern, ein heute noch lebender Atatürk wäre
Anhänger ihrer Bewegung und Gegner des nach ihm benannten
Kemalismus.
Westlicher und demokratischer Staat
bedeuten nicht dasselbe. Die von Atatürk und seinen Gefolgsleuten
aufgestellten Staatsprinzipien reflektierten die westliche Welt
im ersten Drittel des zwanzigsten Jahrhunderts. Es ging um die
dauerhafte Abwehr der Kolonialmächte Frankreich und England
und der Hegemonialansprüche Mussolinis, Hitlers und Stalins.
Der damals entstandene Staat symbolisiert die erfolgreiche Selbstbehauptung
gegen die Übermacht des Westens. In der Türkei rangiert
daher das nationalstaatliche Projekt weit vor dem demokratischen
Umbauprogramm, das einige Jahre nach dem Tod des Staatsgründers
begonnen wurde.
Die Europäische Union möchte
die Vereinigung der Demokratien Europas sein. Die Türkei
will an diesem Projekt gleichberechtigt mitwirken, ringt aber
selbst noch um das Primat einer zivilgesellschaftlichen Demokratie.
Der Vorrang der kemalistischen Institutionen bestimmt die aktuellen
Gesellschaftskonflikte. Islamismus und kurdischer Nationalismus
steigen als Reaktion darauf an, daß in Mißachtung
der Vorgeschichte der Republik und der Dynamik offener, demokratischer
Gesellschaften rigide Normen beibehalten werden, die für
einen anderen Zweck geschaffen worden waren. Scheinbar zeitlos
schwebt der Staatsapparat über den gesellschaftlichen Kräften
und zieht den Trennstrich zwischen legitimen Konflikten, die eine
Demokratie auszeichnen, und illegitimen, die von gewalttätigen
Feinden des Staates ausgehen. In Wahrheit gerät der Apparat
leicht außer Kontrolle. Zu viele zwergenhafte Atatürks
sind bereit, den Staat vor seinen inneren und äußeren
Feinden zu retten. Teile des Sicherheitsapparates sind dazu übergegangen,
ihren enormen Freiraum auf eigene Rechnung für persönliche
Strafaktionen auszunutzen. Hinzu kommt eine schwer berechenbare
Handhabung der gelegentlich biegsamen Rechtsinstitutionen durch
die Justiz.
Viele Staaten Europas stehen auf
den Trümmern von Vielvölkerreichen. Die außerhalb
des Balkans nach 1918 entstandenen Staaten wirken 1998 konsolidiert.
Die türkische Nation ist nicht geeint. Zwischen der Titularnation,
die zugleich als ideologisches Fundament für einen Einheitsstaat
dienen soll, und dem türkischen Staatsvolk, dessen gelebte
Nationalität auch von nationalistischen Ideologen gern als
ethnisches Mosaik dargestellt wird, besteht ein erhebliches Spannungsverhältnis.
Nicht eingelöst wird daher Atatürks Weisheit: "Frieden
zu Hause heißt Frieden in der Welt." Vor allem Kurdistan,
tief im Hinterland des Osmanischen Reiches gelegen und seit 1923
Grenzgebiet der Türkei, des Iran und des Irak, bringt die
Türkei immer wieder an den Rand eines Bürgerkriegs.
Für die Gralshüter des Kemalismus ist das türkische
Kurdengebiet Teil des "nationalen Grals": Niemals wieder
sollen Minderheitenprivilegien den Staat schwächen oder gar
zur Sezession führen: Jeder Landesteil muß also in
jeder Hinsicht türkisch werden.
Hätten Atatürk und seine
Mitstreiter auf das obere Mesopotamien verzichtet, wäre ihnen
der neue Staat zu klein erschienen. Im Anschluß an den Lausanner
Frieden verhinderten sie erfolgreich eine Integration aller osmanischen
Kurden im britischen Mandat Irak. Das Gebiet um Diyarbakir ging
an die Türkei. Kurz darauf, am 13. Oktober 1923, verlegte
Atatürk die Hauptstadt vom europäischen Istanbul ins
kleinasiatische Ankara. Der geografische Schritt erwies sich als
unzureichend für die geplante Verwestlichung des neuen Staates.
Entwicklungsökonomisch wanderte Europa nicht mit. Heute herrscht
im Kurdengebiet ein Grad an Rückständigkeit vor, der
den vom angrenzenden Anatolien noch übertrifft. Ankaras Hinterland
insgesamt steckt mitten in jener Unterentwicklung, die zu überwinden
die Kemalisten angetreten waren.
Der miteinander verwobene Kampf um
türkisches Staatsgebiet und Rechte der Türken ist noch
immer nicht entwirrt. Der in Lausanne geregelte Bevölkerungsaustausch
zwischen christlich-orthodoxen (griechischen) und muslimischen
(türkischen) Bewohnern der Ägäis und Kleinasiens
fand auf eine große Gruppe von Muslimen in Rumelien (Bulgarien
und Ostgriechenland) und auf der damals britischen Insel Zypern
keine Anwendung. Ethnische Türken, die in ihrer Heimat von
einer nichttürkischen Staatsmacht oder Mitbevölkerung
drangsaliert wurden, dienten als Argument für Militäraktionen
des türkischen Staates. Im Ägäis- und Zypernkonflikt
und in der Sandschakfrage, die das Verhältnis zu Syrien bis
heute belastet, können einzelne Provokationen hohe nationale
Emotionen auslösen, wie sie für junge Nationalstaaten
typisch sind. Auch wenn die Konfliktursachen oft nicht ethnisch
sind, sind doch die inselnahen Seegrenzen und die europäischen
Landgrenzen der Türkei bis heute Spannungsgebiet. Ein periodisches
Aufeinanderprallen des griechischen und türkischen Nationalismus
zerstört bis heute die Anläufe zum friedlichen Zusammenleben
am südosteuropäischen Rand der EU. 1974 setzte sich
die gewaltsame Bevölkerungsseparierung sogar noch fort, als
in Zypern mehrere Konfliktursachen aufeinandertrafen und zur Teilung
führten.
