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Politik und Gesellschaft Online International Politics and Society 2/1998 |
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Conrad Schetter
Afghanistan zwischen Chaos und Machtpolitik Vorläufige Fassung / Preliminary version
Afghanistan geht in sein zwanzigstes Kriegsjahr. Kaum ein anderes
Land der Welt befindet sich seit so langer Zeit in einem permanentem
Kriegszustand. Im Zuge dieses Kriegs wurde das gesamte Land in
Schutt und Asche gebombt; 1,5 Mio. Menschen verloren ihr Leben.
Weitere Kriegsfolgen sind die Erblast von über 10 Mio. Anti-Personen-Minen,
eine Analphabetenrate von über 90% und die Flucht von zeitweise
bis zu 6,5 Mio. der 14 Mio. Einwohner Afghanistans nach Pakistan
und Iran.
Auf den ersten Blick gleicht der Afghanistankrieg einem undurchsichtigen
Chaos, in dem andauernd neue Fraktionen auftreten, die sich in
ständig wechselnden Koalitionen bekämpfen. Jedoch lassen
sich auf den zweiten Blick zwei Konfliktebenen unterscheiden:
Zum einen gibt es die internationale Konfliktebene, da der Afghanistankrieg
stark von den sicherheitspolitischen, wirtschaftspolitischen und
ideologischen Interessen ausländischer Mächte, insbesondere
seiner Anrainerstaaten, bestimmt wird. Zum anderen gibt es die
innerafghanische Konfliktebene, auf der zunehmend Ethnizität
an Bedeutung gewinnt. Beide Konfliktebenen sind miteinander verzahnt
und haben in den Kriegsparteien ihre Überschneidungspunkte.
Daher lautet die hier vorgestellte These, daß sich in Afghanistan
langfristig nur die Fraktionen militärisch und politisch
behaupten, die Adressaten ausländischer Unterstützung
sind und über einen Rückhalt in der Bevölkerung
verfügen.
Abb. 1 Die Kriegsparteien Afghanistans, ihre ausländischen
Partner und ihre ethnischen Organisationsbasen (1997/8)
Bei den Parteien, die gegenwärtig im Afghanistankrieg von
Bedeutung sind, handelt es sich um die Dschamiat-i islami [Islamische
Gesellschaft; Abk.: Dschamiat], die Hezb-i wahdat [Einheitspartei;
Wahdat], die Dschombesch-i melli-ye islami [Nationale Islamische
Bewegung; Dschombesch] und die Tahriq-i taliban [Bewegung der
Religionsstudenten; Taliban] (Abb.1).
Innerafghanisches Konfliktpotential
Ein Reich mit der Bezeichnung Afghanistan existiert seit 1747.
Afghanistan in seinen heutigen Grenzen entstand jedoch erst Ende
des 19. Jahrhunderts als Pufferstaat zwischen den Interessengebieten
der Kolonialmächte Britisch-Indien und Rußland. In
dieser Staatsgründung war das wesentliche Konfliktpotential
Afghanistans angelegt. Denn bei Afghanistan handelt es sich um
einen Vielvölkerstaat, in dem über 50 ethnische Gruppen
leben. Die größte Ethnie sind die segmentär organisierten
Paschtunen, die in verschiedene Stammesverbände zerfallen;
die Konföderationen der Durrani und Ghilzai bilden die umfaßendsten
paschtunischen Stammeseinheiten. Weitere wichtige ethnische Gruppen
sind die Usbeken in Nordafghanistan und die Hazara im zentralen
Hochland. Unter der Sammelbezeichnung Tadschiken wird die persischsprachige,
sunnitische Bevölkerung Afghanistans zusammengefaßt
(Tab. 1; Karte 1).
Tab. 1. Übersicht über die größten ethnischen
Gruppen in Afghanistan, ihre vorherrschende Sprache und Religion
sowie ihre geschätzte Anzahl (Stand: 1978)
Quelle: Orywal, Erwin (Hrsg.): Die ethnischen Gruppen Afghanistans.
Wiesbaden 1986. hier: 70f.
Die ethnische Vielfalt in Afghanistan drückte sich vor Kriegsbeginn
in einer gesellschaftlichen Schichtung aus. Die Paschtunen erschienen
nach außen hin als die staatstragende Ethnie. Sie stellten
von 1747 bis 1973 mit dem Königshaus, das dem durranischen
Stammesverband angehört, die Spitze des Landes. Auch die
traditionelle Elite bestand in ihrer Mehrheit aus paschtunischen
Adligen. Die Tadschiken bildeten das Gros der Mittelschicht, weshalb
sie die Wirtschaft und staatliche Verwaltung dominierten. Die
Usbeken hatten auf den afghanischen Machtapparat nur wenig Einfluß
und waren weitgehend auf ihren Siedlungsraum beschränkt.
Die Hazara bildeten aufgrund ihres turko-mongoliden Aussehens
und ihrer schiitischen Konfession eine marginalisierte Ethnie,
die weitgehend von der Partizipation an den gesellschaftlichen
Ressourcen ausgeschlossen blieb. Doch war die "Ethnie"
für die afghanische Bevölkerung vor 1978 eine abstrakte
Identifikations- und Handlungsgröße, die wahrgenommen
wurde, aber nur selten ethnisch motivierte Handlungen auslöste.
Das ethnische Konfliktpotential wurde von dem Dualismus zwischen
Stadt und Land überlagert. Die Landbewohner Afghanistans,
die ca. 90% der Bevölkerung ausmachten, waren fest in ihren
traditionellen Kulturmustern verankert. Da im ländlichen
Raum die Stammes- und Dorfeliten das Sagen hatten, übten
die staatlichen Institutionen Kabuls auf die dortigen Herrschaftsstrukturen
kaum Einfluß aus. Kabul bildete als Zentrum der staatlichen
Macht und Modernisierung einen Fremdkörper im ländlichen
Afghanistan. Die Kabuler Bevölkerung verfügte über
einen vergleichsweise hohen Bildungsstand und hatte bereits westliche
Einflüsse adaptiert. Für die Landbevölkerung stellte
Kabul das "Sündenbabel" schlechthin dar, während
die Kabuler Bevölkerung das ländliche Afghanistan als
rückständig stigmatisierte. In Kabul konzentrierte sich
auch die an Hochschulen ausgebildete Intelligenzia, die moderne
politische Ideen vertrat und in Konkurrenz zur traditionellen
Machtelite stand. Innerhalb dieser Intelligenzia bildete die kommunistische
DVPA (Demokratische Volkspartei Afghanistans) eine wichtige Bewegung.
Die DVPA zerfiel in die zwei Flügel Parcham [Fahne] und Khalq
[Volk], die sich bitter bekämpften. Die Ursache hierfür
ist der gesellschaftliche Hintergrund ihrer Mitglieder: Während
die Anhänger von Parcham vorwiegend Tadschiken aus dem urbanen
Milieu waren, kamen die Mitglieder der Khalq ursprünglich
aus ländlichen paschtunischen Regionen und galten in Kabul
als Neuankömmlinge.
Der Afghanistankonflikt im Zeichen des Kalten Kriegs (1979-1989)
Das Machtstreben der jungen Intelligenzia, namentlich der DVPA,
löste Ende der 70er Jahre die Afghanistankrise aus. 1973
vertrieb der ehemaligen Premierminister Mohammed Daud Khan mit
Hilfe der DVPA den letzten afghanischen Monarchen Zahir Schah.
Am 27. April 1978 putschte die DVPA gegen Daud und übernahm
selbst die Macht. Da die DVPA in den ersten Monaten nach ihrer
Machtübernahme eine Landreform unter Mißachtung der
traditionellen Gesellschaftsstrukturen durchführte, sah sie
sich bald mit Aufständen im ganzen Land konfrontiert. Als
die DVPA ihre Macht zu verlieren und sich in innerparteilichen
Kämpfen aufzureiben drohte, besetzte die Sowjetunion im Dezember
1979 das Land, um die sozialistische Herrschaft in Afghanistan
zu sichern. Mit diesem Schritt, den die USA als sowjetische Offensive
werteten, weitete sich die nationale Krise in Afghanistan zu einem
internationalen Konflikt und zum wichtigsten Schlachtfeld des
Kalten Kriegs aus.
Der Islam wurde zum ideologischen Gegenpol des Kommunismus aufgebaut,
was sich etwa in der Ausrufung des Jihads [heiliger Krieg] gegen
die gottlosen Kommunisten und in der Bezeichnung der Widerstandskämpfer
als Mudschahedin [Kämpfer Gottes] äußerte. Doch
verstanden die meisten Afghanen unter Islam und Kommunismus keine
ausgefeilten Ideologien, sondern die Fortführung des Dualismus
zwischen Stadt und Land. Der Islam stand synonym für die
traditionelle Gesellschafts- und Werteordnung, während der
Kommunismus mit der Modernisierungs- und Zentralisierungspolitik
der Kabuler Machtzentrale assoziiert wurde.
