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Politik und Gesellschaft Online International Politics and Society 2/1998 |
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Klaus Busch
Das Korridormodell: ein Konzept zur Weiterentwicklung der EU-Sozialpolitik Vorläufige Fassung / Preliminary version
Durch den Amsterdamer Vertrag ist das Abkommen über die Sozialpolitik
in den Vertrag über die Europäische Union integriert
worden (Art 117 bis Art 120 EUV). Zwar ist damit der prekäre
Zustand überwunden worden, daß ein EU-Staat (Großbritannien)
im Bereich der Sozialpolitik die Möglichkeit eines "opting
out" wahrnehmen kann, eine aktive Rolle in der Sozialpolitik
ist der EU damit aber nicht zugesprochen worden. Insbesondere
für die soziale Sicherheit, auf deren klassische Felder immerhin
ca. 90% aller Sozialausgaben in der EU entfallen, bleiben primär
die Nationalstaaten zuständig. Nach Art. 118 Abs. 3 des neuen
EU-Vertrages setzt ein Tätigwerden der Gemeinschaft im Bereich
der sozialen Sicherheit auch weiterhin die Einstimmigkeit der
im Ministerrat vertretenen Staaten voraus.
Mochte diese Kompetenzverteilung unter den Bedingungen des Gemeinsamen
Marktes bzw. des einheitlichen Binnenmarktes noch als angemessen
erscheinen, weil Verschiebungen in der Wettbwerbsfähigkeit,
die aufgrund unterschiedlicher Entwicklungen in den nationalen
Sozialpolitiken zustande kamen, durch die Anpassung der Wechselkurse
austariert werden konnten, gelten mit dem Übergang zur Wirtschafts-
und Währungsunion neue Spielregeln. Divergierende sozialpolitische
Strategien auf der Ebene der Nationalstaaten berühren in
der WWU direkt die Wettbewerbsfähigkeit der nationalen Unternehmen,
beeinflussen unmittelbar die Verteilung von Wachstum und Beschäftigung
in der Union. In einer Zeit, in der in allen EU-Staaten die sozialen
Sicherungssysteme durch die Kumulation von Massenarbeitslosigkeit,
Kostenexplosion im Gesundheitssektor und einer wachsenden Überalterung
der Gesellschaft hohen Belastungen ausgesetzt sind, ist dieses
Problem von besonderer Relevanz. Da die Sozialausgaben in der
EU sich auf ca. 30% des BIP belaufen, können divergente nationale
Reformstrategien zur Bewältigung der Krise der sozialen Sicherungssysteme
die Wettbewerbsfähigkeit der Staaten in der WWU erheblich
verschieben. Überdurchschnittlich radikale Einschnitte in
das soziale Sicherungssystem, d.h. ein überdurchschnittlich
schlanker Sozialstaat zahlen sich in Form einer erhöhten
innereuropäischen Wettbewerbsfähigkeit aus. Damit wird
deutlich, daß den EU-Staaten ohne eine Koordinierung ihrer
sozialpolitischen Strategien im Rahmen der WWU ein wohlfahrtstaatliches
"downgrading" ins Haus steht, ein Zurückstutzen
des europäischen Wohlfahrtstaates auf US-amerikanisches Maß
(die Sozialleistungsquote erreicht in den USA gerade die Hälfte
der entsprechenden EU-15-Quote.). Die WWU erwiese sich damit als
Katalysator für eine soziale Transformation Europas, wie
sie von konservativ-liberalen Kräften schon lange gefordert
wird.
Das Dilemma bisheriger Lösungsansätze
Selbst wenn die EU die Kompetenz hätte, den beschriebenen
Gefahren für das europäische Sozialmodell entgegenzutreten,
stünden ihr z.Zt. nur äußerst unbefriedigende
Konzepte zur Ausgestaltung einer europäischen Sozialpolitik
zur Verfügung.
Da ist zunächst der momentan herrschende konzeptionelle Ansatz
des Mindeststandardmodells. Dieses Konzept wäre akzeptabel,
handelte es sich in der EU um eine ökonomisch weitgehend
homogene Staatengruppe. Tatsächlich divergieren die Produktivitätsniveaus
zwischen den EU-Staaten erheblich, erreichen Griechenland und
Portugal nur ca. 60 %, Spanien und Irland ca. 75% des Produktivitätsniveaus
Frankreichs, Belgiens und Dänemarks. Vor diesem Hintergrund
birgt das Modell der Mindestvorschriften für Sozialstandards
eine zweifache Gefahr in sich: Entweder mißachten zu hohe
Mindestvorschriften die ökonomische Leistungsfähigkeit
der ärmeren EU-Staaten und gefährden damit deren Wettbewerbsfähigkeit
oder die Mindeststandards erweisen sich als "benchmarks",
auf die die reicheren Staaten im Zuge eines verschärften
Wettbewerbs ihre Sozialpolitik auszurichten beginnen. Als nicht weniger befriedigend als das Mindeststandardkonzept erweist sich angesichts des ökonomischen Gefälles in der EU das Harmonisierungsmodell.
