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Politik und Gesellschaft Online
International Politics and Society 2/1998
Werner Weidenfeld, Josef Janning und Sven Behrendt
Transformation im Nahen Osten und Nordafrika. Herausforderungen und Potentiale für Europa und seine Partner
Gütersloh 1997
Verlag Bertelsmann Stiftung, 59 S.

Vorläufige Fassung / Preliminary version

Die Publikation ist ein Ergebnis des von der Bertelsmann-Stiftung und der Forschungsgruppe Europa getragenen Projektes "Europa und der Nahe Osten". Ziel der 1994 gegründeten Initiative ist die Unterstützung des Nahostfriedensprozesses durch wissenschaftliche Arbeiten, die einerseits den politischen Prozeß analysieren und andererseits Erfahrungen aus der politischen Praxis in die Wissenschaft transportieren sollen.

Die Veröffentlichung bietet einen Überblick über die sicherheitspolitischen, ökonomischen und innenpolitischen Problemfelder in der Region und ein Rahmenkonzept für Initiativen der Europäischen Union (EU), den Friedensprozeß zu unterstützen. Das 1997 erschienene Buch wurde vor dem Wahlausgang in Israel verfaßt, was jedoch die Analyse nicht beeinflußt. Das Buch bezieht sich auf die von der EU verwandte Länderabgrenzung MENA-Region (Middle East and North Africa). "Transformation" wird im weiteren Sinne von "Wandel" gesehen, nicht begrenzt auf den wirtschaftswissenschaftlichen Begriff, der den Übergang von einer Zentralverwaltungswirtschaft in eine Marktwirtschaft beschreibt.

Wandel im Nahen Osten: äußere und innere Bedrohung. Die Ausgangsthese der Analyse des Autorenteams ist: "die Neudefinition des Sicherheitsbegriffs hat auch im Nahen Osten Niederschlag gefunden". Demnach ist der Nationalstaat von außen und von innen bedroht. Diese doppelte Bedrohung wird für die Akteure im Nahen Osten auch nach einer Lösung territorialer Fragen weiter Bestand haben.

Äußere Bedrohung. In der Analyse der Gefahrenpotentiale der Region beschreibt das Autorenteam eine mehrdimensionale regionale Instabilität. Bekannt sind aus dem Nahen Osten die zwischenstaatlichen Konflikte um territoriale Existenz und Gebietsstreitigkeiten. Die Konflikte betreffen Israel, Jordanien und die palästinensischen Gebiete, aber auch Ägypten und Sudan sowie Katar, Saudi-Arabien, Jemen, Oman und dieVereinigten Arabischen Emirate oder Iran, Irak und Kuweit. Trotz der Entschärfung des Ost-West-Konflikts hat die Rüstungsspirale im Nahen Osten zugenommen. Die Tatsache, daß die zum Teil noch jungen Nationalstaaten eigene Sicherheitsanstrengungen unternahmen, veranlaßte die mißtrauischen Nachbarn zur Aufrüstung. Die Autoren nennen dieses Reaktionsmuster "Sicherheitsdilemma".

Innere Bedrohung. Die innere Bedrohung beruht auf den in allen Staaten bestehenden tiefgreifenden wirtschaftlichen und sozialen Problemen. Die stark fragmentierten Gesellschaften haben zudem unterdrückte ethnische Konflikte, die jederzeit aufbrechen können. Ein Zeitpunkt könnte der Machtwechsel an der Spitze des Staates sein, denn es ist für die arabischen Staaten schon fast ein Systemmerkmal, daß die Nachfolgefrage ungeklärt ist und der Machtübergang kein normaler vorhersehbarer Prozeß ist. Was kommt nach Assad oder Arafat? Das Konfliktpotential bedroht die Legitimation der alten oder neuen Herrscher. Die Externalisierung innenpolitischer Spannungen kann zu einer neuen aggressiven Außenpolitik führen.