Ein wesentliches Ziel des Kabuler Regimes war die Sowjetisierung
der afghanischen Gesellschaft. Die Sowjetisierungspolitik konzentrierte
sich auf die Bewohner Kabuls, die im Unterschied zur "reaktionären"
Landbevölkerung als "fortschrittlich" galten. Eine
wesentliche Maßnahme war die staatlich geförderte Frauenemanzipation,
die im Kontrast zur traditionellen ländlichen Gesellschaft
stand, in der die Partizipation der Frauen am öffentlichen
Leben undenkbar war. Eine andere entscheidende Maßnahme
war die Nationalitätenpolitik. Das Kabuler Regime nutzte
die ethnische Schichtung der afghanischen Gesellschaft, indem
benachteiligte Ethnien wie die Usbeken oder Hazara durch eine
Aufwertung ihrer Sprachen zu Nationalsprachen und der Hervorhebung
ihrer Kultur und Geschichte eine Bestätigung erfuhren. Die
Kabuler Regierung unterstützte im Fall einiger Ethnien den
Aufbau eigenständiger Kampfeinheiten, die auch als ethnische
Organisationsbasen fungierten. Besonders zu erwähnen ist
die Usbeken-Miliz des Generals Rashid Dostum, die sich nach Abzug
der Sowjettruppen zur wichtigsten militärischen Stütze
des kommunistischen Regimes entwickelte und den Vorläufer
der 1992 gegründeten Dschombesch bildete. Unter den Paschtunen
förderte das Kabuler Regime dagegen die tribalen Gegensätze,
um die paschtunische Einheit und damit den Widerstand im strategisch
wichtigen Grenzgebiet zu Pakistan zu schwächen.
Die USA waren in Afghanistan indirekt involviert, indem sie gemeinsam
mit Saudi-Arabien den Widerstand gegen die sowjetischen Okkupanten
finanzierten. Der logistische Aufbau lag beim pakistanischen Geheimdienst
ISI (Inter Services Intelligence), der den Widerstand entsprechend
dem sicherheitspolitischen Kalkül Islamabads organisierte.
Denn Pakistan hatte in den 70er Jahren am Rand eines Kriegs mit
Afghanistan gestanden, da die afghanische Regierung in der "Paschtunistanfrage"
die Annexion der pakistanischen North West Frontier Province,
in der überwiegend Paschtunen leben, gefordert hatte. Um
die "Paschtunistanfrage" ad acta zu legen, ließ
der ISI gleich mehrere von Paschtunen dominierte Gruppierungen
zu, die sich in ihrer tribalen Herkunft voneinander unterschieden.
Durrani-Paschtunen - die das afghanische Könighaus stellten
und aus pakistanischer Sicht für die "Paschtunistanfrage"
verantwortlich waren - wurden in den Führungsriegen der Parteien
nicht geduldet. Die Widerstandsparteien waren außerdem religiös
ausgerichtet, da so nationalistische Tendenzen unterdrückt
werden konnten.
Drei der sieben Parteien vertraten das traditionelle religiöse
Establishment und setzten sich für die Rethronisierung von
König Zahir Schah ein. Dem ISI waren diese Parteien suspekt,
weshalb er sie eher duldete als unterstützte. Die wichtigste
dieser traditionellen Parteien war die Harakat-i enqelab-i islami
[Bewegung der islamischen Revolution; Harakat] von Maulawi Muhammad
Nabi Mohammedi, die über das Netzwerk islamischer Geistlicher
und paschtunischer Stammesverbindungen in Süd- und Westafghanistan
vertreten war, jedoch trotz ihrer Verbreitung nur einen lockeren
Verbund lokaler Widestandsfronten darstellte. Bei vielen dieser
Fronten, die mit der Harakat assoziiert waren, handelte es sich
um Koranschulen, in denen Taliban [Religionsstudenten] eine religiöse
wie militärische Ausbildung erhielten. Der überwiegende
Teil dieser Religionsschulen folgt der streng orthodoxen, sunnitisch-hanafitischen
Deoband-Theologie. Die restlichen Parteien gehörten dem islamistischen
Lager an.
Der Islamismus, der in Afghanistan seine parteipolitischen Anfänge
in den 60er Jahren hat, fordert die Errichtung eines islamischen
Gottesstaats und die Einführung des islamischen Rechts [Scharia],
ist aber auch stark von modernen Ideologien beeinflußt.
Wie die Anhänger der Khalq sind die Repräsentanten der
islamistischen Parteien meist ländlicher Herkunft und entstammen
der jungen Intelligenzia Kabuls. Die islamistischen Hezb-i islami
[Islamische Partei Afghanistans; Hezb] und Dschamiat entwickelten
sich im Verlauf des Kriegs zu den mächtigsten Parteien. Die
Hezb unter Führung Gulbuddin Hekmatyars hatte sich in den
70er Jahren von der Dschamiat abgespalten. Ihre Trägerschaft
waren überwiegend Paschtunen, die ihre tribalen Bindungen
verloren hatten. Zwar war die Hezb in ganz Afghanistan verbreitet,
doch war ihr Auftreten immer nur zellenförmig, da die breite
Bevölkerung und die traditionelle Geistlichkeit ihre radikalen
Ansichten ablehnten. Die Hezb war bis 1992 bevorzugter Partner
der USA, Saudi-Arabiens und Pakistans gewesen, weshalb sie auch
die reichste Widerstandspartei war. Die Dschamiat, als Sammelbecken
für alle Nicht-Paschtunen gegründet, entwickelte sich
zu einer "parti tajik par excellence", die in den tadschikischen
Siedlungsgebieten fest verankert ist. An der Spitze der Dschamiat
steht Burhanuddin Rabbani, ein tadschikischer Geistlicher, der
an der Al-Azhar Universität in Kairo studiert hatte. Seine
wichtigste militärische Stütze ist Ahmad Shah Massud,
der durch seine Kämpfe gegen die sowjetische Armee Berühmtheit
erlangte. Obwohl die Dschamiat wie die Hezb in ihrer Ideologie
radikal islamistisch ausgerichtet ist, entwickelte sie einen politischen
Pragmatismus, der es ihr ermöglicht, auch mit dem Netzwerk
der traditionellen islamischen Geistlichkeit zusammenzuarbeiten.
Neben diesem von Pakistan organisierten Widerstand gab es noch
die schiitischen Parteien, die ihren stärksten Rückhalt
bei den Hazara hatten und sich durch den Grad ihrer Abhängigkeit
vom Iran unterschieden. Doch waren die schiitischen Parteien bis
zum Abzug der Sowjettruppen mehr mit Kämpfen untereinander
als gegen das sowjetische Regime beschäftigt. 1992 vereinigten
sich die Schia-Parteien auf Druck Irans zur Wahdat.
In dieser ersten Phase des Kriegs bestimmten die Interessen der
Supermächte USA und Sowjetunion den Afghanistankonflikt.
Auf der innnerafghanischen Ebene hatte sich die junge Intelligenzia
gegen die traditionelle Elite, die das Land verlassen mußte
und auch in der Organisation des Widerstands unberücksichtigt
blieb, durchgesetzt. Die Positionen in den Schaltzentralen der
Macht übernahmen in Kabul wie im Widerstand vor allem Vertreter
der aufstrebenden Intelligenzia. In den ländlichen Gebieten
lösten vielerorts Kommandanten, die aus sozial einfachen
Verhältnissen kamen und oft Analphabeten waren, die traditionellen
Dorf- und Stammesführer ab. Obwohl der Afghanistankonflikt
im Zeichen des Kalten Kriegs geführt wurde, bildete Ethnizität
bereits eine wesentliche Leitlinie, da es die ausländischen
Mächte verstanden, das ethnische Konfliktpotential für
die eigenen Interessen auszunutzen.
Afghanischer Bürgerkrieg (1992-1994)
Obwohl die Sowjetunion früh erkannte, daß Afghanistan
militärisch nicht zu befrieden war, führte erst die
politische Wende unter Gorbatschow 1989 zum Abzug der Sowjetarmee.
Bereits unter sowjetischer Besatzung hatte sich herauskristallisiert,
wie künstlich die ideologische Grenze zwischen Kommunisten
und islamischem Widerstand war. Denn über die ideologische
Front hinweg fanden Absprachen statt, während sich innerhalb
des Kabuler Regimes wie des Widerstands die Spannungen verschärften.
Nadschibullah, ein Paschtune, der bereits seit 1986 Regierungschef
der DVPA war, konnte sich durch eine geschickte Politik der "nationalen
Einheit" bis 1992 an der Macht halten. Doch führten
das Ausbleiben finanzieller Unterstützung aus Moskau sowie
die Formierung neuer Fronten im April 1992 zu seinem Sturz. Ausschlaggebend
war, daß er tadschikische Milizen unter Befehl eines Paschtunen
stellte und verdächtigt wurde, mit Hekmatyar über eine
Wiedererrichtung der paschtunischen Hegemonie zu verhandeln. Der
Coup gegen Nadschibullah wurde ermöglicht, da mit Dostums
Milizen, der Parcham und der Dschamiat die nicht-paschtunischen
Kräfte eine vorübergehende Allianz eingingen. Der Sturz
Nadschibullahs bedingte den Zerfall Afghanistans in Teilreiche,
die sich über ethnische, aber auch ideologische Belange voneinander
abgrenzten. Die Mitglieder von Khalq und Parcham, sofern sie nicht
in Dostums Reich flohen, schlossen sich je nach sozialen und ethnischen
Vorlieben der Hezb bzw. der Dschamiat an.