Bedeutete Harmonisierung das Einpendeln auf das mittlere Niveau,
wäre die Wettbewerbsfähigkeit der ökonomisch schwächsten
Staatengruppe beeinträchtigt und zugleich ein Abwärtstrend
der Sozialstandards in der Gruppe der reicheren Staaten nicht
zu vermeiden. Verstünde man unter Harmonisierung eine Angleichung
auf dem Wege des Fortschritts, also eine Orientierung an den höchsten
Standards in der EU, verspielten bei einem regulativen Ansatz
die untere und die mittlere Staatengruppe ihre Wettbewerbskraft,
während bei einem redistributiven Ansatz die Opferbereitschaft
der Bürger der reicheren EU-Staaten zumindest subjektiv überfordert
wäre. Gemeinsame europäische Sozialkassen, die einen
dauerhaften Transferfluß von den reicheren in die ärmeren
EU-Staaten vorsehen, sind angesichts der nach wie vor primär
nationalen Identität der EU-Bürger auf absehbare Zeit
nicht vorstellbar (vergl. Leibfried 1996 sowie Majone 1996) Aus dieser Analyse der Mängel des Mindestvorschriften- und des Harmonisierungskonzepts ergeben sich folgende Anforderungen an ein alternatives Konzept für eine EU-Sozialpolitik:
Das Korridormodell
Das Korridormodell basiert auf der empirischen Beobachtung eines
sehr engen Zusammenhangs zwischen dem Entwicklungsniveau und der
Sozialleistungsquote in den EU-Staaten. Wählt man als unabhängige
Variable das BIP pro Kopf und als zu erklärende Variable
die Sozialleistungsquote (Sozialleistungen in % des BIP) zeigt
sich von Anfang der 80er bis Mitte der 90er Jahre in der EU ein
verblüffend enger statistischer Zusammenhang. Im Jahre 1993
hatte der Korrelationskoeffizient einen Wert von 0,9 (siehe auch
Tabelle 1). Das Bestimmtheitsmaß lag damit bei 0,81, d.h.,
das Entwicklungsniveau gemessen als BIP pro Kopf) "erklärt"
im Jahre 1993 zu 81% die Höhe der Sozialleistungsquote in
der EU. Berechnungen für die Jahre seit 1980 zeigen, daß
das Bestimmtheitsmaß stets zwischen 0,75 und 0,8 lag. Je
reicher ein Land ist, desto höher sind demnach die Sozialausgaben
nicht nur absolut, sondern auch relativ, desto größer
ist der Anteil des Einkommens, der für die Kranken, die Alten,
die Familien (Kinder) und die Erwerbsunfähigen zur Verfügung
gestellt wird und werden kann.
Noch enger ist dieser Zusammenhang für eine ausgewählte
Gruppe von Sozialleistungen: Korreliert man die Summe der BIP-Anteile
der Altersrenten sowie der Ausgaben für Krankheit und für
Familien, die knapp drei Viertel der gesamten Sozialausgaben ausmacht,
mit dem BIP pro Kopf, ergibt sich für die Zeit von 1980 bis
Mitte der 90er Jahre ein Korrelationskoeffizient von mehr als
0,9 und damit ein Bestimmtheitsmaß von über 0.81. Das
BIP pro Kopf "erklärt" zu mehr als 80% das relative
Niveau dieser Gruppe der Sozialausgaben. Für 1993 beträgt
das Bestimmtheitsmaß sogar 87%.
Aufgrund der Streuung des Pro-Kopf-Einkommens innerhalb der EU
lassen sich drei bis vier Staatengruppen bilden: am unteren Ende
liegen Portugal und Griechenland mit entsprechend unterdurchschnittlichen
Sozialleistungsquoten, in der Mitte bewegen sich Spanien und Irland
mit jeweils durchschnittlichen Einkommens- und Sozialleistungswerten,
während sich die übrigen EU-Staaten zu einer Gruppe
höher entwickelter Länder mit erwartungsgemäß
überdurchschnittlichen Sozialleistungsquoten zusammenfassen
lassen. Aus dieser zuletzt genannten Gruppe ließen sich
evt. Italien und Großbritannien als gesonderte vierte Kategorie
ausgliedern.