Die Frage seiner äußeren
Sicherheit löste der junge Staat sehr erfolgreich. Seit 75
Jahren mußte er keinen Krieg führen oder Gebietsverluste
hinnehmen. Bündnispolitisch gab die Türkei nach 1945
ihre Neutralität auf. Stalin war so mächtig geworden,
daß der Rückhalt der mindestens ebenso mächtigen
USA gesucht und in Form des Beitritts zur NATO 1952 und zur CENTO
gefunden wurde. Seit 1949 ist die Türkei Mitglied des Europarates.
Sie ist später außerdem Mitglied zweier Organisationen
geworden, in denen kein europäisch-westlicher Staat vertreten
ist: Der Organisation Islamischer Staaten OIC und der mehr wirtschaftlich
orientierten ECO. 1992 initiierte sie die Gründung der Schwarzmeer-Wirtschaftskooperation.
Die drei letztgenannten Organisationen haben bisher nur begrenzte
Bedeutung, zeigen aber drei Alternativen zum EU-Europa auf: Islamische
Welt (OIC), turanisch-iranischer Mittlerer Osten (ECO) und Neo-Osmanismus
(Schwarzes Meer).
Für ihre Sicherheitspolitik
zahlte die Türkei allerdings einen hohen Preis. Sie geriet
mit allen Nachbarstaaten immer wieder in begrenzte Konflikte,
wenn auch nicht gleichzeitig. Gegenwärtig ist die besonders
enge Zusammenarbeit mit den USA, die über die NATO-Strukturen
hinausgeht, nicht nur gegen Rußland gerichtet. Zusätzlich
zur NATO-Rolle sehen die USA in der Türkei ein Gegengewicht
zur Islamischen Republik Iran und zum Irak Saddam Husseins. Die
türkisch-syrische Gegnerschaft trägt zu einer besseren
Verständigung der Türkei mit Israel bei. Die US-Bindung
isoliert die Türkei nach Osten und Süden, während
der EU-Staat und NATO-Partner Griechenland Anlaß zu ständigen
Spannungen an der Westgrenze ist. Über die Zypern- und die
Ägäisfrage sind die beiden NATO-Staaten heillos zerstritten.
In wirtschaftlicher Hinsicht ist
die Westverankerung der Türkei am tiefsten. Die EU ist der
mit Abstand wichtigste Handelspartner, und die Türkei ist
mit ihr 1996 eine Zollunion eingegangen. Im westtürkischen
Dreieck Istanbul-Bursa-Izmir wird über die Hälfte des
Bruttosozialprodukts erzeugt. Das Pro-Kopf-Einkommen entspricht
hier etwa dem griechischen. Einige Privatunternehmen der Istanbuler
Geschäfts- und Medienwelt bewegen sich in wirtschaftlichen
Größenordnungen, die in kleineren europäischen
Ländern durch keinen Konzern erreicht werden. Fünf gegensätzliche
Parteien haben in den letzten 20 Jahren die Oberbürgermeister
Istanbuls gestellt, ohne die Stadt wirklich zu regieren. Das urbane
Leben dominiert seit langem die Stadtpolitik und diktiert einen
kosmopolitischen Rhythmus der Verwestlichung.
Mit dem sicherheitspolitischen und
wirtschaftlichen Erfolg haben 75 Jahre Republik einen großen
gesellschaftlichen Wandel bewirkt. Aus dem von Sultan und Militärbürokratie
autoritär beherrschten Agrarstaat ist ein typisches Schwellenland
geworden, das ein hohes Maß an rechtsstaatlichen Prinzipien
und an demokratischem Pluralismus aufweist. Bildungs- und Gesundheitswesen
werden als staatliche Aufgaben verstanden, deren Ausbau die Bevölkerung
von den Politikern fordert. "Gläserne Polizeidienststellen"
und "Wohlstand für alle" bewähren sich zumindest
als Wahlkampfthemen. Negativ zu vermerken und ebenfalls typisch
für ein Schwellenland ist das gemessen an den reicheren OECD-Staaten
unvergleichlich hohe innerstaatliche Gefälle der regionalen
Wirtschafts- und Sozialentwicklung. Im Hinterland befinden sich
noch ganze Landstriche unter der Vormundschaft von Grundherren,
und stammesartige Gemeinschaften genießen dort noch oberste
Loyalität. In den Millionenstädten Ankara und Adana,
Istanbul und Izmir prallen städtische Individualität
und ländliche Werteordnung quer durch die Familien aufeinander.
Die Ballungszentren bieten ein Bild der Schnellebigkeit und Dynamik.
Weniger als die sozialen Gegensätze bestimmt der soziale
Umbruch die urbane Türkei. Dies spiegelt sich auch in der
Welt der Gläubigen wieder, die ihr Verständnis vom Islam
mit der "Modernität" und insofern auch mit dem
republikanischen Nationalstaat sehr gut, gar nicht oder eben doch
irgendwie vereinbaren können. Deshalb ist auch die These
keineswegs erhellend, die Bürger der Türkei gehörten
einem anderen Kulturkreis an als die Bürger der EU. Analog
müßte man sonst, was niemand bisher tut, einen bestimmten
Katholizismus der Polen oder Teile der Orthodoxie auf dem Balkan
und in Osteuropa auf den Prüfstand der Kulturverträglichkeit
stellen.
Wirtschaft, Politik und Gesellschaft
spiegeln also die Nachbarschaft zu Europa wieder. Der eben skizzierte
Standort der Türkei ist, so soll im folgenden gezeigt werden,
dauerhafter als vielfach angenommen wird.
Das Projekt der Europäischen
Union
Eine große und eher zunehmende
Zahl von EU-Bürgern beklagt, die Union sei schwerfällig
und bürgerfern. Viel kleiner ist die Zahl derjenigen, die
die Unionsidee als solche ablehnen. Neben nationalen Identitäten
existiert ein Zusammengehörigkeitsgefühl und ein gewachsenes
Vertrauen in die Möglichkeiten friedlicher Zusammenarbeit
unter Europäern. Die Ordnung dieser Idee zum politischen
Projekt begann zwar zeitgleich mit dem Kalten Krieg, als Europa
machtpolitisch zerschnitten wurde. Aber über defensive Zwecke
ging die Vision weit hinaus. Die westeuropäischen Demokratien
wollten nach 1945 zwei Tendenzen außer Kraft setzen: Daß
europäische Staaten aufgrund geopolitischer Gesetzmäßigkeiten
zwangsläufig rivalisieren und daß der europäische
Frieden immer ein Paktsystem verlangt, das ein Kräftegleichgewicht
rivalisierender Staaten darstellt. Die Instabilität der Bündnispolitik
hatte zu zwei Weltkriegen geführt. Der Gleichgewichtslogik
war außerdem der Boden entzogen, da die dafür notwendige
Definition der Grenzen Europas im Kalten Krieg rein akademisch
war.