Unter der diktatorischen Herrschaft Dostums entstand im Norden
ein weltlich ausgerichtetes Reich, in dem Intellektuelle und Ex-Kommunisten
Zuflucht suchten. Im Vergleich zum übrigen Afghanistan verfügte
Dostum über eine funktionierende Infrastruktur und Verwaltung.
Doch spielte in Dostums Herrschaftsgebiet auch das usbekische
Element eine Rolle, da er es verstand, Ethnizität unter den
Usbeken zu mobilisieren und sich selbst als den einzigen Interessenvertreter
der usbekischen Minderheit anzupreisen. In Zentralafghanistan
hatte die Wahdat unter Ali Abdul Mazari ihre Macht etablieren
können. In der Ideologie der Wahdat ist das schiitische Moment
von herausragender Bedeutung, doch sieht sich die Partei auch
als Interessenvertretung der Hazara. Gerade die Hazara, die vor
dem Krieg eine sozial unterprivilegierte Ethnie darstellten, gewannen
über die Organisation der Wahdat ein neues Selbstbewußtsein.
In dem von Paschtunen dominierten Südafghanistan herrschte
auf regionaler Ebene ein Machtvakuum vor, da die tribalen Disparitäten
es keiner Partei ermöglichten, sich über den lokalen
Rahmen hinaus zu etablieren.
Die Dschamiat hatte ihre Hochburgen in den tadschikischen Siedlungsräumen
im Nordosten Afghanistans und in der Provinz Herat. Außerdem
stellte sie mit Rabbani als Präsidenten unter Beteiligung
diverser kleiner Parteien die offizielle Regierung in Kabul. Die
Dschamiat war in ihrer gut vierjährigen Regierungszeit nicht
in der Lage, ein Regierungsprogramm vorzulegen, aber auch nicht
bereit, ihre Macht zu teilen oder sich für allgemeine Wahlen
einzusetzen. Die Machtkonzentration in ihren Händen begründete
sie mit der Fragmentierung Afghanistans und dem anhaltenden Kriegszustand.
Für viele Paschtunen war die Machtergreifung der Dschamiat,
die der 250jährigen paschtunischen Hegemonie ein Ende setzte,
unerträglicher als die Herrschaft der DVPA, die immer Paschtunen
in Führungspositionen vorzuweisen hatte.
Das Kriegsgeschehen konzentrierte sich zwischen 1992 und 1997
auf Kabul, das an der Schnittstelle der Siedlungsräume der
Tadschiken, Paschtunen und Hazara liegt. Dementsprechend waren
die Hauptakteure in diesen Kämpfen die Dschamiat, Hezb und
Wahdat. Dostum beschränkte sich darauf, in wechselnden Koalitionen
das Übergewicht einer Kriegspartei zu verhindern. War Kabul
in den ersten 13 Kriegsjahren unversehrt geblieben, so wurde es
nun fast völlig zerstört. In Kabul wurden auch erstmals
ethnisch bedingte Massenmorde an Zivilisten verübt. In den
Teilreichen herrschte Willkür, da die Parteien zu schwach
waren, ihre Kommandeure zu kontrollieren und von Plünderungen
der Zivilbevölkerung abzuhalten.
Ausländisches Interesse
Mit dem Ende des Kalten Kriegs verlor der Afghanistankrieg seine
weltpolitische Dimension und wandelte sich zu einem regionalen
Konflikt. Die Bedeutung Afghanistans bedingt besonders seine geostrategische
Lage an der südlichen Flanke der mittelasiatischen GUS-Republiken,
die als prosperierender Wirtschaftsraum der Zukunft gelten. Das
Ziel der Außenpolitik des Iran wie Pakistans, das selbst
nicht an die GUS-Staaten angrenzt, ist es, über eine indirekte
Herrschaft in Afghanistan zur regionalen Großmacht und zum
bevorzugten Wirtschaftspartner der GUS-Staaten aufzusteigen. Daher
ist die Afghanistanpolitik beider Staaten generell offensiv ausgerichtet,
wenn sich auch in beiden Ländern verschiedene Strömungen
erkennen lassen. So stehen etwa radikal-islamistische Guppierungen
des Iran wie die Pasdaran [Religionswächter] aufgrund der
schiitischen Gemeinsamkeit der Wahdat nahe. Doch unterstützt
Teheran auch die Dschamiat aufgrund deren Feindschaft zum pakistanischen
Favoriten Hekmatyar und nicht zuletzt aufgrund der kulturellen
Verbundenheit zwischen Persern und Tadschiken.
In einer Machtergreifung des ISI-Schützlings Hekmatyar sah
Pakistan seine eigenen Interessen in Afghanistan am ehesten verwirklicht.
Doch zerbrach 1992 das Bündnis zwischen ISI und Hezb, da
diese im Kampf gegen die Dschamiat paschtunische Parolen einsetzte,
wodurch sie sich als Garant für eine Beilegung des Paschtunistankonflikts
disqualifizierte. Das Verhältnis zwischen dem ISI und der
Dschamiat hatte sich seit ihrer Machtübernahme in Kabul stark
verschlechtert, da diese vom Iran und dem pakistanischen Erbfeind
Indien Unterstütztung erfuhr. Da Islamabad auf keine der
mächtigen Kriegsparteien mehr Einfluß hatte, befand
sich die pakistanische Afghanistanpolitik seit 1992 in der Krise.
Die pakistanische Regierung unter Nawaz Sharif versuchte als Vermittler
zwischen den Fraktionen wieder in Afghanistan Fuß zu fassen.
Diesen diplomatischen Weg unterstützten auch pakistanische
Wirtschaftskreise, die eine schnelle Lösung in Afghanistan
anstrebten, um endlich die Handelswege nach Mittelasien nutzen
zu können.
Saudi-Arabien leistet sich in Afghanistan einen Stellvertreterkrieg
mit dem Iran, mit dem es um die Vorherrschaft in der islamischen
Welt wetteifert. Doch hatte es seinen Bündnispartner Hekmatyar
fallen lassen, als dieser im Golfkrieg 1991 seine Sympathien für
Saddam Hussein erklärte. Daher war Saudi-Arabien seit Anfang
der 90er Jahre auf der Suche nach einem neuen Verbündeten
in Afghanistan, der einen orthodoxen Islam vertrat und dem Iran
Paroli bot.
Für die mittelasiatischen GUS-Staaten, in denen sich die
ehemaligen kommunistischen Kader an der Macht halten konnten,
ist die innenpolitische Stabilität im eigenen Land höchste
Prämisse; diese sehen sie durch das Einsickern islamischer
Terroristen aus Afghanistan gefährdet. Usbekistan als die
mächtigste der mittelasiatischen Republiken unterstützt
Dostum, da es in diesem ein Bollwerk gegen das Entstehen eines
radikal-islamischen Staats an seinen Grenze sieht und sich auch
mit diesem ethnisch verbunden fühlt. In Tadschikistan herschte
Bürgerkrieg zwischen der Regierung ehemaliger Kommunisten
und der islamischen Opposition. Diese bildete ein Sammelbecken
diffuser islamischer Strömungen, die der Iran unterstützte
und die von afghanischem Boden aus unter Duldung der Dschamiat
operierte.
Rußland nutzte die instabile Lage in Afghanistan und Tadschikistan,
um die mittelasiatischen Republiken vor einer drohenden "Afghanisierung"
zu schützen. Unter seiner Leitung wurden 20.000 GUS-Soldaten
an der tadschikisch-afghanischen Grenze stationiert. Für
Rußland symbolisiert diese militärische Präsenz
an der südlichen Außengrenze der GUS, daß Mittelasien
Teil der russischen Interessenssphäre ist. Doch ist die Meinung
weit verbreitet, daß Rußland zur Rechtfertigung seiner
militärischen Einmischung an der Beendigung des tadschikischen
Bürgerkriegs bis 1996 gar nicht interessiert gewesen sei.
In der Tat verlief die russische Außenpolitik zweigleisig:
Denn sein wichtigster Verbündeter in Afghanistan war neben
Dostum die Dschamiat, gegen die sowjetische Truppen jahrelang
gekämpft hatten und die der islamischen Opposition in Tadschikistan
nahe stand. Rußland hoffte durch die Unterstützung
der Dschamiat, die Machtergreifung Hekmatyars, des Vertreters
amerikanischer und pakistanischer Interessen, zu verhindern.