Angesichts dieses Befundes liegt es nahe, auf der EU-Ebene im
Sinne eines sozialen Stabilitätspaktes zu vereinbaren, den
bislang bestehenden sehr engen Zusammenhang zwischen dem ökonomischen
Entwicklungsniveau und den Sozialleistungsquoten auch im Rahmen
der Wirtschafts- und Währungsunion nicht aufzulösen.
Um dies zu bekräftigen. legen die EU-Staaten in Relation
zum Entwicklungsniveau für drei bis vier Staatengruppen drei
bis vier Korridore (Bandbreiten) für die Sozialleistungsquoten
fest. Durch die Festlegung derartiger Korridore (Bandbreiten)
wäre folgendes erreicht:
Entwicklungsniveau und wichtige soziale Leistungen in der EU
Während im vorangegangenen Abschnitt die Sozialleistungsquote
im Verhältnis zum BIP pro Kopf analysiert wurde, sollen jetzt
die fünf wichtigsten sozialen Leistungen, die 87% aller Leistungen
ausmachen, in Relation zum Entwicklungsniveau diskutiert werden.
Dabei geht es vor allem um die Frage, ob es sinnvoll sein könnte,
auch für die Altersrenten, die Ausgaben für Krankheit,
die Familienleistungen, die Leistungen bei Arbeitslosigkeit und
Erwerbsunfähigkeit EU-Regeln im Sinne des Korridormodells
zu vereinbaren.
In Tabelle 2 ist die Beziehung zwischen dem BIP pro Kopf und den
Altersrentenausgaben pro Person dargestellt. Der Zusammenhang
ist deutlich zu erkennen. Der Korrelationskoeffizient beträgt
0,67, das Bestimmheitsmaß 0.45. Größere Abweichungen
von der Regressionslinie zeigen sich vor allem für Spanien
und die Niederlande, deren Werte überdurchschnittlich sind,
sowie für Portugal, dessen Wert nur 35,3% erreicht. Deutschlands
Rentenausgaben pro Person liegen mit 55,6% des BIP pro Kopf unter
dem EU-Durchschnitt (57,2%) und bilden damit das Schlußlicht
in der Gruppe der reicheren EU-Staaten. Die Berechnungen dieser
Regressionsbeziehung seit Beginn der 80er Jahre zeigen, daß
der Zusammenhang zunächst abnimmt, in den 90er Jahren jedoch
wieder enger wird, was insbesondere gilt, wenn an die Stelle Westdeutschlands
das vereinigte Deutschland tritt.
Auch bei den Ausgaben für Krankheit und den Familienleistungen
(Kindergeld) ist eine positive Korrelation zum BIP pro Kopf auszumachen.
Bei den Ausgaben für Krankheit erreicht das Bestimmtheitsmaß
52%, bei den Familienleistungen 57%. Bei den Ausgaben für
Krankheit fallen Großbritannien und Italien, vor allem aber
Griechenland durch unterdurchschnittliche Werte auf. Dagegen liegen
die Werte für Portugal, Spanien, Irland und Deutschland deutlich
über der Regressionslinie. Unterdurchschnittliche Werte verzeichnen
bei den Familienleistungen Griechenland, Spanien und Italien,
überdurchschnittliche dagegen Dänemark und Großbritannien.
Seit Beginn der 80er Jahre ist der Zusammenhang bei den Ausgaben
für Krankheit deutlich enger geworden, während sie im
Falle der Familienleistungen abgenommen hat.
Eine Beziehung zwischen den Ausgaben für die Arbeitslosenunterstützung
und dem BIP pro Kopf läßt sich statistisch nicht nachweisen;
dies gilt für den gesamten Berechnungszeitraum von Beginn
der 80er bis Mitte der 90er Jahre. Auch wenn man die beiden Länder
mit den höchsten bzw. niedrigsten Werten (Niederlande und
Italien) nicht berücksichtigt, erreicht das Bestimmtheitsmaß
für das Jahr 1993 nicht einmal 10%.
Auch bei den Ausgaben für die Erwerbsunfähigkeit besteht
auf den ersten Blick nur ein äußerst schwacher Zusammenhang
mit dem Entwicklungsniveau, gemessen am BIP pro Kopf. 1993 erreicht
das Bestimmtheitsmaß hier nur einen Wert von 17%. Allerdings
ist diese geringe Korrelation im hohen Maße auf die extreme
Abweichung des Wertes für die Niederlande (das 3fache des
EU-Durchschnitts) zurückzuführen. Klammert man bei den
Berechungungen die Niederlande aus, ergibt sich immerhin ein Bestimmtheitsmaß
von 0.47.