Dem Geist der Römischen Verträge
entsprach kein militärisches Bündnisdenken - eine Aufgabe,
die anstelle der gescheiterten Europäischen Verteidigungsgemeinschaft
der NATO zukam. Die Gemeinschaft sollte nicht gegen andere gerichtet
sein. Sie sollte offen sein für alle europäischen Demokratien
mit derselben Vision kollektiver Sicherheit in Freiheit. Für
das Konzept eines europäischen Friedens durch freiwillige
Zusammenarbeit aller Nationen, die eine damit vereinbare nichttotalitäre
Staatsform haben, war mit dem besonderen Rückhalt der Bürger
zu rechnen, weil auf dem Gebiet der Gründerstaaten die Schlachtfelder
zweier Weltkriege lagen.
Der große Erfolg des Projekts
half lange Zeit über zwei Engpässe hinweg: Die Vision
durch Formulierung einer gemeinsamen Außen- und Sicherheitspolitik
praktikabel zu machen und die Unionsdisparitäten in wirtschaftlicher,
sozialer und bürgerrechtlicher Hinsicht abzubauen. Die eine
Schwierigkeit wurde durch die bipolare Welt des Kalten Krieges
verdeckt. Die Führungsrolle der Vereinigten Staaten war unbestritten,
und die strategischen Planungen im Rahmen der NATO galten als
prioritär. Nach dem Fall des Eisernen Vorhangs brach die
Sowjetunion zusammen, und EU-Europa mußte sich neu positionieren.
Spätestens jetzt stellte sich die Frage nach der gemeinsamen
Außen- und Sicherheitspolitik mit aller Dringlichkeit. Vor
allem mußte eine handlungsfähige Integrationspolitik
formuliert werden, die die europäische Vision mit der begrenzten
Integrationskraft der Mitgliedsstaaten und mit ihrer unterschiedlichen
Bereitschaft zum Umbau der EU in Einklang brachte. Bevor man über
europäische Interessen außerhalb Europas einig werden
konnte, mußte man darüber einig werden, was konkret
mit "europäisch" gemeint war. Man brauchte dazu
eine präzisere Definition der Grenzen Europas. Auf dieser
Basis konnten neue Sicherheitsüberlegungen gemacht werden,
die das transatlantische Bündnis und Zustände außerhalb
Europas betrafen.
Die andere Schwierigkeit wurde lange
Jahre durch eine glänzende sozioökonomische Entwicklung
verdeckt. Heute ergehen Beitrittsangebote an sozioökonomisch
schwache Wirtschaftsräume, deren Stabilisierung erhebliche
EU-Anstrengungen verlangt, während die Union sich in einer
nicht absehbaren Wirtschaftskrise mit wachsender Massenarbeitslosigkeit
befindet. Die EU-Bürger sind immer weniger davon zu überzeugen,
daß die Ressourcenabflüsse in Richtung zukünftiger
Beitrittsstaaten überhaupt notwendig sind und weitere Beitritte
ihrer Ursprungsidee von Europa wirklich entsprechen. Eine erfolgreiche
Integrationspolitik braucht bürgernahe Erfolge auch und besonders
in den alten Mitgliedsstaaten. Man muß den Gegenwert für
die Verminderung nationaler Souveränitätsrechte bei
der Vertiefung der politischen Institutionen spürbar genug
gestalten, damit für das Gesamtprojekt einer erweiterten
Union das erforderliche Maß an demokratischer Zustimmung
erhalten bleibt. Mindestvoraussetzungen dürften dabei sein,
daß es für die Unionsbürger zu keiner wirtschaftlichen
Schlechterstellung und zu einer erkennbaren Besserstellung in
nichtwirtschaftlichen Bereichen kommt. Dieser Gegenwert wird unter
anderem darin bestehen müssen, daß die Regelung von
Alltagsrisiken des Zusammenlebens besser gelingt und der EU-Bürgerstatus
umfassendere Handlungsfreiheiten schafft. Die Ausdehnung des Geltungsbereichs
sozialer Rechte und Schutzbestimmungen sind Teil dieses Gegenwerts.
Und die EU-Bürger verlangen, daß sie sich in jedem
Winkel der Union immer "harmonischer" ähnlich wie
ein Inländer bewegen und gleiche Rechtssicherheit erwarten
können. Das Vertrauen in das Gefühl muß wachsen,
Europa habe die besseren Antworten auf den wirtschaftlichen, sozialen
und politischen Wandel als jeweils der eigene Nationalstaat allein.
Eine große und eher zunehmende
Zahl von EU-Bürgern beklagt, daß die Union diese Antworten
schuldig bleibt. Hinsichtlich der Erweiterung sieht man die Vorteile
einseitig bei den beitretenden Staaten und die Lasten bei der
bestehenden Union. Das EU-Projekt zeigt Sättigungserscheinungen.
Es umreißt keine Festung Europa mit endgültigen Grenzen
und abweisenden Frontlinien. Aber es kann nur wirksam bleiben,
wenn es auf seine regionale Begrenztheit Rücksicht nimmt.
Sicherheitsüberlegungen,
die der Vollmitgliedschaft entgegenwirken
Bei Sicherheitsfragen denkt man zunächst
an die NATO, an das Ende des Kalten Krieges, an die Krisen im
Nahen und Mittleren Osten und an geopolitische Aspekte. Gegenwärtig
verlagern sich die Kräfte so gewaltig, daß die EU nicht
mehr länger ohne eine gemeinsam vertretene Strategie auskommt,
wenn sie den Weg zu einer neuen Weltordnung mitgestalten will.
