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Politik und Gesellschaft Online International Politics and Society 2/1998 |
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Hans-Jürgen Urban Stolpersteine und Wegweiser auf der Straße zur Europäischen Sozialunion Vorläufige Fassung / Preliminary version Daß die soziale Integration Europas der politischen und allemal
der ökonomischen hinterher hinkt, ist eine über kontroverse Grundpositionen
hinweg weitgehend geteilte Auffassung. Gleiches gilt wohl auch noch, trotz
aller Differenzen in der sonstigen Einschätzung der geplanten Europäischen
Wirtschafts- und Währungsunion (WWU), für die These, daß
von der bevorstehenden, monetären Integration keine unmittelbaren
positiven Effekte auf das Beschäftigungs- und Sozialniveau zu erwarten
sind. Für einen "Beschäftigungsautomaten" hält
den EURO wohl niemand. Kontroverser wird das Meinungsbild jedoch, fragt
man nach den mittel- und langfristigen sowie den indirekten Auswirkungen
der gemeinsamen Währung. Hofft die eine Position, die mit den Wechselkursen
verschwindenden Währungsturbulenzen und Transaktionskosten ließen
sich in Wettbewerbsvorsprünge und damit in zusätzliche Arbeitsplätze
überführen, so hebt die andere hervor, daß mit dem Wegfall
der währungspolitischen Autonomie ein einsetzbarer Puffer zum Ausgleich
nationaler Krisen oder asymmetrischer Schocks verloren gehe und somit Löhne,
Arbeitsmärkte und schließlich das gesamte Institutionengefüge
unter erhöhten Anpassungsdruck gerate. Während die erste Einschätzung
neue sozial- und beschäftigungspolitische Spielräume nahelegt,
läßt die zweite erhöhten Druck auf Arbeitsplätze sowie
Arbeits- und Sozialeinkommen befürchten. Neue Diskussionsanstöße kamen vor geraumer Zeit insbesondere
aus Frankreich. Mit seiner Kritik am "Modell Tietmeyer" hatte
Pierre Bourdieu die deutsche Europa-Debatte belebt. Dem aktuell (nicht
nur) in Deutschland vorherrschenden monetaristischen Rigorismus, der die
sozialen Ansprüche der Gesellschaft den Spielregeln der Finanzkapitalmärkte
zu unterwerfen sucht, stellte er die Forderung eines europäischen,
supranationalen "Welfare State" gegenüber und mahnte zugleich
die Mobilisierung "aller fortschrittlichen Kräfte (an), die auf
diese Weise der falschen Alternative entgehen, die man ihnen aufzuzwingen
sucht - zwischen einem wahren Nationalismus und einem falschen Internationalismus,
der nur die Maske eines veritablen Imperialismus ist". Mit dieser
Intervention legte Bourdieu den Finger in eine offene Wunde der Linken.
Denn trotz einer mittlerweile jahrzehntealten Debatte um die "soziale
Dimension" Europas müssen sich gerade die "fortschrittlichen
Kräfte" eingestehen, daß sie bei deren Verwirklichung bisher
nicht sonderlich erfolgreich waren. Und dies, obwohl die europäische
Herausforderung z.B. in den gewerkschaftlichen Debatten durchaus eine Rolle
spielt. Aber angesichts der Entwicklungsrichtung des Integrationprozesses
wirken die sozial- und beschäftigungspolitischen Mahnrufe der Gewerkschaften
geradezu naiv. Bei der Frage nach den Ursachen der defizitären sozialen Ausgestaltung
Europas wird insbesondere an die Gewerkschaften oft der Vorwurf subjektiver
Unwilligkeit gerichtet. Sie zögen es vor - so eine beliebte Sichtweise
- sich in der "nationalen Wagenburg" zu verschanzen, und es fehle
ihnen -wider besseren Wissens - an Mut, sich auf das unbekannte Terrain
der supranationalen Interessenvertretung herauszuwagen. Diese Einschätzung
ist zum einen sicherlich nicht falsch. Momente eines "wirtschaftlichen
und institutionellen Nationalismus" (W. Streeck), also der Verteidigung
nationaler Produktivitätsvorsprünge (als Basis erkämpfter
Sozialstandards) oder der Bewahrung institutioneller Arrangements (als
erprobter und vertrauter Modi der Interessenvertretung) sind nicht zu übersehen
und haben die Gewerkschaften in den nationalen Politikarenen festgehalten. Aber zugleich ist dieser Blick auf die Dinge doch sehr eng. Jedenfalls
birgt er die Gefahr einer subjektivistischen Verkürzung der Problembeschreibung
in sich, die die Hartnäckigkeit objektiv-struktureller Hemmnisse bei
der Herausbildung europäischer sozialstaatlicher Strukturen zu unterschätzen
droht. Gegenüber diesen existiert aber eine eigentümliche Bißhemmung.
Sie beruht wohl vor allem auf der zweifelsohne gut begründeten Abneigung
der deutschen Linken (innerhalb wie außerhalb der Gewerkschaften),
über Europa "schlecht zu reden". Die fraglos berechtigte
(Selbst-)Kritik der Gewerkschaften fällt leichter als die an Europa.