Turkmenistan, das über die zweitgrößten Reserven
an fossilen Energieressourcen der Welt verfügt, ist seit
Anfang der 90er Jahre an der Erschließung neuer Transportwege
interessiert, um von Rußland, das bislang die Kontrolle
über die Pipelines besitzt, unabhängig zu werden. Das
Vorhaben Turkmenistans, sich an das Pipelinesystem des Iran anzuschließen,
rief die USA, die sich seit 1989 aus der Afghanistanpolitik ausgeklinkt
hatten, wieder auf den Plan. Entsprechend ihrer Doktrin, den Iran
zu isolieren, übten die USA wirkungsvoll Druck auf Turkmenistan
aus, die "iranische Variante" zu verwerfen. Die amerikanische
Alternative lautete dagegen, Pipelines durch West- und Südafghanistan
zum pakistanischen Hafen Gwadar zu bauen. Für die Umsetzung
dieses Projekts waren nun auch die USA an einer Befriedung Afghanistans
interessiert. Außer den wirtschaftlichen Interessen bewirkte
der Staatszerfall in Afghanistan eine Revitalisierung des amerikanischen
Engagements. Denn Afghanistan war durch das Fehlen einer ordnenden
Macht zum zweitgrößten Heroinproduzenten der Welt und
zum Zentrum des islamischen Terrorismus aufgestiegen. In dieser
Situation lag es für die USA nahe, das alte Bündnis
mit Pakistan und Saudi-Arabien, die im Afghanistankrieg auf die
Verliererstraße geraten waren, zu reaktivieren. Das Projekt
Taliban konnte in Angriff genommen werden.
Das Konstrukt Taliban
Eine wesentliche Voraussetzung für die Entstehung der Taliban
bildete die erneute Machtübernahme Benazir Bhuttos 1993 in
Islamabad, die eine Wende in der pakistanischen Afghanistanpolitik
einleitete. Doch bilden die Taliban keineswegs eine völlig
neue Bewegung, vielmehr haben sie ihre Wurzeln in der Harakat
von Nabi Mohammedi (s.o.). Im Einverständnis mit diesem,
der sich aus der Politik zurückziehen wollte, wurde unter
Federführung des pakistanischen Innenministers Babbar, einem
Paschtunen, die Harakat als Basis für den Aufbau der Taliban
genutzt. Wesentlich beteiligt am Projekt Taliban war Bhuttos Koalitionspartei
Dschamiat al- ulama-i islam (DUI), die ihre Anhänger überwiegend
unter Paschtunen hat und das politische Aushängeschild der
Deoband-Schule in Pakistan ist. Dem ISI oblag es, aus den Taliban
eine Militärmacht aufzubauen. Die Gelder für den Aufbau
der Taliban stammen aus Saudi-Arabien. Doch werden die Taliban
auch von verschiedenen Ölkompanien unterstützt. So konkurriert
ein Konsortium aus dem US-Konzern Unocal und dem saudi-arabischen
Unternehmen Delta Oil mit dem argentinischen Konzern Bridas um
den Zuschlag für das 2,5 Mrd. US-$ teure Pipeline-Projekt
durch West- und Südafghanistan. Die USA vermieden es, direkt
mit den Taliban in Verbindung gebracht zu werden. Doch sind die
stillschweigende Duldung ihrer Ausbreitung sowie die häufigen
Besuche amerikanischer Diplomaten in ihrem Hauptquartier Indizien
für das anfängliche Wohlwollen der USA gegenüber
den Taliban.
Seit dem Spätsommer 1994 breiteten sich die Taliban in Südafghanistan
über das Netz der Koranschulen aus. Ihr rasches Ausgreifen
wurde durch das Machtvakuum, das in Südafghanistan auf regionaler
Ebene vorherrschte, erleichtert, da sich ihnen kein ernstzunehmender
Gegner in den Weg stellte. Entscheidend für die Anfangserfolge
der Taliban war, daß Südafghanistan mit dem Stammesgebiet
der paschtunischen Durrani-Konföderation identisch ist, die
in den Taliban erstmals während des Afghanistankriegs die
Chance sah, politisch aktiv zu werden. Es erstaunt daher nicht,
daß Kandahar, das Zentrum der Durrani-Paschtunen, nun Hochburg
der Taliban ist.
Anfang 1995 dehnten die Taliban ihre Herrschaft in das Stammesgebiet
der paschtunischen Ghilzai-Konföderation, das zwischen Kandahar
und Kabul liegt, aus. Obwohl die Ghilzai-Stämme in Konkurrenz
zu den Durrani-Stämmen stehen, schlossen sich auch diese
den Taliban an. Hierfür dürfte neben der paschtunischen
Ausprägung der Taliban entscheidend gewesen sein, daß
der Talibanführer Mullah Omar dem Ghilzai-Stamm der Hotaki
angehört. Widerspenstige Warlords machten sich die Taliban
zunehmend durch finanzielle Zuwendungen gefügig. Ihr erster
Versuch, Kabul einzunehmen, endete unrühmlich, da sie durch
die Beschießung von Wohnvierteln und die hinterhältige
Ermordung des Führers der Wahdat, Ali Mazari, ihr Image als
Saubermänner einbüßten. Auch ihren Nimbus der
Unbesiegbarkeit, der ihnen aufgrund ihrer Anfangserfolge vorauseilte,
verspielten die Taliban, als sie vor den Toren Kabuls gegen die
Dschamiat ihre erste Niederlage einstecken mußten. Diese
Schlappe konnte durch die Eroberung Herats im Oktober 1995 wett
gemacht werden. Doch werden die Taliban von der Herater Bevölkerung
nicht als Befreier, sondern als Besatzungsmacht empfunden. Die
Ursache hierfür ist neben ethnischen und sozialen Gegensätzen
die schiitische Konfession vieler Herati. Mit der Einnahme Herats
hatten die Taliban ein wesentliches Ziel Islamabads verwirklicht.
Denn nun befand sich die Transitroute von Turkmenistan nach Pakistan
in der Hand der Taliban, so daß Pakistan endlich mit den
mittelasiatischen Republiken in großem Stil Handel treiben
konnte.
Ideologie und Trägerschaft der Taliban
Die radikal sunnitisch-orthodoxe Ausrichtung der Taliban paßt
in das Konzept seiner ausländischen Unterstützer: So
lag es im Interesse der USA und Saudi-Arabiens, daß sich
der schiitische Iran durch die Taliban, für die das Schiitentum
eine Häresie darstellt, bedroht fühlte. Auch Pakistans
Sicherheitsbedürfnis wird durch das religiöse Auftreten
der Taliban befriedigt. Denn solange die Taliban den Islam programmatisch
betonen, wird das paschtunische Element unterdrückt und ein
Wiederaufleben der Paschtunistanfrage ausgeklammert.
In ihrer Abgrenzung zu den anderen Kriegsparteien greifen die
Taliban die Schwarz-Weiß-Malerei auf, der sich bereits die
Mudschahedin im Jihad gegen die sowjetischen Invasoren bedienten:
Sich selbst sehen sie als Retter Afghanistans, die dem zerrissenen
Land den ersehnten Frieden unter dem einigenden Banner des Islam
bringen. Dostum wird als Kommunist verteufelt, während die
Führer der Mudschahedin-Parteien als "Mörder und
Räuber" verunglimpft werden. Inhaltliche Abgrenzungen,
wie sie zwischen den Auffassungen der Deoband-Theologie und dem
Islamismus bestehen, spielen eine untergeordnete Rolle. Es gilt
zu beachten, daß die meisten Taliban Analphabeten sind und
nur über fragmentarische Korankenntnisse verfügen. Am
ehesten drückt sich ihre Abgrenzung zu den übrigen Kriegsparteien
in ihrer Selbstbezeichnung aus. Denn als Taliban distanzieren
sie sich von den Mudschahedin, die durch Greueltaten an der afghanischen
Bevölkerung ihren Ruf als "heilige Krieger" verspielten.
Mit dieser Umbenennung kaschieren sie, daß viele Taliban
in der Vergangenheit selbst Mudschahedin gewesen sind. Die Eigenbezeichnung
Taliban steht für ein einheitliches Handeln im Zeichen des
Islam und wendet sich gegen den Fraktionalismus, dem die bisherigen
islamischen Kriegsparteien erlegen sind.
Die offizielle Linie der Taliban ist, Afghanistan in einen Gottesstaat
nach Vorbild der islamischen Frühzeit zu verwandeln. Mullah
Omar, ihr geheimnisvoller Führer, läßt sich in
Anlehnung an den zweiten Kalifen, der Anfang des 8. Jahrhunderts
lebte, als "zweiten Omar" bezeichnen und hat den Titel
Amir-al mu'min [Herrscher der Gläubigen] angenommen. Den
geeigneten Schlüssel für die Wiederbelebung der islamischen
Gesellschaftsordnung sehen die Taliban in der Einführung
der Scharia. Da die Scharia unkodifiziert ist, verfügen sie
über einen großen Spielraum, um ihre Anordnungen als
"islamisch" zu legitimieren. Das Strafrecht der Scharia
mit ihren abschreckenden Strafen für bestimmte Vergehen (z.