Insgesamt zeigt der empirische Befund, daß der Zusammenhang
zwischen dem Entwicklungsniveau und den wichtigsten Sozialleistungen
im einzelnen deutlich schwächer ausgeprägt ist als die
entsprechende Beziehung zur Sozialleistungsquote als aggregierter
Größe. Bei der Arbeitslosenunterstützung ist gar
keine Korrelation mit dem BIP pro Kopf mehr auszumachen, bei den
übrigen Leistungen erreicht das Bestimmtheitsmaß Werten,
die um die 50%-Marke schwanken. Angesichts dieser Beziehung zwischen
dem BIP pro Kopf und einzelnen Sozialleistungen in der EU scheint
es zunächst nicht sinnvoll zu sein, neben dem Korridor für
die Sozialleistungsquote auch für die verschiedenen Sozialausgaben
spezifische Korridore auf EU-Ebene festzulegen. In der Tat kann
im Sinne des Subsidiaritätsprinzips argumentiert werden,
daß durch die Vereinbarung des generellen Korridors das
Ziel, Wettbewerbsverzerrungen zwischen den EU-Staaten zu vermeiden,
erreicht werde, die relative Gewichtung einzelner Ausgabenposten
innerhalb der Quote jedoch der Autonomie der Mitgliedstaaten überlassen
bleiben solle. Auch im Interesse der politischen Durchsetzbarkeit
scheint im ersten Schritt die Begrenzung der Regulierung auf die
allgemeinste Ebene vernünftig, der Vorwurf der Überregulierung,
der ohnehin gegenüber dem Korridormodell formuliert werden
dürfte, erhielte ansonsten zusätzliche Nahrung.
Auf längere Sicht sollte jedoch eine Ausdifferenzierung des
Korridormodells ins Auge gefaßt werden. Diese Erweiterung
ergibt sich aus der Überlegung, daß einzelne Staaten
eine wesentlich niedrigere Arbeitslosenquote oder eine günstigere
demographische Struktur als die übrigen Gruppenmitglieder
aufweisen können. Dies hätte eine Absenkung der Sozialleistungsquote
zur Folge, die möglicherweise zu einer Unterschreitung der
unteren Linie des Bandes führt. Unter der Bedingung, daß
der betreffende Staat bei den wichtigsten Leistungen (durchschnittliche
Renten in % der BIP pro Kopf, durchschnittliche Arbeitslosenunterstützung
in % der BIP pro Kopf, Familienleistungen je Kind in % der BIP
pro Kopf, Gesundheitsausgaben pro Person in % der BIP, etc.) den
Durchschnittsstandard seiner Einkommensklasse nicht unterschreitet,
könnte dieses Ausscheren aus dem Band akzeptiert werden.
Jedoch wäre auch eine andere politische Lösung denkbar,
die den betreffenden Staat zur Einhaltung der Bandbreite und damit
zu überdurchschnittlichen Leistungen bei einzelnen Kategorien
verpflichtete. Umgekehrt könnte vereinbart werden, daß
ein Staat, der aufgrund einer ungünstigen demographischen
Struktur und/oder einer überdurchschnittlichen Arbeitslosigkeit
die obere Linie des Bandes zu überschreiten droht, die eben
genannten Durchschnittstandards nicht einhalten muß. Diese
Regel würde eine finanzielle Überforderung von Staaten
vermeiden, die sich in einer besonderen Situation befinden.
Die Festlegung der sozialen Standards für die verschiedenen
Einkommensgruppen unter den EU-Staaten wird erst dann relevant,
wenn aufgrund besonderer Umstände (größere Divergenzen
zwischen Staaten einer Gruppe bei der Arbeitslosigkeit oder der
demographischen Struktur) die Bandbreitenlösung zu Schwierigkeiten
führt. Wann der Soziale Stabilitätspakt um die sozialen
Standards erweitert werden sollte, ist damit vor allem eine Frage
der empirischen Verhältnisse, d.h. der tatsächlichen
Entwicklung der Sozialleistungsquoten in den einzelnen Gruppen
der EU-Staaten. Da die Alters-, Hinterbliebenenrenten mehr als
40% der Gesamtausgaben für die soziale Sicherheit ausmachen,
wäre es sinnvoll, diesen zweiten Schritt in der Koordinierung
der sozialen Sicherheitssysteme der EU mit dieser Kategorie einzuleiten.