Außer in einigen akademischen Diskursen findet eine linke Europakritik
nicht statt. In der medialen Öffentlichkeit kommt sie wahrnehmbar
entweder von rechts oder schwimmt auf der Welle eines dumpfen Wahlkampf-
und DM-Populismus. Die Angst, von dieser Seite vereinnahmt zu werden, blockiert
offensichtlich Fähigkeit und Bereitschaft, sich auch der strukturellen
Fehlentwicklungen im europäischen Integrationsprozeß in einer
offenen Diskussion zu vergewissern - und nach den politischen Konsequenzen
zu fragen. Doch die linke Europaposition kann sich nicht durch Kritiklosigkeit
von derjenigen der Rechten unterscheiden. Die Überwindung des sozialpolitischen
Defizits in der EU , so die hier vertretene These, setzt auch eine
illusionslose Aufarbeitung der politischen Kräfteverhältnisse
in der EU sowie der interessenpolitischen und institutionellen Blockaden
in den europäischen Verhandlungssystemen voraus. Nicht, um die bisherigen
Unzulänglichkeiten schön oder einem europapolitischen Attentismus
das Wort zu reden. Vielmehr, um zu einer realistischen Ausmessung der Handlungsspielräume
und Freiheitsgrade einer sozialen Politik sowie zu einer zielführenden
Bestimmung der Handlungsebenen in Europa zu gelangen. Dabei bestünde durchaus die Möglichkeit, rechten oder europafeindlichen
Vereinnahmungsversuchen durch die Bewältigung einer Doppelaufgabe
vorzubeugen. Dabei müßte es erstens um die Kritik der
neoliberalen Deformation der europäischen Integration, des Mißbrauchs
für einen gigantischen Angriff auf die sozialstaatlichen Errungenschaften
des fordistischen Kapitalismus gehen. Dieser Integrationskurs verspielt
zunehmend die Akzeptanz Europas in den Bevölkerungen der Mitgliedsstaaten
und erhöht die Gefahr nationalistischer Rückschläge. Sie
kann daher kein Identifikationsprojekt einer linken, sozialen Politik in
Europa sein. Dem müßte zweitens das Gegen-Projekt eines
neuen, sozial-ökologischen Entwicklungsmodells für Europa gegenüber
gestellt werden, das aus den Energien der aktuellen Proteste seine Schubkraft
für eine soziale Regulierung der Integration gewinnt. Für die
Rechte mag der Rückbezug auf die Nation eine Option sein, die Linke
steht vor der Herausforderung einer proeuropäischen Europakritik;
als Grundlage einer intervenierenden Politik wie als Schutz vor falschen
Weggefährten. Der vorliegende Beitrag will einige Überlegungen zu dieser Problematik beitragen. Im folgenden sollen die Vermutungen formuliert und mit einigen Argumenten begründet werden,
Überflüssig zu betonen, daß es sich in einem kurz zu
haltenden Diskussionsbeitrag eher um Gedankensplitter denn um eine systematische
Problemerörterung handelt. Restriktionen beim Aufbau europäischer Arbeits- und Sozialbeziehungen
Die fehlende gemeinsame Deutungsgrundlage Das Problem beginnt bereits bei der Frage nach der grundlegenden Entwicklungsrichtung
des europäischen Integrationsprozesses bzw. dem Stellenwert "des
Sozialen" in ihm. Die Integrationsforschung tut sich ebenso schwer
wie die politische Debatte. So konstatiert H.-W. Platzer zu Recht massive
Unsicherheiten und Orientierungsprobleme in der wissenschaftlichen Europadebatte.
"Die übergreifende Frage nach Stand und Zukunft des 'europäischen
sozial- und wohlfahrtsstaatlichen Modells' im Prozeß ökonomischer
Globalisierung/ Triadisierung ist politisch und fachwissenschaftlich ebenso
umstritten wie die darin eingebettete Frage nach der bisherigen Substanz
und den Entwicklungsperspektiven der 'sozialen Dimension' in einem sich
ökonomisch-politisch integrierenden Europa". Diese Kontroverse
reproduziert die auch in den Debatten der Einzelstaaten anzutreffende Trennung
zwischen neoliberalen Wettbewerbs- und Deregulierungsansätzen sowie
keynesianisch-wohlfahrtsstaatlich geprägten Gestaltungskonzepten.
Zugleich ist jedoch "bemerkenswert und erklärungsbedürftig
(...), daß auch und gerade die letztere Denkschule zu vollkommen
konträren Diagnosen und Prognosen kommt, wenn es um die Bewertung
der sozialpolitischen Konsequenzen des europäischen Integrationsprozesses
und die aktuelle bzw. potentielle Rolle der europäischen Union (EU)
geht". In Anlehnung an Platzer lassen sich in der linken Debatte drei
Interpretationstypen ausmachen, die sich insbesondere in der Einschätzung
des erreichten Standes bzw. der zukünftigen Chancen eines europäischen,
wohlfahrtsstaatlichen Modells unterscheiden: Die eine Interpretation sieht in der EU ein Erosionsvehikel für
die sozialstaatliche Verfaßtheit der europäischen Gesellschaften.
Der Integrationsprozeß werde eindimensional von der Handlungslogik
der unumschränkten Faktormobilität (freier Verkehr von Waren,
Dienstleistungen, Kapital und Arbeit) dominiert, die die Logik sozialstaatlicher
Interventionen zunehmend zurückdrängt. Die absehbare Perspektive
sei eine Marktgesellschaft ohne Staat in Europa und damit die "Entzivilisierung
des Kapitalismus" (W. Streeck). Da in diesem Modus der "negativen
Integration" Politik ausschließlich auf die Beseitigung nationaler
Handelshindernisse und Wettbewerbsbeschränkungen ausgerichtet ist,
bleibt für eine soziale Ausgestaltung kein Raum. "Im Ergebnis
verschiebt sich dadurch die Balance zwischen kapitalistischer Ökonomie
und demokratisch legitimierter Politik, die sich in den Nachkriegsjahrzehnten
in den westeuropäischen Sozialstaaten herausgebildet hat". Die zweite Sichtweise erblickt hingegen in der EU einen möglichen
Rettungsanker zur Wiedergewinnung der durch die Globalisierung verlorengegangenen
wirtschafts-, währungs- und sozialpolitischen Handlungsfähigkeit
der Nationalstaaten. Da die Wirkungsmacht sozialstaatlicher Politik bisher
auf die nationalstaatliche Arena begrenzt war, die globalisierte Ökonomie
den nationalstaatlichen Rahmensetzungen jedoch zu entfliehen vermag, bedürfe
es einer supranationalen Instanz, um die Kongruenz zwischen ökonomischem
und politischem Raum wiederherzustellen. Dadurch könne der nationale
Wohlfahrtsstaat alter Prägung "im Rahmen eines supranationalen
Integrationsraums rekonstruiert werden". Notwendig sei jedoch eine
"Übertragung der wirtschafts-, geld-, lohn- und sozialpolitischen
Gestaltungsmacht auf übergeordnete Politikträger des Integrationsraums";
dadurch könne die "weitgehende Rückgewinnung der Handlungsfähigkeit
auf dieser supranationalen Ebene erreicht werden". Schließlich wären jene Positionen zu nennen, die die EU als
Gestaltungsfaktor sieht, der im Zuge der weiteren wirtschaftlichen
Integration auch die Förderung des sozialen Fortschritts anvisiert
oder zumindest ermöglicht. Dies werde nicht zuletzt im Vergleich mit
dem sozialpolitischen Vakuum im Nordamerikanischen Freihandelsabkommen
(NAFTA) deutlich. Aus dieser Sichtweise wird vor allem auf die Verträge
von Maastricht bzw. das "sozialpolitische Protokoll" sowie auf
Fortschritte im Bereich des originären Gemeinschaftsrechtes verwiesen
( z.B. auf die Regelungen zur sozialen Absicherung der Freizügigkeit
der Arbeitnehmer, zur Gleichbehandlung von Männern und Frauen, zur
Sicherheit und zum Gesundheitsschutz am Arbeitsplatz und zur Absicherung
eines Mindestschutzes bei Massenentlassung und Betriebsübergang).