Europa muß mit einer Stimme sprechen können, Sicherheitsfragen
eingeschlossen.
Für die gemeinsame Sicherheit
und für den strategischen Konsens, wie sie aufrechtzuerhalten
ist, könnte die Aufnahme der Türkei in die EU ein Gewinn
für beide Seiten, für nur eine Seite oder für keine
der beiden Seiten sein. Auch wenn diese Feststellung trivial ist,
weist sie auf die Notwendigkeit hin, zu begründen, weshalb
die EU ohne die Türkei weniger Sicherheit haben sollte. Wenn
es bisher ein Sicherheitsdefizit gegeben hat, so führte dieser
Faktor jedenfalls nicht zur EU-Mitgliedschaft. Die Türkei
war ja schon NATO-Partner einiger europäischer Staaten, als
es die EU noch gar nicht gab. Trotzdem wurde sie weder Gründungsmitglied
noch Mitglied bei einer der Erweiterungsrunden danach. Es bleibt
auch in Zukunft möglich, daß durch ihre Aufnahme im
Beitrittsraum entweder gar keine oder nicht genügend zusätzliche
Sicherheit entsteht, um andere Beitrittshindernisse zu überwinden.
Das Hauptproblem besteht allerdings
darin, daß die EU bis vor die Jahrtausendwende noch gar
nicht über fest umrissene sicherheitspolitische Ziele mit
entsprechender gemeinsamer Strategie verfügen wird. Die Debatte
ist in Gang gekommen, nachdem die Teilung Europas durch das Abkommen
zwischen den Alliierten und Deutschland beendet, die sowjetischen
Truppen abgezogen und die Abrüstung in Europa fortgesetzt
wurde. Wofür und gegen wen überhaupt weitere Verteidigungsanstrengungen
gemacht werden sollen, sind für die alten und die neuen Staaten
Europas offene Fragen. Die Notwendigkeit einer solchen Debatte
zeigt sich auch darin, daß mit Schweden, Finnland und Österreich
bündnisneutrale Staaten EU-Mitglieder geworden sind und die
NATO-Neumitglieder Polen, Tschechien und Ungarn vorrangige EU-Beitrittskandidaten
darstellen. Das Versagen der EU, im Balkankonflikt rechtzeitig
mit einer nachhaltigen Strategie aufzuwarten, hat zwar den Einigungsdruck
dafür erhöht. Die Basis für das derzeitige Vorgehen
auf dem Balkan ist aber noch zu schmal, Einigung auf ein durchschlagendes
EU-eigenes Handlungskonzept so schnell noch nicht in Sicht. Die
Aufnahme der Türkei würde in diesem Stadium die Komplexität
der Aufgabe ganz erheblich erhöhen. Den Zugewinn an Sicherheit
zu kalkulieren, wenn man innerhalb der bestehenden EU noch gar
keinen sicherheitspolitischen Konsens hergestellt hat, ist kaum
möglich.
Tatsächlich würde die Türkei
im Gegensatz zu den NATO-Neumitgliedern Polen, Tschechien und
Ungarn eine Reihe von konfliktbeladenen Themen in die EU hineintragen.
Bei jedem dieser Probleme bestehen Zweifel, ob deren Lösung
hohe Priorität für Europa hat und wenn ja, ob sie durch
eine EU-Mitgliedschaft der Türkei einfacher zu lösen
sind.
Es ist dieser Zweifel selbst, weniger
die Berechtigung dazu im Einzelfall, der zur Verschiebung der
EU-Mitgliedschaft der Türkei beiträgt. Darum sollen
hier nur einige Probleme aufgezählt, nicht analysiert werden.
Zum asiatischen Problemkreis kommen
innereuropäische Konflikte, an denen die Türkei beteiligt
ist. Auf dem Balkan, in der Ägäis und hinsichtlich Zypern
könnte die Türkei zu Lösungen beitragen. Zum Beispiel
wäre ein Handel denkbar, bei dem die Türkei für
ihre Vollmitgliedschaft im Gegenzug den entscheidenden Beitrag
zur Beilegung der griechisch-türkischen Gegensätze beisteuert.
Um dadurch für alle mehr Sicherheit einzutauschen, müßte
der türkisch-griechische Konflikt allerdings relativer Natur
und nicht fundamental sein. Ein solcher unüberbrückbarer
Interessenkonflikt galt in der nordatlantischen Allianz bisher
als Grund dafür, daß keine Lösung gefunden werden
konnte. Kann Griechenland zusammen mit der EU der Türkei
trotzdem Garantien geben und kann die Türkei daraufhin eine
Gegenleistung machen, so daß der Dauerkonflikt mit der EU-Mitgliedschaft
verschwindet? Eine Entspannung im Ostmittelmeerraum hängt
von dieser Frage ab, nicht von der EU-Mitgliedschaft als solcher.
Am deutlichsten zeigt das die Zypernfrage.
Weder die mehrfachen Verhandlungsrunden unter Federführung
des Generalsekretärs der Vereinten Nationen noch die Bemühungen
innerhalb der NATO konnten den Konflikt aus der Welt schaffen.
Alle Bemühungen der EU waren ebenfalls vergeblich. Die Türkei,
eine der drei Garantiemächte für die Unabhängigkeit
des Inselstaates und für ein friedliches Zusammenleben der
beiden Volksgruppen Zyperns, gibt neben ihrer Schutzrolle eigene
vitale Sicherheitsinteressen an, die gegen alle bisherigen Lösungsmodelle
stehen. Ein feindliches oder für Feinde der Türkei zugängliches
Zypern würde die Einschnürung der Türkei vom Mittelmeer
her perfekt machen. Die Seemeilenzonen um Zypern und um die griechischen
Inseln decken das Wasser und den Luftraum vor der Landmasse der
Türkei ab. Die Inseln gelten als vorgeschobene Basen eines
potentiellen Feindes. Wenn dieser Feind auch der NATO-Partner
Griechenland sein kann, wäre dieses Problem durch EU-Mitgliedschaft
nicht einfach vom Tisch.