B. Steinigung bei Ehebruch) wird rigoros angewendet. Verbote von
Rasieren, Tanzen, Musikhören, Fotoportraits, Fernsehern und
Papiersäcken (weil sie aus Altpapier hergestellt werden,
auf dem ein religiöser Text gestanden haben könnte)
entsprechen einer eigenwilligen Interpretation der religiösen
Rechtsschriften. Es entsteht der Verdacht, daß dieser Vorschriftenkatalog,
der fortlaufend erweitert wird, den Zweck hat, die Bevölkerung
zu beschäftigen, um von dem Fehlen eines Regierungsprogramms
abzulenken.
Das Auftreten der Taliban erfolgt zudem nach der Devise "je
radikaler desto islamischer", da so die anderen Parteien,
die sich islamisch nennen, als unislamisch gebrandmarkt werden
können. Leidtragende dieses "Wettstreits der islamischen
Radikalen" sind die Frauen als schwächstes Glied in
der afghanischen Gesellschaft: Hatte die Dschamiat die Pflicht
der Verschleierung eingeführt, so verbannten die Taliban
die Frauen völlig aus dem öffentlichen Leben. Doch fehlen
für die frauenfeindlichen Maßnahmen der Taliban - wie
die Pflicht des Ganzkörperschleiers, das Arbeitsverbot für
Frauen und die Schließung von Mädchenschulen - eindeutige
Postulate in den islamischen Rechtsschriften. Die Verurteilung
von Frauen wegen angeblich begangenen Ehebruchs zur Steinigung
verstieß in einigen Fällen sogar gegen die Scharia:
So reichten in einem Fall zwei Zeugen aus, um den Ehebruch zu
bestätigen, obwohl nach der Scharia vier Augenzeugen gefordert
werden. In einem anderen Fall wurde ein unverheiratetes Paar wegen
Ehebruchs zum Tod verurteilt.
Gerade an der Sittenstrenge und Frauenpolitik läßt
sich veranschaulichen, wie stark der Taliban-Islam vom paschtunischen
Ehren- und Rechtskodex infiltriert ist. Die Ehre eines männlichen
Paschtunen ist an den Schutz des weiblichen Teils seiner Familie
gekoppelt, der durch eine strenge Seklusion der Frau gewährleistet
wird. Wird die Integrität eines weiblichen Familienmitglieds
in Zweifel gezogen, muß der verantwortliche Paschtune umgehend
durch Vergeltung seine Ehre wiederherstellen. Jeder nur vermutete
nicht-eheliche Geschlechtsverkehr einer Frau muß mit der
Ermordung des betreffenden Paars gesühnt werden. Vor diesem
Hintergrund wird die Scharia-Auslegung der Taliban verständlich:
Die Verdrängung der Frau aus dem öffentlichen Leben,
die Steinigung von "befleckten" Frauen und die Aufnahme
der Wiedervergeltung in ihr Rechtssystem entsprechen paschtunischen
Ehrvorstellungen. Da die Paschtunen ihren Ehren- und Rechtscodex
nicht als Gegensatz zum Islam empfinden, verschmelzen bei den
Taliban orthodoxe Islamvorstellungen und paschtunisches Stammesdenken
zu einem "Islam paschtunischer Prägung". Ob dieser
ein autochtones Produkt der Taliban darstellt oder bewußt
von der Führungsspitze oder von außen initiiert wurde,
um die Taliban in den paschtunischen Gebieten zu etablieren, läßt
sich nicht beantworten.
Während die ländlichen, paschtunischen Gebiete von den
Anordnungen der Taliban weitgehend verschont bleiben, werden besonders
in Herat und Kabul die Sitten streng überwacht. Ein Grund
hierfür dürfte der sprachliche und ethnische Gegensatz
zwischen den paschtusprachigen Taliban und der persischsprachigen,
überwiegend tadschikischen Bevölkerung dieser Städte
sein. Doch sind die Repressionen der Taliban auch Ausdruck der
persistenten Diskrepanz zwischen Stadt und Land. Das überharte
Auftreten der Taliban in Kabul resultiert aus ihrer Aversion gegenüber
der städtischen Bevölkerung wie aus ihrer Unsicherheit
gegenüber dem urbanen Milieu, in dem ihre ländlichen,
in der paschtunischen Gesellschaftsordnung verankerten Werte nicht
mehr greifen. Seit der Machtübernahme der DVPA 1978 galt
Kabul zudem als Hort des Kommunismus, was seinen negativen Ruf
noch potenzierte. Die Stellung der Frau in der urbanen Gesellschaft
war - nicht zuletzt durch die von der DVPA geförderte Frauenemanzipation
- für die Taliban unbegreiflich und mußte zwangsweise
zur Zielscheibe ihrer Politik werden.
Die Taliban brüsten sich damit, durch eine Entwaffnung der
Bevölkerung und die Einführung harter Strafen für
Verbrechen wieder eine öffentliche Sicherheit hergestellt
zu haben. Doch entsprach das Vorgehen der Taliban eher einer Inkorporation
lokaler Kampfverbände in eine übergeordnete Organisationsstruktur.
Was die Taliban unter öffentlicher Sicherheit verstehen,
beruht zudem nicht auf einer rechtsstaatlichen Grundlage, sondern
liegt ganz im Ermessen des einzelnen Talib. Daher häufen
sich Gerüchte, nach denen Taliban ganz in der Manier der
Mudschahedin die Zivilbevölkerung ausbeuten und drangsalieren.
Die öffentliche Sicherheit unter den Taliban reduziert sich
darauf, daß innerhalb ihres Herrschaftsgebiets keine Kriegshandlungen
mehr stattfinden.
In den Taliban lassen sich verschiedene Interessengruppen ausmachen.
Den Kern der Taliban bilden ehemalige Mudschahedin, die bereits
unter der Harakat führende Positionen inne hatten und die
zu den Taliban der ersten Stunde gehören. Eine Großzahl
des Fußvolks rekrutiert sich aus Koranschulen in Afghanistan
und Pakistan. Die Koranschüler stammen meist aus sozial niedrigen
Verhältnissen und haben in der Regel die Bindungen zu ihrer
gesellschaftlichen Herkunft verloren, weshalb die Koranschulen
die Funktion der Familie übernehmen. Diese "wirklichen
Taliban" sind die treuesten Gefolgsleute der Bewegung. Doch
inkorporierten die Taliban während ihres Siegeszugs auch
Kämpfer anderer Kriegsfraktionen. In den Taliban befinden
sich viele "Berufs-Mudschahedin", die seit Jahren im
Afghanistankrieg kämpfen und sich rechtzeitig auf die Seite
der gewinnenden Taliban schlugen. Auch sind ehemalige Mitglieder
der Khalq unter den Taliban, die aufgrund ihrer Ausbildung Aufgaben
in der Verwaltung und im Militär übernehmen, für
die den Taliban geschultes Personal fehlt.
Die traditionelle paschtunische Elite, die bisher aus dem afghanischen
Machtpoker ausgeschlossen worden war, hoffte ebenfalls, über
die Taliban wieder in Amt und Würden zu gelangen. Unter Afghanen
gilt einhellig die Meinung, daß der große Rückhalt,
den die Taliban anfangs in der Bevölkerung hatten, auf die
Fürsprache dieser Elite zurückzuführen ist, da
diese immer noch über eine große Klientel in Afghanistan
verfügt. Das traditionelle Establishment wie auch das Gros
der Bevölkerung hofften außerdem, daß die Taliban
König Zahir Schah, der über eine ungebrochene Popularität
in Afghanistan verfügt und trotz seiner 84 Jahre immer wieder
als Lösung des Afghanistankonflikts ins Spiel gebracht wird,
zurückbringen würden. Innerhalb der Taliban gab es unter
Führung von Maulawi Burdschan einen königstreuen, anti-pakistanisch
eingestellten Flügel. Die Berufs-Mudschahedin, Khalq-Anhänger
und traditionelle paschtunische Elite verbindet - trotz ihrer
unterschiedlichen sozialen Herkunft - zudem ihre paschtunische
Identität. Diese Gruppen sehen daher in den Taliban eine
Bewegung, über die die paschtunische Hegemonie in Afghanistan
wiederhergestellt werden kann. Wie stark das paschtunische Moment
in den Taliban ausgeprägt ist, läßt sich daran
ermessen, daß sie sich in den paschtunischen Gebieten wie
ein Lauffeuer ausbreiteten, aber in den nicht-paschtunischen Gebieten
auf erheblichen Widerstand stießen.