Ebenfalls als Indikator einer voranschreitenden Ausgestaltung der sozialen
Dimension wird - trotz durchaus gesehener Defizite - die Richtlinie zu
den Europäischen Betriebsräten (EBR) interpretiert. Hinzu kommt
schließlich der Verweis auf den ausgeweiteten europäischen Sozialfonds,
sowie Programme und Initiativen zur finanziellen Unterstützung wettbewerbsschwächerer
Länder und Regionen. Diese hier nur angedeutete Vielfalt, ja Gegensätzlichkeit der Interpretationen
verweist auf eine gewisse Hilflosigkeit bei der analytischen und normativen
Durchdringung des Phänomens "Europa". Immer noch taumelt
die Linke zwischen dem schönen Traum der Überwindung nationaler
Borniertheiten in einem sozialen Europa und der schnöden Wirklichkeit
der europäischen Arbeits-und Sozialbeziehungen hin und her. Jedoch
wäre (gerade aus gewerkschaftlicher Sicht) ein höherer Grad an
"Klärung" wünschenswert. Dabei kann selbstredend nicht
eine, die kontroverse Debatte beendende Monopolinterpretation das Ziel
sein; vielmehr geht es um die Erarbeitung einer gemeinsamen Deutungsgrundlage
als Voraussetzung gemeinsamer Politikfähigkeit der Linken. Denn ohne
einen analytischen Minimalkonsens in der grundsätzlichen Beurteilung
der europäischen Integration wird weder die Formulierung konzeptioneller
Reformalternativen noch ihre Durchsetzung möglich sein. Die reaktivierte Reservearmee Sicherlich wirkt diese analytische Unentschlossenheit auch in die gewerkschaftsinterne
Debatte hinein und erschwert die ohnehin nicht leichte Formulierung einer
konsistenten und glaubwürdigen Europapolitik. Doch dies ist nicht
das größte Problem bei der Europäisierung gewerkschaftlicher
Politik. Hinzu kommen die schwierigen sozial-ökonomischen und politischen
Rahmenbedingungen in den europäischen Nationalstaaten. Phasen struktureller
Massenarbeitslosigkeit und neoliberaler Hegemonie sind Phasen gewerkschaftlicher
Defensive. In seinem "kurzen Traum immerwährender Prosperität"
hatte B. Lutz herausgearbeitet, daß die "Neutralisierung des
Lohngesetzes" im Zuge einer erfolgreichen wohlfahrtsstaatlichen Politik
eine entscheidende Determinante jener Prosperitätskonstellation der
Nachkriegsära darstellte, in der die Gewerkschaften in Europa ihre
Erfolgsstorys schreiben konnten. Seit den 80er Jahren wurde jedoch der
Mechanismus der industriellen Reservearmee durch die Zangenbewegung zweier
Entwicklungen reaktiviert: Zum einen hat in allen EU-Staaten die gegenläufige
Entwicklung aus forcierten Produktivitätszuwächsen und nachlassenden
Wirtschaftswachstumsraten in erheblichem Umfang zur Herausdrängung
lebendiger Arbeit aus dem Produktionsprozeß geführt. Dabei geht
in Westeuropa der bleibend hohe Stand der Arbeitslosigkeit insbesondere
im letzten Zyklus auf eine signifikante Investitionsschwäche zurück.
Trotz expandierender Ausfuhren sind in den letzten Jahren kaum positive
Impulse auf die Ausrüstungsinvestitionen übergegangen, was nicht
zuletzt auf die Defizite in der Konsumnachfrage, insbesondere beim privaten
Verbrauch verweist. Dort, wo wie in Dänemark, den Niederlanden oder
Großbritannien arbeitsmarktpolitischen Erfolge zu verzeichnen sind,
können sie nicht auf die in ganz Westeuropa ausgesprochen günstigen
Angebotsbedingungen, sondern eher auf staatlich organisierte Nachfrage-,
Arbeitsmarkt- und Währungspolitik zurückgeführt werden.
"Insgesamt läßt sich feststellen, daß die arbeitsmarktpolitisch
erfolgreichen Länder - selbst bei hohem Sozialleistungsniveau - entweder
gar nicht angebotspolitisch agierten oder die Angebotspolitik nur dann
erfolgreich war, wenn sie im Zuge einer nominalen und/oder realen Währungsabwertung
eine 'beggar-my-neighbour policy' betrieben und/oder Impulse vom privaten
Verbrauch kamen". Doch trotz der relativ früh absehbaren Erfolglosigkeit dieser "prozyklischen Parallelpolitik" (A. Oberhauser) hatten sich europaweit in den achtziger Jahren staatliche Haushaltskonsolidierungskonzepte durchgesetzt. Mit dem Ziel einer Entlastung der Wirtschaft und der öffentlichen Kassen von den wachsenden Sozialkosten wurden einschneidende Maßnahmen der Kostendämpfung im Bereich der sozialen Sicherheit getroffen. Dabei wirkten die "Konvergenz-Kriterien" der WWU insbesondere in den neunziger Jahren als externer Verstärker und als Knebel für eine wirtschaftspolitische Wende hin zu mehr Beschäftigung. Diese "Sparmaßnahmen" bezogen sich vor allem :
Zwar gelang im Zuge der rigorosen Umverteilungspolitik eine erhebliche
Entlastung der Unternehmen, die Ziele der Konsolidierung der Staatshaushalte
und der Reduzierung des notwendigen Sozialaufwandes wurden jedoch verfehlt.