Sozialstaat Europäische Union
Die im vorhergehenden Abschnitt beschriebenen Standards für
zentrale Sozialleistungen könnten zu einem späteren
Zeitpunkt mit der Festlegung von einheitlichen Normen für
die Leistungsvoraussetzungen, die Höhe der Leistungen, spezifischen
Leistungszuschlägen, Leistungsbegrenzungen sowie Anpassungs-regeln
für die Leistungen verknüpft werden. Dies gilt für
die Altersrenten, die Erwerbsunfähigkeitsrenten, die Arbeitslosenunterstützung,
die Leistungen bei Krankheit und die Familienleistungen.
Wann die EU-Staaten bereit sein werden, auch diesen Schritt in
Angriff zu nehmen, ist schwer abzuschätzen. Die zu überwindenden
Hürden sind sehr hoch. Durch den Sozialen Stabilitätspakt
und dessen Ergänzung um Durchschnittsstandards für wichtige
Sozialleistungen mag jedoch der politische Wille, noch einen Schritt
weiterzugehen, in den EU-Staaten im Laufe der Zeit wachsen. Diese
Tendenz wird möglicherweise durch die große Konvergenz
bei den momentanen Problemen des Sozialstaats (Überalterung,
Arbeitslosigkeit, Kostenentwicklung im Gesundheitssektor) und
die große Übereinstimmung bei den nationalen Lösungsversuchen
verstärkt. Sollten die EU-Staaten auch diesen dritten Schritt
vollziehen, könnte mit Recht von einem " Sozialstaat
EU" gesprochen werden.
Am Beispiel der Altersrenten und der Arbeitslosenunterstützung
sollen die Probleme, die bei diesem entscheidenden Schritt zum
europäischen Sozialstaat zu überwinden wären, erläutert
werden.
Altersrenten
Im Bereich der Alterssicherung müßte die EU zunächst
eine Grundsatzentscheidung treffen, ob sie sich eher am System
der beitragsfinanzierten Versicherung (z.B. Frankreich, Deutschland,
Österreich) oder eher am System der Volksrenten (Dänemark,
Finnland, Schweden) orientieren will. Während in den Systemen
vom Bismarcktyp die Altersrenten eng an die Beitragshöhe
und die Beitragsdauer gekoppelt sind, ist die Rente im Volksrentensystem
nicht an die Versicherung, sondern an den Wohnsitz (Finnland,
Schweden) oder die Verknüpfung von Staatsangehörigkeit
und Wohnsitz (Dänemark) gebunden. Diese Differenz im Grundsatz
wird jedoch dadurch aufgelockert, daß in den Ländern
mit Volksrentensystem neben der Grund- oder Volksrente eine Zusatz-
oder Erwerbsrente existiert, die an die Erwerbstätigkeit
geknüpft ist. Eine Grundentscheidung auf EU-Ebene, die eine
allgemeine Sockelrente (Grund-, Volks- oder Bürgerrente)
mit einer am Erwerbseinkommen orientierten Zusatzrente verbinden
würde, müßte von daher konsensfähig sein.
Auf dieser Grundlage müßten dann die Höhe der
Volksrente, die Rentenformel für die Zusatzrente, die sogenannte
Altersgrenze, die Rentenanpassung, die Besteuerung und die Familienzuschläge
vereinbart werden. Schließlich wären die Regelungen
für den Vorruhestand (Altersgrenze, Bedingungen, Abschlagsraten)
zu treffen.
Sofern weiterhin starke Einkommensdisparitäten zwischen den
EU-Staaten bestehen, womit bei einer Osterweiterung der EU gerechnet
werden muß, wird bei all diesen Entscheidungen die ökonomische
Leistungsfähigkeit der einzelnen Staaten zu berücksichtigen
sein. Inwieweit bereits zu diesem Zeitpunkt Elemente der Redistribution
zwischen den EU-Staaten eingeführt werden können, um
z.B. eine EU-einheitliche Volksrente zu realisieren, bleibt abzuwarten.