Bedauerlicherweise hat die EU 1997
den Konflikt durch die Luxemburger Entscheidung zugespitzt, Zypern
in die erste Reihe der Beitrittskandidaten aufzunehmen und die
Türkei überhaupt nicht mehr als Beitrittskandidat zu
erwähnen. Sie bringt die Inseltürken zwischen zentrifugale
Kräfte. Sie verschärft den Druck auf sie, mit den Inselgriechen
zu kooperieren, da diese andernfalls die Beitrittsverhandlungen
allein in der Hand hätten. Sie verschärft andererseits
den Druck Ankaras auf sie, sich jeder EU-Annäherung zu verweigern,
solange Interessen der Türkei davon negativ betroffen sein
könnten. Das absurde Ergebnis dürfte wahrscheinlich
ein entschiedenes Vorgehen Ankaras gegen ein Heranrücken
der EU an die türkische Südgrenze sein, das mit der
Aufnahme Zyperns verbunden wäre. Die Überlegung, daß
ein Zusammenrücken von EU und Türkei sicherheitsstabilisierend
ist, wird somit in ihr Gegenteil verkehrt.
Andere Faktoren, die einer Mitgliedschaft
entgegenwirken
Die EU kennt kein festes Aufnahmestatut.
Es gibt aber zweifellos Kernanforderungen, die sich wie folgt
benennen lassen:
Ankara ist nicht nur bereit, sich
diesen Anforderungen zu stellen, sondern auch der Auffassung,
sie in hohem Maße zu erfüllen. Folgende Faktoren wirken
dem entgegen und schieben die Vollmitgliedschaft hinaus:
Grenzen des Auseinanderdriftens
von Europäischer Union und Türkei
Es gibt nicht nur Faktoren, die einer
stärkeren Integration der Türkei entgegenwirken. Auch
eine mögliche Desintegration stößt auf Grenzen.
Die Sicherheitsfrage steht in der
türkischen Politik ganz obenan, und sie wird seit über
40 Jahren mit der NATO-Mitgliedschaft beantwortet. Eine zunehmende
Entfremdung von Europa könnte zum NATO-Austritt führen
mit der Folge, daß sich die Türkei ihre Sicherheit
allein oder mit neuen Partnern verschaffen müßte. Auf
sich allein gestellt würde die Türkei eines der folgenden
Szenarien anstreben müssen:
Option neutrale Regionalmacht.
Um die Rolle einer strikt neutralen Regionalmacht zu erfüllen,
muß Ankara die Brücken nach Rußland, in den Kaukasus
und nach Mittelasien, in den Iran und nach Arabien ohne Unterstützung
von EU und NATO ausbauen. Zweifellos sind mit dem Ende des Kalten
Krieges die Möglichkeiten gewachsen, nach allen Seiten Neutralitäts-
und Freundschaftsabkommen zu schließen. Eine Distanzierung
von EU und NATO könnte diese Möglichkeiten noch verbessern.
Damit sind aber erhebliche Stabilitätsrisiken verbunden,
die Ankara zur Vorsicht anhalten werden. Der Schutzschild und
die Rüstungshilfe der NATO entfallen, obwohl das türkische
Militär nicht einfach abgebaut werden kann. Als Regionalmacht
braucht die Türkei sowohl militärische Stärke als
auch wirtschaftliche Leistungsfähigkeit. Andernfalls bildet
sie einen hohlen Zwischenraum zwischen anderen Mächten der
Region, der von ihnen eingedrückt werden könnte. Eine
Stärkung der Wirtschaft auf Kosten der militärischen
Anstrengungen würde sich das türkische Militär
im übrigen wohl kaum mit dem Argument abhandeln lassen, alle
Kraft müsse in den nichtmilitärischen Wirtschaftsaufbau
gesteckt werden. Im Endeffekt wäre Ankara so oder so auf
eine Schaukelpolitik angewiesen. Die Aussicht, aus Schwäche
zwischen dem postsowjetischen Raum und dem Nahen und Mittleren
Osten hin und her zu pendeln, bremst die Neigung, sich von Europa
abzuwenden.
Option Schwarzmeerunion.
Eine Schwarzmeerunion könnte man sich ähnlich wie die
EU auf der Basis einer politischen Vision vorstellen, die die
bitteren Erfahrungen vergangener Kriege in einem wirtschaftlichen
Kooperationsprojekt überwindet. In Istanbul unterzeichneten
elf Staaten 1992 eine Erklärung in dieser Richtung. Die Fortentwicklung
des Projekts eröffnete eine interessante Perspektive. Statt
mit der EU würde die Türkei mit dem Erbfeind Rußland
eine besondere Allianz bilden und die anderen Staaten der Region
integrierend mit hineinziehen. Inzwischen hat sich die Anfangsbegeisterung
gelegt. Die türkisch-russische Verständigung kam nicht
voran, und keines der regionalen Probleme wurde gelöst. Gegen
den mittelfristigen Erfolg sprechen nicht nur aktuelle Konflikte
zwischen den Partnerstaaten, an erster Stelle der Karabachkonflikt
zwischen Armenien und Aserbaidschan, sondern vor allem der geopolitische
Widersinn, die gesamte eurasische Landmasse Rußlands an
den Schwarzmeerraum zu binden. Rußlands Interessen zwischen
Pazifik und Atlantik lassen sich nicht einer Binnenmeerregion
unterordnen. Man könnte nun daran denken, die Russische Föderation
gänzlich oder bis auf unbedeutende Provinzdistrikte auszugrenzen.
Man hätte dann eine neoosmanische Union von muslimischen
und christlichen Völkern des untergegangenen Osmanenreichs.
Ohne stabile EU-Bindung ist diese kleinere Gruppierung aber ebenso
widersinnig, weil sie die notwendige Allianz der beiden wichtigsten
Anrainerstaaten des Schwarzen Meers unterbindet. Die Anziehungskraft
der Türkei allein ist entschieden zu niedrig, um Griechenland
aus der EU oder die Ukraine aus der russischen und mitteleuropäischen
Einflußzone herauszuziehen. Daher ist die Schwarzmeerunion
keine Option, die besondere Anreize für eine wachsende Distanzierung
von der EU schafft.
Option Turkverbund.