Insbesondere die europaweiten staatlichen Sparmaßnahmen verschärften
die Arbeitslosigkeit, blockierten wirtschaftliches Wachstum und führten
die Staaten geradewegs in die "Sozialabbau-Falle" und damit zu
höheren Sozialausgaben. Arbeitslosigkeit und Sozialabbau trugen jedoch erheblich zu einer Verschärfung
der sozialen Konkurrenz auf den Arbeitsmärkten und somit zur Defensive
der Gewerkschaften bei. Die Erosion gewerkschaftlicher Durchsetzungsmacht
auf nationaler Ebene befördert jedoch nicht Bereitschaft und Fähigkeit
zu einer supranationalen Reorganisation gewerkschaftlicher Gegenmacht,
sondern eher einen Anpassungsdruck in Richtung nationaler Modernisierungskoalitionen
mit Kapital und Staat. Solche tripartistischen Allianzen auf nationaler
Ebene - das hat die Korporatismusforschung gezeigt - nähren auf Seiten
der geschwächten Gewerkschaften die Hoffnung, in den politischen Tauschprozessen
einen gewissen Halt und damit Schutz vor dem freien Fall in die Bedeutungslosigkeit
zu finden. Vor allem aber, und dies interessiert hier besonders, binden
sie Aufmerksamkeit und Ressourcen in den nationalen Arrangements und wirken
als starke Restriktion gegenüber einer transnationalen Erweiterung
gewerkschaftlicher Politik. Politikverflechtung und Politikverweigerung Verstärkt wird diese Eingrenzung in der nationalen Politikarena
durch ein Strukturproblem, auf das W. Streeck mit seiner Ergänzung
der handlungs- und akteurstheoretischen Sichtweise auf den Integrationsprozeß
verweist. Ausgangspunkt seiner Überlegung ist die weitgehend geteilte
Beobachtung, daß europäische Sozialpolitik bisher weitgehend
als marktöffnende, also vorwiegend nationale Wettbewerbshindernisse
beseitigende Politik stattgefunden hat, von einer marktkorrigierenden,
also z.B. soziale Bürgerrechte in Kraft setzende und Machtasymmetrien
auf den Arbeitsmärkten korrigierende Politik jedoch kaum die Rede
sein kann. Für Streeck stellt europäische Sozialpolitik das Ergebnis
von Auseinandersetzungen in zwei unterschiedlichen, transnationalen Handlungssystemen
dar: im zwischenstaatlichen System der Gemeinschaft, also dem der Nationalstaaten;
sowie im gesellschaftlichen, vorstaatlichen Handlungssystem der zwei Klassen
des transnationalen Arbeitsmarktes: Arbeit und Kapital. Aus dieser dichotomen
Perspektive setzt er an der bisherigen Integrationsforschung (explizit
der F. W. Scharpfs) an, die sich weitgehend auf die Analyse vorhandener
Souveränitätsverflechtungen und Entscheidungsblockaden im zwischenstaatlichen
Handlungssystem konzentriert hat. So hat F. W. Scharpf in seiner These
von der "Politikverflechtungs-Falle" in Europa die Auffassung
vertreten, daß die Defizite der europäischen Politik nicht lediglich
als Folgen von auftretenden Mängeln der Informationsverarbeitung und
Schwierigkeiten der Konsensbildung zu interpretieren seien, "sondern
daß die institutionellen Strukturen der Europäischen Gemeinschaft
suboptimale Politikergebnisse systematisch begünstigen." Diese
Strukturen seien durch zwei Pathologien geprägt: durch die Abhängigkeit
der Entscheidungen der höheren Ebene von der Zustimmung der Regierungen
der unteren Entscheidungsebene sowie durch die Abhängigkeit dieser
Zustimmung von Einstimmigkeit oder Fast-Einstimmigkeit. In diesen Strukturen
könnten die Akteure zwar von der Sache her mehr oder minder befriedigende
Lösungen aushandeln, aber Strukturveränderungen, die auch bei
fehlendem Konsens ein hohes Maß an Handlungsfähigkeit gewährleisten
könnten oder gar der generelle Ausbruch aus dieser Handlungskonstellation,
seien kaum denkbar. Diese pathologischen Strukturen (die laut Scharpf auch
nach "Maastricht" und dem "Sozialpolitischen Protokoll"
weiter existieren) halten die Akteure in einer Entscheidungsfalle fest
und blockieren nun gerade marktkorrigierende Regulierungen der Sozialpolitik,
die auf einen hohen Konsens angewiesen sind. Als solche sind produktions-
und standort-(also prozeß-)bezogene Standards, z.B arbeitplatzbezogene
Regeln zu Arbeitszeiten, Mitbestimmung und Sozialabgaben, die unmittelbar
in die Produktionskosten eingehen, zu werten. Hier sind aufgrund starker
Produktivitäts- und Wettbewerbsunterschiede in den EU-Staaten hohe,
dissensstiftende Interessendivergenzen gegeben und daher auch in Zukunft
keine größeren Fortschritte zu erwarten. Anders sieht es bei
den produktbezogenen Standards (z. B. Vorschriften im Umwelt-, Verbraucher-
und Arbeitsschutz) aus, die marktöffnend im Sinne einer Verallgemeinerung
gleicher Marktteilnahmebedingungen wirken. Hier ist ein höheres Maß
an Interessenkonvergenz vorhanden und insofern sind auch zukünftig
weitere Vereinbarungen durchaus denkbar. Streeck plädiert nun dafür, auch die sozialen Interessen und
die Machtbalance zwischen Kapital und Arbeit, also die interessen- und
machtpolitischen Konstellationen des zweiten Handlungssystems, sowie die
Wechselwirkungen beider Systeme miteinander, in die Analyse mit einzubeziehen.
Durch diese politökonomische Unterfütterung der Prozesse in der
zwischenstaatlichen Arena wird der Blick auf eine doppelte Benachteiligung
der Arbeitsinteressen gegenüber der Kapitalseite, auf eine "fundamentale
Asymmetrie zwischen den Klassen" frei: "Diese besteht darin,
daß der Kapitalseite die Verfolgung einer klassenpolitischen transnationalen
Strategie strukturell leichter fällt als der Arbeitnehmerseite, und
zwar deshalb, weil sie in ihrem Klasseninteresse handeln kann, indem sie
entweder überhaupt nicht oder wie bisher nur auf nationaler Ebene
handelt. Die Arbeitnehmerseite dagegen kann ihre Klasseninteressen nur
durchsetzen, wenn es ihr gelingt, positive transnationale Strategien zu
formulieren, ein aktives interessenpolitisches Handlungspotential auf transnationaler
Ebene aufzubauen und die dem zwischenstaatlichen System eigene Entscheidungs-
bzw. Nichtentscheidungslogik zu suspendieren". Während also die
Arbeitnehmerseite auf die Etablierung von institutionellen, normativen
und prozessualen Regulierungen, also auf aktives Handeln angewiesen ist,
sind Nichthandeln und ausbleibende Entscheidungen "grundsätzliche
politische Aktivposten" der Kapitalseite. Nichthandeln und Entscheidungsblockaden sind jedoch aufgrund von divergierenden
interessenpolitischen Ausgangssituationen der einzelnen nationalstaatlichen
Akteure (z.B. aufgrund unterschiedlicher ökonomischer und Wettbewerbspositionen,
die unterschiedliche Interessen konstituieren) und den EU-spezifischen
Entscheidungsmodalitäten (hoher Konsensbedarf bis hin zum Einstimmigkeitsprinzip)
logisch wie empirisch die Normalfälle in den hochkomplexen und politikverflochtenen
Arenen der europäischen Union. Ein Ausgleich bzw. Gegengewicht müßte
daher im zweiten, vorstaatlichen Handlungssystem z.B. in Form tarifvertraglicher
Vereinbarungen geschaffen werden. Aber auch hier besteht für die Kapitalseite
die recht einfach zu praktizierende Möglichkeit der Interessenwahrnehmung
durch Politikverweigerung. Gerade daran krankt der vielfach mit hohen Hoffnungen
beladene "Soziale Dialog" in der Europäischen Union. Aus
Sicht des Kapitals hat sich dabei die "Politik des leeren Stuhls"