Obwohl die konkreten Bedingungen für die Altersrenten in
den EU-Staaten stark divergieren - und von daher eine Harmonisierungspolitik
als äußerst schwierig erscheint - , sollte nicht übersehen
werden, daß sich die Altersrentensysteme jenseits der Frage
Bismarck oder Beveridge strukturell sehr ähneln. Dies gilt
etwa für die Rentenformel, die Rentenanpassung, den Vorruhestand
und dessen Abschlagsraten. Integrationsfördernd dürfte
sich auch auswirken, daß viele EU-Staaten unter dem Druck
der Finanzierungslast und der demographischen Perspektiven ähnliche
Reformschritte unternommen haben oder diskutieren. Dies gilt für
die Anpassung des Rentenalters (z.B. in Großbritannien,
Italien, Spanien, Schweden und Deutschland) sowie die Anpassung
der Rentenformel (z.B. Verlängerung der Verdienstzeiträume
bei der Rentenberechnung in Italien und Schweden). Der gemeinsame
Zwang zur Reform sollte von den EU-Staaten weiterhin zum Anlaß
genommen werden, die Systemstrukturen bei der Altersrente anzunähern.
Arbeitslosenunterstützung
Wie oben berichtet, ist die Korrelation zwischen der durchschnittlichen
relativen Arbeitslosenunterstützung (in Relation zum BIP
pro Kopf) und dem BIP pro Kopf in der EU äußerst schwach.
Das Leistungsniveau lag 1993 in den Niederlanden bei 108%, in
Italien dagegen nur bei 6%, in Spanien bei 73% und in Frankreich
bei 36%. Auf den ersten Blick erscheint deshalb eine Harmonisierungspolitik
in diesem Bereich als nahezu unmöglich. In dieser Optik wird
jedoch übersehen, daß trotz der sehr großen quantitativen
Unterschiede die systemischen Differenzen zwischen den EU-Staaten
minimal sind. Sieht man einmal davon ab, daß in Dänemark
und Schweden die Arbeitslosenversicherung freiwillig ist, während
in den übrigen EU-Staaten das Pflichtversicherungsprinzip
gilt, sind die Strukturelemente dieses Versicherungstyps sehr
ähnlich.
In allen EU-Staaten ist die Grundbedingung für eine Versicherungsleistung,
daß der Arbeitslose bei der Arbeitsvermittlung gemeldet
ist und dem Arbeitsmarkt zur Verfügung steht. Weiterhin ist
überall Vorausetzung für eine Leistung die Erfüllung
der Anwartschaft, d.h der Antragsteller muß eine gewisse
Zeit beitragspflichtig beschäftigt gewesen sein, um eine
Arbeitslosenunterstützung zu erhalten. Außer in Italien
gibt es in allen EU-Staaten ein Höchstalter für den
Bezug der Leistung; dieses liegt in der Regel bei 65 Jahren (in
manchen Ländern für Frauen bei 60 Jahren). Zur Ermittlung
der Höhe der Leistung wird in allen Systemen der Durchschnittsverdienst
einer bestimmten Periode vor Beginn der Arbeitslosigkeit herangezogen.
Ein bestimmter Prozentsatz (Leistungssatz) dieses sogenannten
Bezugslohnes wird dann als Arbeitslosenunterstützung gewährt
(Äquivalenzprinzip), nur in Großbritannien ist diese
Leistung pauschaliert (Beveridge-Tradition!). Außer in Belgien
ist die Leistung zeitlich limitiert. Die Dauer der Leistung wird
in vielen Fällen nach den Kriterien Alter des Versicherten
und/oder Länge der beitragspflichtigen Beschäftigung
berechnet. Vor Beginn der Leistung muß in einigen Staaten
(Griechenland, Frankreich, Irland, Finnland, Schweden und Großbritannien)
eine Karenzfrist verstreichen, die zwischen drei und sechs Tagen
liegt.
Im Strukturaufbau unterscheiden sich die Arbeitslosenversicherungen
in der EU also kaum. Quantitativ weichen die Leistungen jedoch
erheblich voneinander ab, weil die Anwartschaftszeiten, der Bezugslohn,
die Leistungssätze und die Leistungsdauer von Land zu Land
nach unterschiedlichen Kriterien ermittelt werden. Eine Harmonisierungspolitik
könnte also an der EU-einheitlich bewährten Struktur
des Arbeitslosenversicherungssystems anknüpfen. Gemeinsame
Lösungen müßten "nur" für die quantitativen
Kriterien der Leistungsvoraussetzungen, des Leistungsniveau und
der Leistungsdauer gefunden werden.
Zur Finanzierungsproblematik
Der Versuch, in der EU Bandbreiten für die Sozialleistungsquoten
festzulegen, um in einem WWU-Regime Wettbewerbsverzerrungen zu
vermeiden, wird dadurch erschwert, daß die Finanzierungsstruktur
der Sozialleistungen innerhalb der EU nicht einheitlich ist. Der
Anteil der steuerfinanzierten Beiträge der öffentlichen
Hand, der Anteil der Versicherungsbeiträge und deren Verteilung
auf Arbeitgeber und Arbeitnehmer ist von Land zu Land unterschiedlich.