Der großtürkische Ansatz orientiert sich am zentralasiatischen
Herkunftsgebiet der türkischen Sprache und an den Turkvölkern
als Kulturgemeinschaft. Die damit verbundene Abwendung von Europa
wird von mehreren Faktoren gebremst. Erstens verursachen die Ungereimtheiten
der pantürkischen Idee nicht anders als beim Pangermanismus
oder Panslawismus Spannungen im großtürkischen Raum.
In "Turkestan" (Südkasachstan, Xinjiang, Kirgisistan,
Turkmenistan und Usbekistan) und im Kaukasus (Aserbaidschan) erinnert
man sich an kein großtürkisches Reich, das unter der
Führung Ankaras oder jemals unter irgendeiner anderen Macht
bestanden hätte. Man möchte russische nicht gegen türkische
Bevormundung eintauschen. Der Annäherungsprozeß nach
1990 ist auch aus diesen Gründen zum Stillstand gekommen.
Zweitens fühlen sich andere Staaten und Völker in diesem
Raum bedroht - das kleine Armenien ebenso wie das große
Rußland oder der Iran. China will Xinjiang nicht verlieren.
Drittens würde der innerstaatliche Konflikt zwischen Kurden
und Türken angeheizt. Auch viele "nichtkurdische"
Türken würden schon deshalb die Hinwendung nach Mittelasien
ablehnen. Viertens würde der Türkei als dem wirtschaftsstärksten
Teilstaat die Aufgabe zufallen, die großtürkische Union
mithilfe zusätzlicher Ressourcen zu stützen. Würde
sich Ankara nur der Bodenschätze im postsowjetischen Raum
bedienen, wäre die Union schnell zerfallen. Da andererseits
die Türkei bisher nicht einmal ihr innerstaatliches Entwicklungsgefälle
abbauen konnte, wäre die zusätzliche Integrationsaufgabe
in Wirklichkeit ein Sprengsatz. Deshalb dürfte eine Abkehr
von Europa auf der Grundlage großtürkischer Pläne
auf massive politische Gegenkräfte stoßen.
Option Islamische Regionalallianz.
Auch gegen eine zunehmende Annäherung an Nachbarstaaten mit
dem Ziel einer Union, die sich auf den Islam beruft, sprechen
eine Reihe von Gründen. Die kemalistische Staatsdoktrin müßte
zusammenbrechen. Die proislamischen Kräfte müßten
den türkischen Nationalismus erfolgreich auf die Vision eines
muslimischen Internationalismus umlenken. Die Neuorientierung
müßte auf konkrete Partnerstaaten ausgerichtet werden.
Die potentiellen Partner müßten ihrerseits auf die
Türkei zugehen. Trifft irgendeine dieser Entwicklungen nicht
ein, bleibt der islamische Integrationsprozeß stecken. Weder
die islamische Geschichtsepoche des Nahen und Mittleren Ostens
noch die gegenwärtigen Beziehungen der Staaten mit muslimischer
Bevölkerungsmehrheit lassen erkennen, daß ein erfolgreicher
Integrationsprozeß bevorsteht. Die Türkei ist Mitglied
in der Organisation der islamischen Staatenwelt OIC, die sich
von Nigeria und Mali über Saudiarabien und Afghanistan bis
Bangladesch und Indonesien spannt. Es besteht wenig Aussicht,
daß die bisher schwache Integrationskraft der OIC durch
verstärkte türkische Anstrengungen merklich steigen
kann. Die Türkei ist außerdem Mitglied der ECO mit
den Kernstaaten Iran, Pakistan und Türkei, die nach der Aufnahme
einer Reihe postsowjetischer Republiken eine iranisch-turanische
Prägung hat. Was ursprünglich ein Instrument US-amerikanischer
Eindämmungspolitik gewesen war, könnte nun eine islamische
Mittelmacht zwischen der arabischen Welt und Indien werden. Voraussetzung
dafür wäre die endgültige Überwindung der
Rivalität des Iran mit der Türkei und Turkestan einerseits,
Afghanistan und Pakistan andererseits. Unter islamischen Vorzeichen
wären die Voraussetzungen dazu besonders ungünstig.
Die Zerteilung des sunnitischen Raums durch Schah Ismail I. vor
500 Jahren, dessen schiitische Glaubensauffassung zur Staatsreligion
des Iran wurde, hat bis heute Bestand. Die schon 1555 im Frieden
von Amasya gezogene scharfe Trennlinie nach Westen ist noch heute
die Grenze zwischen der Türkei und dem Iran. Sie ist damit
Ausdruck eines Kräftegleichgewichts regionaler Rivalen. Die
überwiegend aus Armeniern, Aseris und Kurden zusammengesetzte
Grenzbevölkerung stellt eine "ethnisch-religiöse
Zwischenzone" dar. Gewissermaßen als Gegenstück
sind die multiplen Konflikte im Osten Irans in Afghanistan und
Tadschikistan Ausdruck eines Ungleichgewichts. Die Machtkämpfe
sind weder durch die postsowjetischen Staaten noch die USA, weder
durch die Islamische Republik Iran noch durch die Islamische Republik
Pakistan unter Kontrolle zu bringen. Insofern bietet der ECO-Raum
keinen Anhaltspunkt für den Islam als einigendes Band der
Völker. Ähnliche Überlegungen ergeben sich in bezug
auf den arabischen Raum. Anders als der Iran waren die heutigen
arabischen Staaten Teil des Osmanischen Reiches. Mit dieser Zeit
verbinden die Araber negative Erinnerungen, die eine Reintegration
unter dem Banner des Islam erheblich behindern. Die Arabische
Liga ist in den letzten Jahrzehnten wenig vorangekommen. Eine
Islamische Liga aus den muslimischen Nachfolgestaaten des Osmanischen
Reiches dürfte auf noch größere Schwierigkeiten
stoßen.
Option Tigerclub.
Daß das politökonomische Modell Südkoreas oder
von "Tigerstaaten" wie Malaysia und Thailand auch für
die Türkei anziehend sei, hat seit der ostasiatischen Finanzkrise
1997 eine gesunkene Anhängerschaft. Nun war die Türkei
in der Vergangenheit gar nicht so weit entfernt von einer kapitalistischen
Entwicklungsdiktatur, in der Demokratisierung erst vorgesehen
war, wenn sich der volkswirtschaftliche Wachstumserfolg zufriedenstellend
eingestellt haben würde. Sie hat den Weg zur Demokratie aber
frühzeitiger eingeschlagen als die "Tigerstaaten".