durchaus bewährt. Zu wirklich marktkorrigierenden Regelungen ist es
daher bisher kaum gekommen. Streeck zieht aus dieser Interessen - und Akteurskonstellation eine
auch für die Zukunft nicht gerade optimistisch stimmende Schlußfolgerung:
"Selbst dann jedoch, wenn die europäischen Arbeitnehmer ihre
nationale Organisierung überwinden und sich transnational handlungs-
und verhandlungsfähig machen könnten, fehlt ihnen auf der europäischen
Ebene ein Gegenspieler und ein Vertragspartner. Die damit absehbare Fruchtlosigkeit
transnationaler Organisierung trägt dazu bei, die nationalen Organisationsformen
auf Arbeitnehmerseite weiter zu verfestigen". Daher rät er den
Gewerkschaften, sich der Frage zu öffnen, "wie das hohe deutsche
Niveau einer sozialen Sicherung und gewerkschaftlicher Beteiligung in einer
integrierten europäischen Ökonomie zu verteidigen ist, deren
politisches System sich auch in Zukunft nicht dazu hergeben wird, den deutschen
Sozialstaat durch seine europäische Allgemeinverbindlichkeitserklärung
vor wirtschaftlichem Wettbewerb zu schützen". Handlungsebenen und Ansätze einer sozialen Regulierung Handlungsebenen im Mehrebenensystem Dieser eher ungewöhnliche Rat, sich mangels Erfolgsaussichten auf
europäischer Ebene der Verteidigung nationaler Sozialstaatsstrukturen
zu widmen, kann für sich in Anspruch nehmen, vor einer Illusion zu
warnen. Der Illusion nämlich, die Gewerkschaften könnten die
in den Nationalstaaten im Zuge von Massenarbeitslosigkeit und neoliberaler
Hegemonie verloren gegangene Durchsetzungsfähigkeit umstandslos durch
transnationale Strukturen auf europäischer Ebene ersetzen. In einem
Mehrebenensystem müssen aber auch die Gewerkschaften mit einer Mehrebenenpolitik
agieren, d.h. sie müssen zugleich auf nationaler wie supranationaler,
und zunehmend auch regionaler Ebene tätig sein und in ihren Politikkonzepten
die Wechselwirkung dieser Handlungsebenen neu definieren. "Die theoretische
Herausforderung liegt darin, das wechselseitige Zusammenspiel zwischen
unterschiedlichen Handlungs- und Entscheidungsebenen und die darin angelegte
Eigendynamik zu verstehen; das praktische Problem besteht in der Tatsache,
daß gesellschaftliche Akteure mit diesen komplexen Zusammenhängen
umgehen und sich auf die dadurch verursachten Unsicherheiten, Informations-
und Koordinationsprobleme einstellen müssen". Doch auch im europäischen Mehrebenensystem sind die Mitgliedstaaten,
insbesondere in der Sozialpolitik, die zentralen Akteure; nicht zuletzt
deshalb, weil bisher keine eigenständige, supranational-europäische
Instanz und keine organisierten und handlungsfähigen Sozialparteien
existieren. "Solange sich auf europäischer Ebene keine relevanten,
durchsetzungsmächtigen eigenen Klientele gebildet haben, sind die
jeweiligen Regierungen der Mitgliedsstaaten in ihrer Gesamtheit das Nadelöhr
für jeden Entwicklungsschub, und solange fehlt auch ein europäisierendes
Gegengewicht in der Gemeinschaftspolitik, mit dem die Selbständigkeit
der EU profiliert würde." Es sind die nationalen Regierungen
, die (vor allem im Europäischen Rat) über die Spielregeln und
Vereinbarungen in den transnationalen Verhandlungsarenen dieser "Kollektivorganisation
der Mitgliedsstaaten" (S. Leibfried) und damit über den Entwicklungspfad
der Integration entscheiden. Ob es zu einer supranationalen (Sozial-)Staatlichkeit,
oder zu institutionellen Kooperationsformen im Sinne einer "positiven
Souveränitätsverflechtung" (und damit z.B. zur Rückgewinnung
beschäftigungspolitischer Kompetenz auf EU-Ebene), oder zu einer Renationalisierung
aufgrund von Entscheidungsblockaden im transnationalen Verhandlungssystem,
oder zu einer anderen Entwicklung kommt - sie wird Resultat der Entscheidungsfindungen
(und damit der Kräfteverhältnisse) in den nationalen Arenen bzw.
des Zusammenspiels der Nationalregierungen in der europäischen Arena
sein. Doch die Mitgliedstaaten agieren auch "nach innen". Sie besitzen durchaus nationale Handlungsspielräume in der Wirtschaft-, Beschäftigungs-, Fiskal- und Sozialpolitik, die für die Binnenentwicklung der einzelnen Länder (und dadurch auch wieder für die Rolle, die der jeweilige Staat auf europäischer Ebene spielt) von entscheidender Bedeutung sind. Gerade die "erfolgreichen" Einschnitte in die sozialstaatlichen Strukturen und Leistungsgesetze sowie die politische Aufkündigung konsensualer Beziehungen haben in vielen EU-Staaten die hohe "Destruktionskompetenz" der Nationalstaaten unter Beweis gestellt. Der immer wieder zu vernehmende Verweis auf die "Sachzwänge" Globalisierung oder Europa, der vor allem dazu dient, die dabei auftretenden Legitimationsdefizite in Grenzen zu halten, sollte nicht als Beleg für angeblich nicht mehr vorhandene Freiheitsgrade nationalstaatlicher Politik akzeptiert werden. Die gerade seit Beginn der neunziger Jahre in den hochentwickelten Staaten des fordistischen Kapitalismus doch sehr unterschiedliche Entwicklung läßt deutlich werden, "daß ungeachtet des Internationalisierungsprozesses nach wie vor ein beachtliches Maß an Varianz sowohl in den nationalen Wirtschaftspolitiken als auch im Institutionengefüge gegeben ist." Nicht zuletzt die Blockaden der "Politikverflechtungs-Falle" haben einer weitergehenden Souveränitätsübertragung von der nationalen auf eine supranationale Ebene entgegen gewirkt. Sie unterstützte die Staaten in ihren Bestrebungen, einen zu weitgehenden Kompetenzentzug zu verhindern. Dies wurde und wird durch "Opting-Out-Klauseln", die rechtliche Installierung (z.B. im EU-Vertrag) und die politische Renaissance des Subsidiaritätsprinzips usw. in der EU, aber auch in anderen internationalen Regimen, wie z.B. dem GATT gewährleistet. "Die Kodifizierung vielfältiger Schutzklauseln und Ausnahmeregelungen zielt ausdrücklich darauf, die binnenwirtschaftliche und wohlfahrtstaatliche Souveränität zu bewahren.." Wie andere internationale Regimes zeichnet sich auch die EU dadurch aus, "daß sie souveränitätsbewahrende Elemente mit interdependenzerhaltenden Elementen zu verbinden sucht." Wenn aber die Nationalstaaten nach "nach innen" wie "nach
außen" die zentralen Akteure sind, dann bleiben sie für
die Gewerkschaften (wie für andere oppositionelle Bewegungen) nach
wie vor sinnvolle Adressaten von Politikforderungen. Insofern ist es zur
Initiierung eines neuen Reformschubs unverzichtbar, den gesellschaftlichen
Druck der sozialen Proteste in Europa aufzugreifen, um die Staaten nach
innen wie in der EU zu einer politischen Wende zu drängen. Mit Blick
auf eine positive Einflußnahme auf den Verlauf der europäischen
Integration werden damit für gewerkschaftliche Politik eben die beiden
von Streeck genannten Handlungssysteme bedeutsam: das zwischenstaatliche,
weil durch Einflußnahme auf die Nationalstaaten hier die beschäftigungspolitische
Wende anvisiert werden muß; und das vorstaatliche System der transnationalen
Austragung der Interessengegensätze zwischen Kapital und Arbeit, in
dem der Erosion gewerkschaftlicher Vertretungsmacht durch eine Transnationalisierung
von Interessenvertretungsstrukturen entgegen getreten werden muß.