In den vom Beveridgemodell stark beeinflußten Ländern
(Großbritannien, Irland und Dänemark) finanziert der
Staat 60 bis 80% der Sozialausgaben, dagegen tragen in den klassischen
Ländern des Bismarcktyps (Deuschland, Frankreich und Belgien),
aber auch in den Niederlanden, Italien, Spanien, Portugal und
Griechenland die Versicherten 60 bis 90% der Sozialleistungen.
Es kommt hinzu, daß sich in der zuletzt genannten Gruppe
von Ländern der Finanzierungsanteil der Arbeitgeber an den
Gesamtleistungen in einer Bandbreite von 20 bis 50% bewegt. Schließlich
ist zu berücksichtigen, daß in den EU-Staaten die Leistungen
z.T. mit Steuern und Abgaben belastet werden. In Frankreich und
Belgien beträgt die Differenz zwischen Brutto- und Nettoleistungen
ca. 1 bis 2 % des BIP, in den Niederlanden ca. 5% des BIP, in
den anderen Staaten liegt der Unterschied nach Schätzungen
der EU unter 1% des BIP.
Trotz dieser Unterschiede in der Finanzierungsstruktur der sozialen
Sicherungssysteme vermutet die Kommission, daß die Kostenbelastung
der Unternehmen in der EU bislang nicht sehr stark divergiert.
Aus den veröffentlichten Statistiken der EU läßt
sich in dieser Frage jedoch kein klares Bild ermitteln. Zwar sind
ausreichend Daten über die Finanzierungsstruktur der Sozialleistungen
(Beiträge versus Steuern) vorhanden, ob jedoch in den Ländern
mit steuerfinanziertem System generell die Steuerbelastung der
Unternehmen höher ist als in den Ländern, in denen die
Arbeitgeber über Beiträge an der Finanzierung der Sicherungssysteme
beteiligt sind, ist aus dem veröffentlichten Material (z.B.
Eurostat: "Steuern und Sozialabgaben 1982-1993", Brüssel-Luxemburg
1995) nicht zu entschlüsseln. Die Aufgliederung der Steuerkategorien
ist zu grob (z.B. Laufende Einkommen- und Vermögenssteuern),
um genaue Anhaltspunkte für die Belastung der Unternehmen
erhalten zu können. Es ist zu hoffen, daß sich hier
durch die aktuelle Diskussion über Steuerdumping in der EU
und die Vorschläge von EU-Kommissar Monti zur Bekämpfung
dieses Phänomens die Datenlage aufhellt. Auch für die
Überprüfung der Hypothese, daß in Ländern
mit steuerfinanziertem System die Lohnstückkosten höher
liegen als in Ländern mit beitragsfinanziertem System, die
Arbeitgeber damit in Beveridgeländern indirekt - über
relativ höhere Löhne, die der Staat dann auf dem Wege
der Besteuerung zur Finanzierung der Sozialleistungen heranzieht
- die Kosten der Sicherungssysteme mittragen, ist das statistische
Material nicht ausreichend.
Um sicherzustellen, daß in der EU die Kostenbelastungen
der Unternehmen aufgrund der Finanzierung der sozialen Sicherungssysteme
gleich ist, könnte politisch ein sehr einfacher Lösungsansatz
gewählt werden. Zum Beispiel ließe sich vereinbaren,
daß die Arbeitgeber 50 % der Finanzierungskosten der sozialen
Systeme tragen. Ob sie dies über direkte Beiträge, zweckgebundene
Steuern oder (im EU-Kontext und in Relation zur Produktivität)
überdurchschnittliche Löhne (die die Basis für
die Beiträge der Arbeitnehmer sind) leisteten, bliebe den
Mitgliedstaaten und ihren Systemstrukturen überlassen. Allerdings
müßten die jeweiligen Regeln transparent und damit
überprüfbar sein. Dazu wäre es dringend erforderlich
- wie oben beschrieben -, die statistische Datenlage über
Steuern, Beiträge und Löhne zu verbessern.
Das Konzept der "Sozialschlange"
Michel Dispersyn und Pierre Van der Vorst haben 1989 einen Vorschlag
zur Konvergenz der europäischen Sozialpolitik vorgelegt,
der dem Korridormodell auf den ersten Blick sehr ähnelt.