Sicherheitspolitische Aufgaben der EU. Die Handlungsmöglichkeiten der EU werden von den Autoren bezogen auf die Problemfelder Sicherheit, Wirtschaft und Legitimation entwickelt. Die Region soll regionale Sicherheitssysteme im Sinne von 'Konferenzen für Sicherheit und Zusammenarbeit in der MENA-Region' (KSZ-MENA) entwickeln. Die Autoren schlagen ein differenziertes Konfliktmanagement innerhalb eines Systems von Konferenzen vor, in dem auf verschiedene regionale Konfliktlinien spezifisch eingegangen werden kann. In den Konferenzen werden für die Mitglieder bindende Normen über Unverletzlichkeit der Grenzen, friedliche Streitbeilegung, Rüstungskontrolle, Abrüstung und Demilitarisierung verhandelt. Die Konferenzteilnehmer entwerfen gemeinsam Institutionen, die mit der Überwachung der Normen beauftragt werden, und einigen sich auf einen Sanktionsmechanismus. Die EU könnte in diesen Verhandlungsprozessen als außerregionaler Akteur den Geist der Barcelona-Konferenz fortführen.

Wirtschaftspolitische Aufgaben der EU. Die Flankierung des Friedensprozesses durch wirtschaftliche Entwicklung kann nach Auffassung der Autoren nur über den euro-mediterranen Handel erfolgen. Dem Ansatz der intra-regionalen Wirtschaftskooperation, als ökonomisch und politisch stabilisierende Verflechtung, wird geringe Chancen auf Realisierung eingeräumt. Der Aufbau der Freihandelszone zwischen der EU und der MENA-Region ist dann eine realistische Alternative, wenn sie mit Begleitmaßnahmen verknüpft wird. Die arabischen Regierungen müssen Kompensationen für den Ausfall der Zolleinnahmen erhalten. Die EU muß sich aktiv am Aufbau effizienter sozialer Sicherungssysteme beteiligen, die die Anpassungslasten der wirtschaftlichen Reformprozesse abfedern. Der Machtverlust von Zollbehörden und die Aufwertung von Institutionen der sozialen Sicherung öffnet für die EU die Aufgabe, öffentliche Verwaltungsreformen und die Transformation von Institutionen in der MENA-Region zu unterstützen. Alle Länder der Region verfügen über zahllose Institutionen, sei es zur Förderung von Wirtschaft oder von sozialer Sicherheit, nur eben sind sie in hohem Maße ineffizient.

Politische Aufgaben der EU. Es ist kein Zufall, daß das Problemfeld "Legitimation" am Ende der Analyse steht. Denn die sicherheitspolitische, wirtschaftliche und institutionelle Transformation kann nur gelingen, wenn sie gewollt wird. Für die Autoren ist offen, wie sich ein Frieden auf die Innenpolitik der Staaten auswirken wird. Entweder werden die Zivilisten und Technokraten gestärkt oder neue Ersatzkonflikte aufgebaut.

Als Ausweg sehen die Autoren 'demokratische Reformen von oben', getragen von der politischen Elite, ausgelöst durch internationalen Druck, analog zu den Liberalisierungsanstrengungen der arabischen Ökonomien. Die Zivilgesellschaften seien dagegen zu schwach ausgeprägt, um diese Rolle spielen zu können. Die Druckmittel der internationalen Staatengemeinschaft sind die finanzielle Abhängigkeit aller MENA-Staaten von Transfers von außen und die notwendige Integration in den Weltmarkt, die durch den tendenziell fallenden Ölpreis und die Bevölkerungsexplosion in den Ländern in den nächsten Jahren noch zunehmen werde.

Nach Auffassung der Autoren stellt sich das Ziel der Europäischen Union, Stabilität und Demokratie im Nahen Osten zu fördern, als Spagat dar. Demokratische Reformen können Prozesse entfachen, die nicht Stabiliät bedeuten. Die Autoren ziehen an dieser Stelle keine Parallele zu Algerien. Sie sprechen sich aber dafür aus, den nicht demokratisch legitimierten Regimen trotz der Bedrohung durch islamisch begründeten Radikalismus keine Abstriche bei Demokratiebemühungen zuzugestehen. Die Autoren fordern somit implizit von der EU einen Stabilitätsbegriff mit einer qualitativen Dimension.

Als abschließende Bewertung ist festzuhalten, daß das weite Feld der Transformation in der MENA-Region aus politologischer Sicht überblicksartig zusammengefaßt wird. Aufgrund des geringen Umfanges sind keine Länderanalysen aufgeführt, sondern wesentliche Entwicklungslinien auf einen kleinen gemeinsamen Nenner gebracht. Das Buch ist damit eine politikberatende Handreichung.