Die weiteren Überlegungen konzentrieren sich daher auf diese beiden
Bereiche. Ein neues Leitbild der Europäischen Integration Der gegenwärtige, insbesondere durch die WWU und damit durch "Konvergenz-Kriterien"
und "Stabilitäts-Pakt" geprägte Entwicklungspfad der
europäischen Union kann schwerlich die Zustimmung der Gewerkschaften
finden. Er steht für eine Verabsolutierung der Geldwertstabilität
und damit für eine weitere Ablehnung einer aktiven Konjunktur-und
Beschäftigungspolitik in einer Union, in der die strukturelle Massenarbeitslosigkeit
doch zweifelsohne das Kardinalproblem darstellt. Insbesondere "die
von der Bundesbank angestrebte Ultrastabilität des EURO schließt
eine eigenständige Beschäftigungspolitik aus. Die Hegemonie der
Währungspolitik führt zwangsläufig zur Entpolitisierung."
Der durch die deutsche Bundesregierung erzwungene "Stabilitäts-
und Wachstumspakt", der weder zur Geldwertstabilität noch zu
einem forcierten Wirtschaftswachstum einen produktiven Beitrag zu leisten
vermag, droht zu einer Institutionalisierung und unbefristeten Verlängerung
der offensichtlich gescheiterten prozyklischen Paralellpolitik über
den Beginn der Währungsunion hinaus zu führen. Dabei stellt dieser
"Pakt" insbesondere wegen seiner noch restriktiver gefaßten
Verschuldungsregeln noch einmal "eine substanzielle faktische Verschlechterung
der Konditionen des Maastricht-Vertrages im nachhinein" dar. Durch eine Wirtschafts- und Sozialpolitik der EU, die die Deregulierung
weiter voran treibt, sich fast vollständig auf die Kontrolle der Inflation
beschränkt, einer aktiven Beschäftigungspolitik keinen Platz
einräumt und sie sogar durch die Knebelung der Fiskalpolitik in den
Nationalstaaten erheblich behindert, ist die Zunahme von Massenarbeitslosigkeit
und sozialer Polarisierung sowie wachsender Druck auf die nationalstaatlichen
Sicherungssysteme vorprogrammiert. Damit wäre jedoch endgültig
"das europäische Integrationsprojekt mit dem Projekt einer Entpolitisierung
der Ökonomie bzw. eines Umbaus des Interventions- und Sozialstaates
der Nachkriegszeit zum Wettbewerbsstaat identisch geworden". In dieser
Variante als "Erosionvehikel" (H.W.Platzer) der sozialstaatlichen
Verfaßtheit der europäischen Gesellschaft geriete Europa aber
auf absehbare Zeit in erhebliche Schwierigkeiten. Denn die damit verbundenen
Prozesse sozialer Marginalisierung und Desintegration wirken als latenter
Sprengsatz des erreichten Integrationsgrades und nagen kontinuierlich an
der ohnehin recht labilen Zustimmung der Bevölkerungen in den Mitgliedsstaaten.
Hier bedarf es dringend einer Umkehr. Im Kern geht es erstens um ein neues
Leitbild der Entwicklung Europas jenseits des Neoliberalismus und zweitens
um die Frage, mittels welcher Politikkonzepte der europäische Integrationsprozeß
in diese neue Entwicklungsrichtung gelenkt werden kann. Der gewerkschaftliche Anspruch, einen Beitrag zu dieser Neuausrichtung
des europäischen Integrationsprozesses zu leisten, würde den
gewerkschaftlichen Gestaltungsanspruch entnationalisieren und zugleich
auf den Erhalt eines zentralen Elementes des "europäischen Arbeitsbeziehungsmodells"
zielen. Denn im Kontrast zu den gewerkschaftspolitischen Traditionen in
den USA und Japan "beschränken sich die Gewerkschaften in Europa
in aller Regel nicht auf die Vertretung eng definierter Arbeitsinteressen,
sondern haben traditionell immer versucht, mit der Interessenvertretung
der Arbeitnehmer auch einen gesellschaftspolitischen Anspruch zu verbinden.
'Arbeit' wurde und wird als der zentrale Bezugspunkt der 'Arbeitsgesellschaft'
angesehen und legitimiert Überlegungen zur Weiterentwicklung der Gesamtgesellschaft."