Um auf deren Kurs zu wechseln, bräuchte sie im übrigen
keine Verbindung dorthin, da solche Staaten keine Bindung untereinander
suchen. Nötig wäre ein türkischer Sonderweg zurück
in die Entwicklungsdiktatur. Ob das Militär, der wohl einzig
mögliche Träger dafür, genügend Partner in
der Wirtschaft findet, muß stark bezweifelt werden, und
nach 50 Jahren Demokratisierung würde es aus allen Schichten
starken Widerstand geben.
Option Sonderbündnis mit
den USA. Theoretisch könnte
sich die Türkei auch ohne NATO-Mitgliedschaft strategisch
an die USA binden. Mit einer Sicherheitsgarantie der USA im Rücken
könnte sie als Polizist des Nahen Ostens auftreten. Ohne
Einbindung in die NATO-Strukturen dürfte dies jedoch für
beide Seiten unattraktiv sein. Die Türkei müßte
in der gegenwärtigen Konstellation für Israel und gegen
die eigenen Nachbarstaaten in Stellung gehen. Diese würden
enger zusammenrücken, um der zusätzlichen Front besser
gewachsen zu sein. Möglicherweise würden sie ihrerseits
feindliche Aktionen in Richtung Türkei unternehmen, wenn
sie Israel oder die USA nicht direkt treffen wollen oder können.
Die schon bestehenden direkten Konflikte zwischen der Türkei
und ihren Nachbarn kommen hinzu. Dadurch wachsen die Möglichkeiten,
daß die USA ungewollt in Regionalkonflikte hineingezogen
werden. Die Spannungen würden wahrscheinlich auch bezüglich
Zypern und Griechenland steigen, da die Türkei frei von NATO-Verpflichtungen
und EU-Rücksichtsnahmen wäre. Letztlich sind die destablisierenden
Wirkungen sowohl für den "US-Schlagstock" Türkei
als auch für die Garantiemacht USA unkalkulierbar.
So zeigt sich am Beispiel der Sicherheitsfrage
und der internationalen Beziehungen, daß der Desintegration
deutliche Grenzen gesetzt sind. Bei einer politischen Entwicklung,
die diese Grenzen zu überschreiten droht, ist mit starken
Gegenkräften zu rechnen. Letztlich wäre die Gesamtwirkung
ungewiß, aber eine zunehmende Entfernung von Europa muß
als unwahrscheinlich gelten.
Die europäische Perspektive
der Türkei
Es wurde argumentiert, die Türkei
werde weder bald EU-Mitgliedsstaat noch werde sie sich stark von
der EU entfernen. Daraus ergibt sich eine unbestimmte Nähe,
die nicht mit guter Nachbarschaft oder gleichberechtigter Partnerschaft
verwechselt werden darf. Die konkrete Politik der Regierungen
entscheidet mit darüber, welche nachbarschaftlichen und partnerschaftlichen
Beziehungen sich einstellen.
Es liegt im Interesse der Union,
die europäische Perspektive für die Türkei ständig
zu verbessern. Auf Faktoren, die sie beeinflussen kann und die
dieser Perspektive entgegenstehen, sollte sie daher abschwächend
einwirken. Neben den in diesem Artikel genannten Faktoren sollte
eine protürkische Politik die Risiken "innerer Befindlichkeit"
bekämpfen. Sie sollte sowohl aktiv gegen Blockadestimmungen
in den Unionsstaaten vorgehen als auch angemessen auf die antiwestlichen
Aspekte der Reislamisierung in der Türkei reagieren. Unbedingt
sollte sie etwas gegen den falschen Eindruck unternehmen, die
EU täte nichts für die Türkei, weil sie deren Westorientierung
ohnehin für unumstößlich halte.
Die europäische Perspektive
gerät durch EU-interne Stimmungen in Gefahr, die von sozialer
Deklassierung und sozialer Konkurrenz, Xenophobie und Angst vor
Fremdbestimmung hervorgerufen werden. EU-Ausländer könnten
zunehmend zum Sündenbock für alle möglichen Fehlentwicklungen
werden. Den EU-Erweiterungsplänen könnte entgegengerufen
werden: "Erst kommen wir!" Würde der stetig wachsende
Anteil muslimischer Europäer zu vermehrten Bürgerkonflikten
führen, wäre auch die Partnerschaft mit der Türkei
gefährdet. Abseits von Katastrophenszenarien steht die EU-Innenpolitik
hierbei vor einer lösbaren Aufgabe. Das Paradox wachsender
Entfremdung durch engere Nachbarschaft, welches die muslimische
Diaspora in der Union hervorrufen könnte, hat nur bedingten
Realitätsgehalt. Das Zusammenleben hat zu mehr Toleranz beigetragen
und die Zivilgesellschaft vielerorts gestärkt. Auch kulturphilosophische
Debatten, ob die Gegensätze zwischen islamischer und westlicher
Zivilisation unüberbrückbar seien oder nicht, laufen
ins Leere. In der EU frei leben, aber auch EU-Mitgliedsstaat werden
kann nur, wer sich den geltenden gesetzlichen Standards anpaßt.
Dieser Maßstab taugt besser als die Ideengeschichte. Im
übrigen ist die westliche Zivilisation weit verteilt über
Raum und Zeit entstanden. Ihre Werte waren einmal in Spanien weniger
präsent als in der Türkei. Darum ist die Herleitung
der europäischen Identität aus abendländischen
Werten, zu welchen der islamische Kulturkreis sich antagonistisch
verhalte, historisch und soziologisch kaum zu begründen.
Europas Arroganz in bezug auf den Islam ist ein Risikofaktor,
und Phobie aus Unkenntnis ist eine tiefere Ursache dafür.
Auf der anderen Seite trifft es zu,
daß in der Türkei gegenwärtig die Propagandisten
eines angeblichen Antagonismus der Zivilisationen Zulauf haben
und die europäische Perspektive gefährden. In der Wahrnehmung
mancher westlicher Beobachter wird dieser Zulauf auf die Formel
eines im Trend steigenden islamischen Fundamentalismus verkürzt.