Machtwechsel in Kabul
Der schnelle Machtgewinn der Taliban führte dazu, daß
sich Hekmatyar, der zwischen die Fronten der Taliban und Dschamiat
geraten war, am 26. Juni 1996 der Regierung unter Rabbani, die
er vier Jahre lang bekriegt hatte, anschloß. Er erhielt
das Amt des Ministerpräsidenten. Dieses Bündnis war
Hekmatyars einzig mögliche politische Rettung, da die Taliban
Verhandlungen mit ihm strikt ablehnten. Doch verlor Hekmatyar
durch dieses politische Wendemanöver einen Großteil
seiner Gefolgsleute, die es vorzogen, auf Seiten der paschtunischen
Stammesbrüder der Taliban als auf der der verhaßten
Dschamiat zu kämpfen.
Ende September 1996 nahmen die Taliban Kabul ein. Vor dem Einmarsch
der Taliban in Kabul lancierte die pakistanische Regierung eine
Pressekampagne, in der sie die Rückkehr Zahir Schahs mit
den Erfolgen der Taliban verband. Doch wurden die Träume
von einer Rethronisierung Zahir Schahs, an die zu diesem Zeitpunkt
viele Afghanen glaubten, zunichte gemacht, da Mullah Burdschan,
der Führer des königstreuen Flügels innerhalb der
Taliban, bei der Erstürmung Kabuls ums Leben kam. Seine Anhänger
vermuten, daß der ISI ihn aus dem Weg räumte, um den
königstreuen Flügel innerhalb der Taliban auszuschalten.
Am Tag des Einmarschs nach Kabul wurde der ehemalige Präsident
Nadschibullah, der seit seinem Sturz 1992 in einem UN-Gebäude
untergebracht war, hingerichtet und seine Leiche öffentlich
zur Schau gestellt. Die Ermordung Nadschibullahs fand auf UN-Gelände
statt, womit die Taliban gegen geltendes Völkerrecht verstießen.
Jedoch denken viele Afghanen, daß auch dieser Mord vom ISI
angeordnet wurde. Tatsache ist, daß jeder, der Kabul beherrschen
wollte, in Nadschibullah eine Gefahr sehen mußte. Denn dieser
verfügte bei der Kabuler Bevölkerung - trotz seiner
dunklen Vergangenheit als ehemaliger Geheimdienstchef - über
ein sehr hohes Ansehen, da unter seiner Regierung Kabul vom Krieg
verschont geblieben war.
Nach der Eroberung Kabuls wurden die Taliban umgehend von Pakistan
und Saudi-Arabien als neue afghanische Regierung anerkannt. Die
USA reagierten dagegen aufgrund des negativen Images, das die
Taliban in der internationalen Presse hatten, zurückhaltend.
Ihre neu gewonnene Distanz zu den Taliban unterstrichen sie durch
die Schließung der afghanischen Botschaft in Washington.
Die UNO und die OIC (Organisation of Islamic Countries) betonten
ebenfalls ihre Neutralität, indem sie den Ländersitz
Afghanistans für vakant erklärten. Das Verhalten der
europäischen Staaten gegenüber den Taliban kann als
ablehnend interpretiert werden: Denn die Botschaften in Bonn,
London und Paris, die alle mit Vertretern der Dschamiat besetzt
sind, blieben geöffnet.
In gleicher Weise wie bereits die Dschamiat das Personal von der
DVPA übernommen hatte, beließen die Taliban die Regierungsbeamten
auf ihren Posten - mit der Ausnahme, daß sie alle Frauen
aus den Ämtern verbannten. Die administrativen Schlüsselpositionen
besetzten sie mit ehemaligen Anhängern der Khalq. Die Spitzenposten
in der Regierung teilten sich die Mitstreiter der ersten Stunde,
die allesamt Paschtunen sind und überwiegend aus der Harakat
stammen. Unbedeutende Ministerposten erhielten entweder wichtige
Kommandeure als Belohnung oder Nicht-Paschtunen, um den Vorwurf
des paschtunischen Ethnozentrismus zu entkräften. Die traditionelle
paschtunische Elite, die auf eine Machtbeteiligung spekuliert
hatte, wurde in der Regierungsbildung nicht berücksichtigt.
Die Eroberung Kabuls durch die Taliban veranlaßte die Dschamiat,
Wahdat, Hezb und Dschombesch ihre alten Feindschaften hintan zu
stellen und sich in aller Eile zum "Obersten Rat für
die Verteidigung des Vaterlands" zusammenzuschließen.
Mit der Gründung dieser Nordallianz, die die Ex-Regierung
unter Führung Rabbanis unterstützt, war die Zweiteilung
Afghanistans festgeschrieben (Karte 2). Diese Spaltung Afghanistans
forcierten die Taliban im Oktober 1997 durch die Umbenennung der
Islamischen Republik Afghanistan in das Islamische Emirat Afghanistan.
Die GUS-Staaten, die sich durch den radikalen Islam der Taliban
bedroht fühlen, reagierten auf den Machtwechsel in Kabul
umgehend, indem sie sich am 4./5. Oktober 1996 in Almaty für
eine Unterstützung der Nord-Allianz aussprachen. Ihre Verbündeten
sind nach wie vor die Dschombesch und die Dschamiat. Turkmenistan,
das aufgrund seiner Erdölgeschäfte ein Interesse an
den Taliban hat, blieb von diesem Treffen fern. Dagegen unterstützt
der Iran die Nordallianz, da er sich durch die Taliban bedroht
fühlt und den amerikanischen und pakistanischen Einfluß
in Mittelasien zurückdrängen will. Zwischen Rußland
und dem Iran bildete sich eine lockere Allianz, da beide ihre
Optionen auf die Ausbeutung der Erdölreserven am Kaspischen
Meer wahren und den Bau der Pipeline durch Afghanistan verhindern
wollen. Ein Zeichen hierfür ist, daß beide Staaten
seit dem Machtwechsel in Kabul die Beendigung des Bürgerkriegs
in Tadschikistan forcierten, um den Taliban keine Angriffsfläche
zu bieten. Auch die Dschamiat, von deren Territorium aus der islamische
Widerstand operiert hatte, war an einer Beilegung des Bürgerkriegs
in Tadschikistan interessiert, da sie nun selbst durch den Vormarsch
der Taliban ein Rückzugsgebiet benötigte. Am 27. Juni
1997 wurde der Friedensvertrag zwischen der tadschikischen Regierung
und der islamischen Opposition ratifiziert.
Krieg am Hindukusch
Seit dem Winter 1996/97 fanden Kämpfe zwischen den Taliban
und der Nordallianz in Westafghanistan sowie an den strategisch
wichtigen Pässen im zentralen Hindukusch statt. Dostum galt
unbestritten als der starke Mann der Nordallianz. Doch geriet
seine Macht gehörig ins Wanken, als Malek Pahlawan, sein
Oberbefehlshaber in Westafghanistan, ein Bündnis mit den
Taliban einging. Die Ursache für Maleks Frontwechsel war
neben finanziellen Anreizen seitens der Taliban sein Mißtrauen
gegenüber Dostum, da dieser beschuldigt wird, die Ermordung
seines Bruders Razul Pahlawan und seines Freunds Maulawi Abdur
Rahman Haqqani veranlaßt zu haben. Maleks Überlauf
Mitte Mai 1997 ermöglichte den Taliban, ungehindert bis nach
Mazar-i Sharif, dem Machtzentrum der Nordallianz, vorzurücken.
Gleichzeitig hatten die Taliban in einer Großoffensive die
Pässe im zentralen Hindukusch überschritten und fielen
nach Nordafghanistan ein. Die Situation spitzte sich dramatisch
zu: Dostum war gezwungen, überstürzt über Usbekistan
in die Türkei zu fliehen, während sich Rabbani nach
Tadschikistan absetzte. Auch schien die Wahdat in Zentralafghanistan
geschlagen zu sein und Massud kontrollierte nicht mehr als ein
Zehntel des Landes. Am 24. Mai nahmen die Taliban mit 5000 Mann
Mazar-i Sharif ein.
Doch bereits am 29. Mai wendete sich das Blatt. Anlaß war,
daß die Taliban die Bevölkerung Mazar-i Sharifs entwaffnen
wollten. Binnen kürzester Zeit erhoben sich unter Führung
der Wahdat die Schiiten, die einen Großteil der Stadtbevölkerung
ausmachen, und richteten unter den Taliban, die sich im Gassengewirr
der Stadt nicht auskannten, ein Blutbad an. Malek erkannte die
Zeichen der Zeit. Er kündigte kurzerhand das Bündnis
mit den Taliban auf und schlug sich mit seinen Truppen auf die
Seite der gewinnenden Wahdat. Später begründete er diesen
Schritt damit, daß die Taliban sich nicht an die vorher
getroffenen Abmachungen gehalten hätten. Nach Schätzungen
sollen an diesem Tag 1000 bis 1500 Taliban massakriert und weitere
3000 gefangen genommen worden sein; nur wenigen gelang die Flucht.