Ihr Konzept, das sie "Sozialschlange" nennen, sieht
für jede soziale Leistung die Festlegung eines mittleren
EU-Niveaus vor. Staaten, deren Sozialausgaben von diesem Mittelwert
nach oben abweichen (l'écart positif), sollen diese für
eine gewisse Periode konstant halten oder steigern. Staaten mit
einer negativen Abweichung (l'écart négatif) sollen
ihre Sozialausgaben über eine bestimmte Periode erhöhen,
so daß insgesamt auf EU-Ebene eine Konvergenz der Leistungen
zu beobachten ist. Die Staaten mit einer positiven Abweichung
dürfen ihre Sozialleistungen nur steigern, wenn sie zusätzlich
über einen Transfermechanismus eine gleichrangige Erhöhung
der Leistung in den Staaten mit negativer Abweichung finanzieren.
Droht in Staaten mit einer negativen Marge ein Abbau von Sozialleistungen,
soll dies über einen innereuropäischen Transfermechanismus
verhindert werden (Dispersyn u.a. 1990 und 1992). Diese Konstruktion der Sozialschlange unterscheidet sich vom Korridormodell in folgenden wesentlichen Punkten:
Das Modell der Sozialschlange und das Korridorkonzept divergieren
also stärker als es auf den ersten Blick erscheint. Bei der
anfänglichen Regulierungsdichte, der Beziehung der Sozialpolitik
zur Leistungsfähigkeit der Staaten, der Notwendigkeit eines
Transfermechanismus und der Berücksichtigung der Finanzierungsfrage
sind deutliche Unterschiede zwischen beiden Konzepten zu verzeichnen.
Ausblick
Mit dem Regimewechsel zur Wirtschafts- und Währungsunion
werden sich die Rahmenbedingungen für die Sozial-, Lohn-
und Steuerpolitik in der EU fundamental verändern. Die nationalen
Sozial-, Arbeits- und Steuersysteme geraten unter einen verstärkten
Wettbewerbsdruck. Wenn es nicht gelingt, in diesen Politikfeldern
Regulierungen auf der EU-Ebene zu realisieren, werden die Marktkräfte
den Prozeß des Sozial-, Lohn- und Steuerdumpings forcieren.
Am Ende dieses Weges stehen dann ein erheblich "schlankerer"
Sozialstaat, deregulierte Arbeitsmärkte und geschwächte
Gewerkschaften. Die Ungleichheiten in der Einkommens- und Vermögensverteilung
werden europaweit deutlich zunehmen.
Der Startvorteil der Verfechter dieses neoliberalen Projekts besteht
darin, daß die WWU ohne die Politische Union verwirklicht
werden wird und die Marktkräfte nach und nach für den
Abbau wettbewerbswidriger Sozial-, Lohn- und Steuerstandards sorgen
werden. Der große Startnachteil der Verteidiger des europäischen
Sozialstaatsmodells ist darin zu sehen, daß von nun an nicht
nur die politischen Mehrheiten auf der europäischen Bühne
gewonnen werden müssen, sondern darüber hinaus die Einstimmigkeitshürde
im Ministerrat zu überwinden ist. Des weiteren müßten
die europäischen Gewerkschaften endlich ihre nationalstaatliche
Orientierung aufgeben und mit einem qualitativen Sprung nach vorne
konfliktfähige Strukturen auf der Euro-Ebene aufbauen. Ob
diese Voraussetzungen in absehbarer Zeit zu erfüllen sind,
darf mit Fug und Recht bezeifelt werden.
Das europäische Sozialstaatsmodell ist nicht durch den Globalisierungswettlauf
bedroht, seine Zukunft wird vielmehr in Europa selber entschieden.
Die EU-Staaten bilden einen in hohem Maße regionalisierten
Wirtschaftsraum, sie wickeln drei Viertel ihrer Waren-, Dienstleistungs-
und Direktinvestionströme untereinander ab. Sozial-, Lohn-
und Steuerstandards könnten deshalb auf der europäischen
Ebene reguliert und im globalen Wettbewerb verteidigt werden.
Bleibt jedoch diese Form der Regulierung aus, wird der innereuropäische
Wettbewerb, wird die ungleiche Entwicklung der relativen Sozial-,
Lohn- und Steuerstandards im Euroraum den heute schon zu beobachtenden
Abwärtstrend in diesen drei Politikfeldern erheblich beschleunigen.
Wer den europäischen Sozialstaat erhalten will, muß
sich für seine Europäisierung einsetzen. Nach der Einführung
der gemeinsamen Währung gibt es keinen Weg mehr zurück
in nationalstaatliche Lösungen. Literatur
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