Diese Europäisierung des gesellschaftspolitischen Anspruchs der Gewerkschaften
würde zugleich auf europäischer Ebene die notwendige Unterstützung
der Wiederherstellung nationalstaatlich-verankerter Durchsetzungsfähigkeit
fördern. Insbesondere ein europäischer Beitrag zur Beseitigung
bzw. Reduzierung der Massenarbeitslosigkeit würde erneut zur Abschwächung
jenes kurz skizzierten Mechanismus der industriellen Reservearmee führen,
der ein zentrales Moment der gewerkschaftlichen Schwächung auf nationalstaatlicher
Ebene und zugleich eine elementare Restriktion der Ausdehnung gewerkschaftlicher
Politik auf die transnationale Ebene ausmacht. Aufgrund der nach wie vor ausgeprägten Skepsis in den Nationalstaaten
gegenüber einer weiteren Kompetenzverlagerung wird es auf absehbare
Zeit keine supernationale, quasi-staatliche Instanz als Akteur einer neuen
Politik geben. Vielmehr werden die notwendigen rechtlichen, institutionellen
und politischen Rahmenbedingungen durch ein neues wirtschafts- und sozialpolitisches
Regime realisiert werden müssen, in dem die Nationalstaaten weiterhin
die zentralen Akteure darstellen. Entscheidend ist jedoch ein politisch
zu stiftender Kontext, der die Binnen- und die EU-Politiken der Staaten
an zuvor gemeinsam vereinbarten Ziele ausrichtet. Als konzeptionelle Grundlage eines solchen Regimes könnte ein reformulierter Euro-Keynesianismus dienen, jedoch nur in einer ökologisch geläuterten und für Fragen des gesellschaftlichen Nutzens sensibilisierten Variante. Um die sozial- und beschäftigungsschädliche Dominanz des Monetarismus zu brechen und das Ziel der Geldwertstabilität in seinen (durchaus bedeutsamen) Rang in der wirtschaftspolitischen Zielehierarchie zurückzustufen, empfiehlt sich die Formulierung eines neuen "magischen Vierecks" als Orientierungsrahmen einer auf ökologische und soziale Nachhaltigkeit zielenden Wirtschaftspolitik. Als Eckpunkte eines solchen Rahmens könnten folgende Ziele dienen:
Die zentrale Aufgabe einer europäischen Wirtschaftspolitik bestünde
nun darin, unter Minimierung sicher nicht vollständig zu vermeidender
Zielkonflikte den europäischen Integrationsprozeß an diesen
Margen zu orientieren. Europäische Beschäftigungspolitik nach dem Gipfel von
Amsterdam Angesichts einer durchschnittlichen Arbeitslosenquote von 11 Prozent
bzw. über 18 Millionen Arbeitslosen in der Gemeinschaft muß
die bisherige Beschäftigungspolitik der EU, sofern man von ihr überhaupt
reden kann, als gescheitert gelten. Bereits auf dem europäischen Rat
von Essen (Dezember 1994) wurde eine verstärkte Zusammenarbeit im
Bereich der Beschäftigung vereinbart. Fortgesetzt wurde die Erörterung
des Beschäftigungsproblems auf der im März 1996 eröffneten
Regierungskonferenz zur Revision des Maastricher Vertrages, die unter niederländischer
Präsidentschaft mit der Annahme des "Entwurfes des Vertrages
von Amsterdam" im Juni 1997 beendet wurde. Mit Blick auf das Beschäftigungsproblem sind wohl die Einfügung eines neuen "Beschäftigungskapitels" in den EGV sowie die Verabschiedung einer Entschließung des europäischen Rates über "Wachstum und Beschäftigung" die zentralen Ergebnisse des Gipfels von Amsterdam. Die neuen Vertragsregelungen des Beschäftigungskapitels, die sich an die Vorschriften der Wirtschafts- und Währungsunion (WWU) anschließen, sehen insbesondere folgende Regelungen vor:
Auf Drängen Frankreichs wurde darüber hinaus eine Entschließung
zur Beschäftigungspolitik verabschiedet, der der Stellenwert eines
Anhangs zum Stabilitätspaktes zukommt, der selber nicht verändert
wurde. Als Leitlinie der Entschließung wird die Notwendigkeit neuer
Impulse festgestellt, "damit die Beschäftigung unverrückbar
zu oberst auf der politischen Tagesordnung der Union bleibt." Durch
die Wirtschafts- und Währungsunion und den Stabilitäts- und Wachstumspakt
soll der Binnenmarkt gestärkt werden "und ein nicht inflationäres
gesamtwirtschaftliches Umfeld mit niedrigen Zinsen fördern und dadurch
die Bedingungen für Wirtschaftswachstum und Beschäftigungsmöglichkeiten
verbessern". Vor allem im Sozialen Dialog sollten die Sozialpartner
die Arbeit des Europäischen Rates unterstützen, was mehrfach
betont und im Schlußsatz der Entschließung noch einmal in einem
Appell formuliert wird: "Der Europäische Rat ersucht die Sozialpartner,
ihrer Verantwortung im Rahmen der jeweiligen Tätigkeitsbereiche voll
nachzukommen." Bei der Beurteilung der Frage, inwieweit die neuen Vereinbarungen die
ernsthafte Bereitschaft zu einer beschäftigungspolitischen Wende auf
europäischer Ebene zum Ausdruck bringen, muß sicherlich neben
der Interpretation der Gesetzestexte die politische Praxis der kommenden
Jahre berücksichtigt und abgewartet werden. Sicherlich hat insbesondere
die Position der neugewählten französischen Linksregierung, den
"Stabilitätspakt" nur zu unterzeichnen, wenn die Bekämpfung
der Arbeitslosigkeit als zentrale Aufgabe der EU festgeschrieben wird,
zu einer Aufwertung der Beschäftigungsfrage im Rahmen der "Revisionsverhandlungen"
beigetragen. Das ist zweifelsohne ein Verdienst und ein Fortschritt. Gleichwohl
legen der Ablauf der Auseinandersetzungen auf dem Amsterdamer Gipfel, die
Formulierungen im neuen "Beschäftigungskapitel" und der
"Entschließung", die Ergebnisse des Sondergipfels zur Beschäftigungspolitik
im November 1997 in Luxemburg sowie die Grundorientierung der vereinbarten
Maßnahmen Skepsis in der Frage nahe, ob Europa wirklich als bedeutende
Ebene aktiver Beschäftigungspolitik akzeptiert und eine erfolgversprechende
Beschäftigungsstrategie praktiziert werden wird. Zwar erkennen die
Staaten in der beschäftigungspolitischen Entschließung die Notwendigkeit
an, die wirtschaftspolitische "Koordinierung unter besonderer Berücksichtigung
der Beschäftigungspolitik wirksamer zu gestalten und inhaltlich zu
erweitern". Jedoch wird unmißverständlich festgestellt,
daß "die Hauptverantwortung für die Bekämpfung der
Arbeitslosigkeit bei den Mitgliedsstaaten verbleibt". Auch die deutliche
Betonung der zentralen Verantwortung der Sozialpartner im Rahmen des sozialen
Dialoges für eine erfolgreiche Verbesserung der Arbeitsmarktsituation
deuten nicht in Richtung einer verstärkten Beschäftigungspolitik
der Mitgliedsstaaten auf EU-Ebene. Dies würde auch weiterhin auf Schwierigkeiten
treffen, weil weder der Union neue Kompetenzen übertragen noch zusätzliche
Finanzmittel für eine aktive Beschäftigungspolitik bereitgestellt
wurden. In diesem Sinne scheint sich die Bundesregierung mit ihrer Ablehnung
einer wirklichen beschäftigungspolitischen Offensive auf europäischer
Ebene durchgesetzt zu haben. Hinzu kommt, daß die vorgeschlagenen Maßnahmen und Aktivitäten
keine Abkehr von der bisherigen Finanz- und Wirtschaftspolitik beinhalten.