Parallel zum Taliban-Debakel in Mazar-i Sharif gelang es Massud
und der Wahdat, erneut die Pässe zwischen Nord- und Südafghanistan
zu besetzen. Massuds Truppen drängten die Taliban sogar bis
an die Stadtgrenze Kabuls zurück, wo bis zum gegenwärtigen
Zeitpunkt die Front verläuft. Die Taliban-Einheiten, die
in Nordafghanistan festsaßen, flohen nach Kunduz, der letzten
Machtbastion der Hezb. Erneut zeigte sich, daß ethnische
Bindungen stärker sind als ideologische: Denn diese paschtunischen
Einheiten der Hezb scherten aus der Nordallianz aus und verbrüderten
sich mit den Taliban.
Die Position Maleks blieb als Führer der Dschombesch schwach,
da Dostum in dieser immer noch über einen starken Rückhalt
verfügt und das Ausland Malek wegen seiner vorübergehenden
Liaison mit den Taliban keinen Rückhalt bot: Usbekistan demonstrierte
seine ablehnende Haltung gegenüber Malek, indem es seine
Grenzen zu Afghanistan schloß. Der Niedergang Maleks wurde
eingeleitet, als Anfang September die Taliban von ihrem Stützpunkt
in Kunduz aus erneut versuchten, Mazar-i Sharif einzunehmen. Die
Hauptlast bei der Abwehr dieses Angriffs trug wieder die Wahdat,
da Malek aufgrund seiner schwachen Position nicht in der Lage
war, die Truppen der Dschombesch zu befehligen. Die unübersichtliche
Situation in Mazar-i Sharif nutzten die Gegner Maleks, um ihn
aus der Stadt zu vertreiben und Dostum aus dem Exil zurückzuholen.
Malek zog sich in die Provinz Farjab zurück, die Dostum jedoch
zwei Monate nach seinem Comeback wieder unter seine Kontrolle
bringen konnte. Malek floh in den Iran. Auch wenn Dostum nun wieder
im Sattel sitzt, ist seine Machtposition geschwächt und mehr
denn je von der Loyalität seiner Warlords abhängig.
Sieger der zurückliegenden Kämpfe war die Wahdat unter
ihrem Führer Karim Khalili, die ihren Herrschaftsbereich
nach Norden ausdehnte und nun mehrere Stadtteile von Mazar-i Sharif,
dem Regierungssitz Dostums, kontrolliert.
Aussichten auf Frieden
Die Niederlage der Taliban bei Mazar-i Sharif verdeutlichte den
USA, daß diese nicht in der Lage sind, ganz Afghanistan
militärisch zu befrieden. Washington war ohnehin seit Winter
1996/97 auf Distanz zu den Taliban gegangen, da diese den Opiumanbau
nicht eindämmten und ihre frauenfeindliche Politik eine an
Intensität und Ausmaß ungeahnte öffentliche Kritik
auslöste. Gleichzeitig zur wachsenden Skepsis gegenüber
den Taliban eröffnete sich den USA durch den Erdrutschsieg
Khotamis, der als gemäßigt und liberal gilt, die Möglichkeit
einer Annäherung an den Iran. Die relative innenpolitische
Stabilität des Iran in einer krisengeschüttelten Region
ist ein weiteres Kriterium dafür, daß in der amerikanischen
Außenpolitik das Primat der Isolierung des Iran von einer
behutsamen Annäherung an den ehemaligen Feind abgelöst
wurde. Zeichen hierfür sind, daß Washington im Juli
1997 den Anschluß Turkmenistans an das iranische Pipelinesystem
genehmigte, sowie Khotamis "Rede an das amerikanische Volk"
im Januar 1998, in der er sich für den Dialog mit den USA
aussprach. Die Kontaktaufnahme zwischen Washington und dem Iran
belebt auch die Friedensverhandlungen über Afghanistan. Die
USA sind nun an Friedensgesprächen interessiert, da der Konflikt
in Afghanistan die amerikanischen Wirtschaftsinteressen in Mittelasien
blockiert. Für Teheran wäre ein Friedensschluß
interessant, da es hierüber seinen guten Willen gegenüber
Washington demonstrieren und am prophezeiten Wirtschaftsboom in
Mittelasien teilhaben könnte. Die von der UNO kürzlich
ins Leben gerufenen "sechs-plus-zwei-Gespräche"
über ein Waffenembargo in Afghanistan sind die ersten Friedensverhandlungen,
an denen die USA und der Iran gemeinsam teilnehmen. Die weiteren
Verhandlungspartner sind Rußland, Pakistan, Turkmenistan,
Tadschikistan, Usbekistan und China. Doch scheiterten die Gespräche
bislang am Vorwurf des Iran, daß Pakistan aufgrund seiner
unkontrollierbaren Grenze zu Afghanistan die Einhaltung des Embargos
unterlaufen könne.
Da auch die GUS-Staaten an einem Frieden in Afghanistan interessiert
sind und Saudi-Arabien sich nach der US-Politik richtet, gerät
auf der internationalen Ebene nun Pakistan als Protektor der Taliban,
die Friedensgespräche kategorisch ablehnen, immer stärker
in Isolation. Die US-Außenministerin, Madeleine Albright,
verurteilte bei ihrem Besuch in Pakistan im November 1997 die
Verletzung der Menschenrechte durch die Taliban und setzte Pakistan
unter Druck, daß es diese zu Gesprächen mit der Nordallianz
drängen müsse. Doch von Nawaz Sharif, der seit Januar
1997 wieder pakistanischer Premierminister ist, kann kein Kurswechsel
erwartet werden, da sich die Afghanistanpolitik mittlerweile ganz
in den Händen des ISI befindet. Der ISI hält an den
Taliban fest, da sie Pakistans einzige Option auf die zukünftige
Regierung in Kabul und auf Pakistans Großmachtanspruch darstellen.
Ein Abweichen der Taliban von ihrem radikal-islamischen Kurs liegt
ebenfalls nicht im Interesse des ISI, da sich dann innerhalb der
Taliban das paschtunische Element durchsetzen könnte. Doch
muß sich der ISI auch die Frage stellen, ob sich die Taliban
nicht zu einem Bumerang entwickeln: Denn die Taliban gewinnen
in den paschtunischen Stammesgebieten Pakistans ständig an
Einfluß, wo sie vielerorts ihren "Islam paschtunischer
Prägung" einführen. Auch bewirkte der pakistanische
Handel mit Turkmenistan, der seit der Einnahme Süd- und Westafghanistans
durch die Taliban floriert, nicht den erhofften wirtschaftlichen
Aufschwung, sondern eine Verschlechterung der pakistanischen Handelsbilanz,
da die Waren am Zoll vorbeigeschmuggelt werden; der afghanische
Transithandel gilt als Ursache für das Haushaltsdefizit,
mit dem die Entlassung Benazir Bhuttos im November 1996 begründet
wurde.
Die Friedensbemühungen der UN-Vermittler wie der USA gehen
davon aus, daß der Afghanistankrieg beendet ist, wenn die
Anrainerstaaten die Unterstützung ihrer Stellvertreter einstellen.
Gegen diese These spricht, daß mittlerweile fast alle Parteien
aufgrund des Drogenanbaus und -handels finanziell recht unabhängig
sind und über gefüllte Waffenarsenale verfügen.
Auch darf der Machthunger der Parteiführer nicht unterschätzt
werden. Schließlich ist zu befürchten, daß die
Emotionen, die sich im Afghanistankrieg angesammelt haben, nicht
durch Friedensgespräche kanalisiert werden können. Denn
die Kämpfe des letzten Jahrs bewirkten eine Eskalation der
Gewalt, in der sich der blinde Haß der Kriegsparteien nicht
alleine gegen die militärischen Kontrahenten, sondern auch
gegen die ethnischen Gruppen, die sie hinter diesen Parteien vermuten,
richtet: Als die Taliban im Januar 1997 die nördlich von
Kabul gelegenen Provinzen Parwan und Kapisa einnahmen, vertrieben
sie die tadschikische Bevölkerung dieser Provinzen bzw. zwangen
sie nach Kabul umzusiedeln. Im Gegenzug wird Malek und Splittergruppen
der Wahdat vorgeworfen, 2000 Taliban, die bei den Kämpfen
um Mazar-i Sharif gefangen genommen wurden, ermordet und in Massengräbern
verscharrt zu haben. Die Wahdat beschuldigt wiederum die Taliban,
im September 1997 über 400 Hazara-Zivilisten massakriert
zu haben. Schließlich mehren sich Gerüchte, nach denen
in Nordafghanistan die Paschtunen und in Kabul die Hazara unter
Verfolgung und Akten der Willkür zu leiden haben. Den vorläufigen
Höhepunkt dieser Spirale der Gewalt bildete im Winter 1997/98
die Taliban-Blockade von UN-Nahrungsmitteltransporten nach Zentralafghanistan,
um gezielt die Hazara auszuhungern.