Die Stärke der Analyse lieg darin, daß sie über die Zukunft der Region nachdenkt, unabhängig davon, ob und wann ein Frieden kommt und wie er aussehen wird. Dies ist schlüssig, denn die wirtschaftlichen und sozialen Entwicklungen gehen auch ohne zwischenstaatliche Vertragswerke weiter. Für die Akteure der Europäischen Union bietet das Buch Umrisse eines Konzeptes für die Unterstützung des Friedensprozesses. Neu ist die Betonung der Rolle von Institutionen bei Handlungsanweisungen an die Politik.

Die Analyse vermeidet es weitgehend, die Demokratie Israels der ungenügenden demokratischen Legitimation der arabischen Staaten gegenüberzustellen. Das dem Buch zugrunde liegende Konzept der äußeren und inneren Bedrohung des Staates trifft ebenfalls für Israel zu.

Kritisch muß die These gesehen werden, die Zivilgesellschaft in den arabischen Staaten sei zu schwach ausgeprägt, um Träger politischer Reformen zu sein. Dies steht im Widerspruch aller Ansätze von demokratiefördernden deutschen und multilateralen Entwicklungskooperationen. In diesem Fall kommt auch das Problem zum Vorschein, für sehr verschiedene Gesellschaften eine einheitliche Analyse zu formulieren. In Marokko oder Ägypten hat die Zivilgesellschaft eine andere Qualität als in Syrien oder Jemen. Das vorgeschlagene Konzept der 'demokratischen Reformen von oben' durch Druck von außen ist die entscheidende Schwäche des Buches. In einer Region, deren politische Kultur unter anderem unter dem Trauma der Verschwörung leidet, kann Druck von außen niemals nachhaltige Entwicklung erzeugen. Da demokratische Reformen Umverteilungskämpfe beinhalten, kann dies von den Eliten höchstens initiiert, aber nicht durchgehalten werden.

Das von den Autoren genannte Erfolgsbeispiel, die Liberalisierungsmaßnahmen, die auf Druck von außen durchgeführt wurden, hatte einen entscheidenden Vorlauf: die Einsicht der Regierenden in die Notwendigkeit der Reformen. Die Entwicklungen in Osteuropa und Ostasien standen Modell. Der Druck zur Liberalisierung bestand seit den frühen 80er Jahren, die Maßnahmen wurden aber erst eine Dekade später umgesetzt. Die Autoren unterschätzen das friedensstiftende Potential einer regionalen Wirtschaftskooperation. Das politische und wirtschaftliche Integrationskonzept der Autoren basiert auf einem Willensakt der Regierenden und Eliten. Dagegen steht zum Beispiel der Ansatz der "regionalen Wirtschaftskooperation von unten". Hier erfolgt die Annäherung in einem Stufenmodell, in dem zunächst individuelle Unternehmer und Arbeitnehmer ad hoc regional tätig sind. In der zweiten Stufe bilden sich systematische Kooperationen zwischen Wirtschafts- und Finanzinstitutionen oder Nichtregierungsorganisationen heraus. Erst in der dritten und letzten Stufe werden Handelsabkommen von Politikern geschlossen. Die Politiker handeln dabei nicht nach einer aktuellen Stimmung, sondern besiegeln den formellen Rahmen von existierenden transnationalen Handels-, Finanz- und Technologiebeziehungen.

Trotz der geringen Komplementarität der arabischen Ökonomien sind die Spielräume größer als dargestellt. Eine gewisse Komplementarität ergibt sich durch die unterschiedlichen Entwicklungsniveaus unter den arabischen Staaten. An dieser Stelle wird in der Publikation die eurozentrierte Perspektive überbetont, die ebenfalls den EU-Agrarprotektionismus gegenüber der Region in den Verhandlungen um die Freihandelsabkommen nicht als Konstruktionsfehler in der Architektur der EU-Mittelmeerpolitik tiefgreifender kritisiert.

Norbert Eder
Friedrich-Ebert-Stiftung
Bonn


© Friedrich Ebert Stiftung | technical support | net edition bb&ola | April 1998