Im Gegenteil: Die zentralen Beschäftigungsimpulse sollen von einer
Verstärkung der Grundzüge der gegenwärtigen Wirtschaftspolitik
ausgehen, die nach EGV strengstens "dem Grundsatz einer offenen Marktwirtschaft
mit freiem Wettbewerb verpflichtet ist". Diese strenge marktwirtschaftliche
Grundorientierung liegt auch der Interpretation der Arbeitsmarktkrise zu
Grunde. Die strukturelle Arbeitslosigkeit wird als ein Problem mangelnder
Wettbewerbsfähigkeit aufgefaßt, weshalb "der Verbesserung
der Wettbewerbsfähigkeit Europas als Voraussetzung für Wachstum
und Beschäftigung mehr Aufmerksamkeit geschenkt (wird), damit unter
anderem das Ziel eines größeren Arbeitsplatzangebotes für
die Bürger Europas erreicht wird". Der neoklassischen Kriseninterpretation
entspricht die angebotspolitische Strategieformulierung. So soll die Arbeitsmarktkrise
in Europa überwunden werden durch die Schaffung von Arbeitsmärkten,
"die flexibel auf die wirtschaftlichen Veränderungen reagieren"
und die Modernisierung der Sozialschutzsysteme, "damit sie zur Wettbewerbsfähigkeit,
zur Beschäftigung und zum Wachstum beitragen"; zusätzlich
soll die beschäftigungsfreundlichere Gestaltung der Steuer- und Sozialschutzsysteme
durch die Einführung von "Arbeitsanreizen" erreicht und
schließlich die Verringerung der Lohnnebenkosten durchgesetzt werden. Diese Vorhaben deuten eher auf die Entschlossenheit, die "Angebotspolitik
ohne Beschäftigungswirkung" der letzten Jahre fortzusetzen, als
auf eine Bereitschaft zur beschäftigungspolitischen Wende hin. Die
vereinbarte Koordinierung der nationalen Politiken ist jedoch kein Wert
an sich, denn auch eine europaweit koordinierte, aber weiter angebotsorientierte
Politik hat kaum Erfolgsaussichten. Notwendig wäre hingegen die dezidierte
Abkehr von dem Versuch einer kontinuierlichen Verbesserung der ohnehin
günstigen Angebotsbedingungen der Wirtschaft und die Hinwendung zu
einer direkten Stärkung der stagnierenden Nachfrage. Vor allem über
öffentliche Investitionsprogramme wäre zum einen die notwendige
Belebung der Investitionstätigkeiten zu erwarten. Eine öffentliche
Investitions- und Innovationsoffensive könnte insbesondere an der
Verbesserung der verkehrs-, sozial- und ökologiepolitischen Infrastruktur
in Europa ansetzen und eine konjunkturpolitische Beschäftigungsförderung
mit der regionalpolitischen Förderung der Überwindung von Produktivitätsrückständen
wettbewerbsschwächerer Regionen verbinden. Notwendig dafür wäre
ein makro-ökonomisches Beschäftigungskonzept auf EU-Ebene, in
dem die Vorherrschaft des Monetarismus und der europäischen Zentralbank
gebrochen und alle beschäftigungspolitisch relevanten ökonomischen
Teilpolitiken auf das Ziel einer ökologisch verträglichen Beschäftigungsförderung
ausgerichtet würden. Dies erfordert eine weniger restriktive Geldpolitik,
die ökonomisches Wachstum nicht weiter stranguliert, eine von den
Restriktionen des "Wachstums- und Stabilitäts-Paktes" befreiten,
expansive Fiskalpolitik, die die europaweiten Investitions- und Innovationsprogramme
befördert sowie eine aktive EU-interne Arbeitsmarkt-, Struktur- und
Industriepolitik, die vor allem EU-interner Armutsmigration entgegenwirkt
und den Ausgleich regionaler Entwicklungsunterschiede befördert. Zusätzliche
Finanzmittel könnten durch eine Devisenumsatzsteuer sowie unterschiedliche
Spielarten einer Öko-Steuer rekrutiert werden, die auf EU-Ebenen durchaus
realisierbar wären und die Schwächen nationaler Lösungen
überwinden könnten. Nach außen abgesichert werden müßte
ein solches wirtschaftspolitisches Konzept schließlich durch Strategien
einer gleichgewichts- und kooperationorientierten EU-Außenwirtschaftspolitik
insbesondere gegenüber den beiden Polen der Triade, Nordamerika und
Ostasien. Arenen und Ansätze europäischer Arbeitsbeziehungsstrukturen
Zugleich ist im vorstaatlichen Handlungssystem der EU die Verstärkung gewerkschaftlichen Engagements unverzichtbar. Der berechtigte Verweis auf die strukturellen Restriktionen europäischer Interessenvertretung darf nicht als Begründung für den Verzicht auf einen Aufbau "europäischer Arbeitsbeziehungsstrukturen" herangezogen werden. Zwar wird den Gewerkschaften auf absehbare Zeit ein verhandlungsbereites Pendant fehlen. Doch aufgrund des erreichten Europäisierungsgrads der Kapitalbeziehungen und der damit verbundenen Handlungsoptionen für die Unternehmen sind die betrieblichen wie die gewerkschaftlichen Akteure "auf Gedeih und Verderb auf die vorwärtsgerichtete Öffnung ihres Handlungshorizonts hin zur internationalen und supranationalen Ebene angewiesen". W. Lecher sieht hier drei Arenen der Arbeitsbeziehungen, in denen gerade die Gewerkschaften eine Initiatorfunktion zu übernehmen haben:
Ansätze eines europaweiten Systems von Arbeitsbeziehungsstrukturen
als einem konstitutiven Bestandteil eines sozial-ökologischen Entwicklungsmodells
sind bereits vorhanden. Über die Chancen eines weiteren Ausbaus und
ihrer Vernetzung wird vermutlich vor allem die Entwicklung der "politischen
Großwetterlage" entscheiden. Sollte der europäische Neoliberalismus
weiterhin aus dem Integrationsprojekt ein Projekt der Entzivilisierung
des europäischen Kapitalismus machen, so sind Rückschläge
mit ungewissen Folgen wohl nur schwer zu vermeiden. Sollte jedoch auf absehbare
Zeit eine politische Konstellation möglich sein, die die Weichen in
Richtung einer demokratisch-ökologischen Sozialunion stellt, so entstünden
für Europa völlig neue Entwicklungsperspektiven. Das zweite Szenario
zu befördern, muß Sinn und Zweck der eingangs geforderten proeuropäischen
Europakritik sein. |
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