Die Pläne der UNO für die Neuordnung Afghanistans sehen
die Installation einer breiten Regierung, in der alle Fraktionen
vertreten sein sollen, und ein föderatives Modell vor. Abgesehen
davon, daß eine Regierung mit so verschiedenen Persönlichkeiten
wie Mullah Omar, Rabbani, Khalili und Dostum illusorisch ist,
verfolgen auch alle vier Parteien unterschiedliche Ziele. Die
Wahdat fordert ein föderatives System und ein Drittel aller
Posten in der Zentralregierung für ihre Partei. Außerdem
besteht die Wahdat darauf, daß neben der hanafitischen Rechtsschule
der Sunniten, der ca. 75-85% aller Afghanen folgen, auch die Rechtsschule
der 12er Schia anerkannt werden muß. Doch würde das
gleichberechtigte Nebeneinander zweier islamischer Rechtslehren
unweigerlich zu chaotische Zuständen im Rechtswesen führen.
Die Dschombesch setzt sich für ein lockeres konföderatives
System ein, in dem jedem Bundesstaat das Recht vorbehalten bleibt,
aus der Konföderation auszuscheren, über eine eigene
Armee zu verfügen und mit dem Ausland diplomatische Beziehungen
zu unterhalten. Unter Zugrundelegung einer Quotenregelung soll
außerdem jede ethnische Gruppe in der Zentralregierung vertreten
sein. Dies fordert auch die Dschamiat, die jedoch gleichzeitig
den überwiegenden Teil der Staatsposten wie auch das Amt
des Staatsoberhaupts für ihre Partei beansprucht, da die
Mehrzahl aller Afghanen Dari spricht und sie sich als deren Vertreter
versteht.
Die Taliban lehnen vehement Konzepte, die auf Föderalismus
oder Quotierungen der ethnischen Gruppen basieren, ab. Die ethnische
Frage wird durch den Verweis auf den superethnischen Anspruch
des Islam bereits im Keim erstickt. Doch gerade diese Ausklammerung
des ethnischen Problems interpretieren die Gegner der Taliban
als paschtunisches Hegemoniestreben. Auch zeigen sich die Taliban
aufgrund ihres Totalitätsanspruchs nicht bereit, mit anderen
Parteien Gespräche über eine Machtteilung zu führen.
Die Einbindung der Taliban in Friedensgespräche wird dadurch
erschwert, daß sich die Spannungen zwischen ihnen und der
internationalen Staatengemeinschaft kontinuierlich verschlechtert
haben. Die ständigen Angriffe durch die Medien und ausländische
Politiker sowie die andauernden Querelen mit den internationalen
Organisationen, zuletzt wegen der Verhaftung der europäischen
Frauenbeauftragten Emma Bonino in Kabul im Oktober 1997, haben
innerhalb der Taliban den Gedanken aufkommen lassen, mit dem Ausland
ganz zu brechen. Hierfür bemühen sie gerne eine historische
Parallele: Denn bereits im letzten Jahrhundert kapselten sich
die Afghanen von der Außenwelt ab, um sich gegen jede ausländische
Einflußnahme zu wehren.
Auch soll an dieser Stelle noch die Interessengruppe der Exilafghanen,
die über Kontakte zu ausländischen Regierungen versuchen,
in Afghanistan wieder Einfluß zu gewinnen, genannt werden.
Ihre Programme sind in der Regel gut gemeint, haben jedoch keinen
Realitätsbezug. Es ist eine Illusion zu glauben, daß
auch nur eine Kriegsfraktion bereit wäre, ihre Macht mit
Exilafghanen zu teilen. Denn in diesen sehen die Kriegsparteien
die Vertreter der traditionellen Elite, die ihnen aufgrund ihres
höheren Bildungsstandards und ihrer sozialen Stellung überlegen
sind. Auch wird den Exilafghanen vorgeworfen, sich aus dem Staub
gemacht, anstatt als echte Patrioten mit der Waffe in der Hand
das Land verteidigt zu haben.
Die Verhandlungsbereitschaft der Nordallianz seit Herbst 1997
sowie ihr Versuch über den Austausch von Gefangenen mit den
Taliban in einen Dialog zu kommen, könnten als Fortschritt
der jüngsten Friedensbemühungen der USA und UNO gewertet
werden. Doch kann es ebenfalls sein, daß die Nordallianz
durch diese Verhandlungen nur Zeit gewinnen will, um die Taliban
von innen her zu schwächen. Denn es wird immer deutlicher,
daß die Macht der Taliban nur auf dünnem Eis steht:
So erschütterte die Serie von Niederlagen das Vertrauen ihrer
Anhänger in den paschtunischen Stammesgebieten. Erstmals
haben die Taliban Probleme, neue Kämpfer zu rekrutieren,
weshalb verstärkt Religionsstudenten in den pakistanischen
Koranschulen angeworben werden, die oft weder Paschtu noch Dari
sprechen. Auch in der Verbreitung ihrer Ideologie stießen
die Taliban an ihre Grenzen, da sich zunehmend die Unterschiede
zwischen ihrem Islam und dem paschtunischen Ehren- und Rechtscodex
offenbaren: Als der Justizminister, Mullah Nuruddin Torabi, im
November in Jalalabad die Scharia nach dem Vorbild Kabuls einführen
wollte, verurteilte eine paschtunische Stammesversammlung die
Maßnahmen der Taliban nach seiner Abreise. Auch in einigen
ostafghanischen Provinzen ist die Position der Taliban nur noch
schwach, da hier lokale Mudschahedin ihre autonome Stellung behaupten
konnten. Schließlich nimmt auch unter der Zivilbevölkerung
die Unzufriedenheit gegenüber den Taliban zu, da wirtschaftliche
Verbesserungen ausbleiben und die Religionsstudenten mittlerweile
wie einst die Mudschahedin der Bevölkerung hohe Abgaben auferlegen.
Zusammenfassung
Der Afghanistankonflikt ist ein Beispiel dafür, wie das interne
Konfliktpotential eines Landes von den Interessen ausländischer
Mächte ausgenutzt werden kann. Die Konkurrenz zwischen der
traditionellen Elite und der neuen Intelligenzia sowie der Stadt-Land-Gegensatz
hatten die Afghanistankrise ausgelöst. Die Supermächte
USA und Sowjetunion nutzten diese Krise für einen Stellvertreterkrieg,
in dem sie das interne Konfliktpotential für ihre Interessen
mobilisierten. Mit dem Abzug der Sowjetarmee mutierte der Afghanistankrieg
zu einem regionalen Konflikt, in dem die Nachbarländer zur
Durchsetzung ihrer Interessen die Konfliktparteien unterstützen.
Im Afghanistankrieg stellte sich heraus, daß nur die Parteien
bestehen können, die über einen Rückhalt in der
Bevölkerung verfügen. Besonders die ethnische Bindung
bewährte sich als sozialer Leim zwischen Bevölkerung
und Parteien. Das Scheitern der Hezb von Hekmatyar ist nicht zuletzt
darauf zurückzuführen, daß sie nie in der breiten
Bevölkerung verankert war und erst die Paschtunen-Karte spielte,
als es unglaubwürdig schien. Ohne Unterstützung Pakistans
war die Auflösung der Hezb nur eine Frage der Zeit. Pakistan
schien aus seinen Erfahrungen mit der Hezb gelernt zu haben. Denn
bei den Taliban verstand es Pakistan geschickt, das paschtunische
Moment einzusetzen, um sie in den paschtunischen Gebieten zu etablieren,
und gleichzeitig ihren paschtunischen Ethnozentrismus durch ihre
radikal-islamische Ausrichtung zu kaschieren. Die Dschamiat nutzte
von Beginn an das ethnozentristische Moment, um sich in den tadschikischen
Siedlungsgebieten auszubreiten. Mit ihrer Machtergreifung 1992
wechselte sie ihren ausländischen Partner. So sagte sie sich
von Pakistan los, das zu diesem Zeitpunkt noch die Hezb unterstützte,
und verbündete sich mit dem Iran und Rußland. Die Wahdat,
als Partei der schiitischen Hazara, gehört ebenfalls zur
Klientel Irans und wurde auf dessen Druck hin gegründet.
Dabei spielte für den Iran ihre religiöse Ausprägung
eine stärkere Rolle als ihre ethnische. Die Dschombesch hat
in der usbekischen Minderheit ihren wesentlichen Rückhalt
und erhält von den GUS-Staaten Unterstützung, die ein
radikal-islamisches Afghanistan an seinen Grenzen fürchten.
Doch wäre es falsch, den Afghanistankrieg als Marionettenspiel ausländischer Mächte zu beschreiben, da die Eigendynamik dieses Konflikts nicht unterschätzt werden darf: In Afghanistan lebt mittlerweile eine Bevölkerung, für die der Krieg Alltag und das Kämpfen zum Beruf geworden ist. Ein Zusammenleben aller Afghanen unter einem gemeinsamen Dach ist aufgrund des blutigen Bruderkriegs, der tiefe Gräben zwischen die afghanische Bevölkerungsgruppen getrieben hat, auf mittelfristige Sicht kaum vorstellbar. Als Hoffnung bleibt, daß trotz der Fragmentierung des Landes alle Afghanen fest an die Integrität Afghanistans glauben. |
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