Reagiert die EU auf die an diese Beobachtung geknüpfte "Reislamisierung"
unangemessen, destabilisiert sie die Partnerschaft mit der Türkei.
Im Grunde besteht die durchaus vorhandene Gefahr nicht im Islam,
sondern in der Politisierung des Spannungsverhältnisses von
Tradition und Moderne. Die Wurzeln des Aufstiegs der proislamischen
Wohlfahrtspartei sind sicherlich komplex, sichtbar entwickelte
sich aus ihnen eine Anti-Establishment-Bewegung. Die sich in Ängsten
und Enttäuschungen, wirtschaftlicher Not und Entfremdung
von vertrauten Verhaltensmustern geprägte "innere Befindlichkeit"
wird in die einfache Formel umgemünzt, der vom türkischen
Staat unterdrückte Islam biete die Lösung. Man darf
die antimodernen, antipluralistischen Kräfte in der Wohlfahrtspartei
bei der Beurteilung ihres Erfolgs nicht gering schätzen,
sollte aber auch nicht folgende Einschränkungen außer
acht lassen. Der Glaube und politische Parteien, die mit dem Glauben
werben, sind auseinanderzuhalten. Christentum und eine christliche
Volkspartei leben in einem ähnlichen Spannungsverhältnis
wie Islam und eine proislamische politische Bewegung. Man muß
demgemäß Islam und Islamismus unterscheiden. Der Islam
kennt unzählige Ausprägungen, so daß selbst innerhalb
der Türkei scharfe Glaubensgegensätze bestehen, insbesondere
zwischen Sunniten und Alewiten. Der Islamismus zeigt sich in
politischen Programmen, welche ihre Antworten in selbstgewählten
Islaminterpretationen finden. Insofern ist es wenig verwunderlich,
daß der türkische Islamismus nicht geeint ist. Ein
Teil ist nationalreligiös auf die große osmanische
Vergangenheit "unter dem Banner des Islam" fixiert und
hauptsächlich traditionellen Werten verpflichtet. Ein Teil
ist großtürkisch auf die glorreichen Leistungen der
Turkvölker fixiert und dem Islam nur als der "Religion
der Türken" verpflichtet. Ein Teil ist sozialkulturell
und antinational auf die "universalen Werte" des Morgenlandes
fixiert und hauptsächlich antikemalistisch orientiert. Erbakan
hat diese Teile mit großem Geschick zusammenhalten können;
ohne ihn wird die Bündelung noch schwieriger. Eine andere
wichtige Einschränkung betrifft nämlich die politischen
Akteure. Wie die Parteien- und Parlamentsgeschichte zeigt, stellen
ideologische Positionen nicht die einzige Triebfeder türkischer
Politik dar. Die Politiker nutzen durchaus Opportunitäten.
Schließlich sollte auch nicht
übersehen werden, daß die Politisierung des türkischen
Islams ein lang zurückreichender Prozeß ist. Die jüngsten
Wahlerfolge der Wohlfahrtspartei verdecken, daß dieser Prozeß
aufgrund häufiger Parteiverbote in der Türkei über
längere Zeitabschnitte nicht offen zu Tage trat. Islamisten
waren immer ein wesentlicher Faktor in anderen Parteien und operierten
mit Erfolg gegen das kemalistische Ziel, den Islam aus Staat und
Gesellschaft zu verdrängen. Die staatlich verordnete Säkularisierung
mußte auf diese Gegenkräfte stoßen; denn sie
forciert den von der Säkularisierung geschaffenen Gegensatz
von Tradition und Moderne. Die Islamisten sind in der türkischen
Demokratie ein Gegenspieler der Säkularisten, aber es gibt
andere Dimensionen der Politik. Deshalb finden sich in den Mitte-Rechts-Parteien
beide Gruppen, sowohl Säkularisten als auch Islamisten. Die
gegenwärtige Aufsplitterung der politischen Mehrheit, die
seit 1950 außerhalb der Partei Kemal Atatürks angesiedelt
war, hat den islamistischen Faktor gestärkt. Er bestimmt
aber deshalb noch lange nicht die türkische Identität.
Kemalisten sprechen von einer Identitätskrise, in die das Land durch innertürkische Feinde der Westorientierung, durch den von äußeren Feinden angestachelten kurdischen Nationalismus und durch die abweisende Haltung EU-Europas gestürzt worden sei. Diese Stimmung hat sich auf große Teile der national gesinnten Öffentlichkeit ausgedehnt. Die nationalistischen Töne nehmen zu, wobei die Beschlüsse des Luxemburger Gipfels vom Dezember 1997 als Beweismittel dienen. Die Türkei dürfe nicht hinnehmen, nur noch ein Erfüllungsgehilfe westlicher Sicherheitspolitik zu sein; sie müsse daher ihrerseits EU-Europa die Tore schließen. Demgegenüber sollten die EU-Staaten unmißverständlich klarstellen, daß sie an einer destabilisierten oder antiwestlichen Türkei keinerlei Interesse haben können und daß eine EU-Politik mit solchen Folgen töricht wäre. Abgesehen von der Klarstellung, daß es nicht diskriminierend ist, ein gemeinsames sicherheitspolitisches Interesse zu teilen, aber unterschiedliche europäische Integrationsauffassungen zu haben, sollte die EU ihren Willen zur Verbesserung der Beitrittsperspektive durch aktive Türkeipolitik anhand bestehender Beitrittskriterien demonstrieren. Statt der Sprachlosigkeit von Luxemburg sollte die EU einen offenen Dialog über die Defizite führen und verbindlich festmachen, auf welche Weise sie sich an der Beseitigung der Defizite beteiligen will. Ein glaubwürdiger Dialog muß den Vergleich mit den Staaten Ostmitteleuropas einschließen, die in Luxemburg eine bessere Beitrittsperspektive erhielten als die Türkei. Deren zweifellos hohe Dialogbereitschaft ist ebensowenig hinreichend für ihren Beitritt wie ihre derzeitige wirtschaftliche Lage. Auch darum ist der Dialog mit der Türkei so wichtig. |
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