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Politik und Gesellschaft Online International Politics and Society 2/1998 |
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Dieter Boris: Mexiko im Umbruch. Modellfall einer gescheiterten Entwicklungsstrategie Darmstadt 1996 Wissenschaftliche Buchgesellschaft, 263 S. Vorläufige Fassung / Preliminary version
Mexiko hat sich in Lateinamerika einen Ruf als Trendsetter für Wirtschaftskrisen erworben: im Jahre 1982 mit der Einstellung des Schuldendienstes als Auslöser der Schuldenkrise und jüngst im Dezember 1994 durch die Währungs- und Finanzkrise, die durch den massiven Beistand der USA und der internationalen Finanzorganisationen kontrolliert werden konnte. Zwischen diesen beiden Einschnitten liegt eine Phase der Strukturanpassung, in der Mexiko zeitweise den Status eines vorbildlichen "Schülers" in der makroökonomischen Stabilität nach den von Weltbank und IWF gesetzten Maßstäben einnahm. Dies ist das Thema von Dieter Boris, der sich die Frage stellt, ob "die neoliberale Politik, die über zwölf Jahre in besonders rigoroser Form in Mexiko durchgeführt wurde, vor einem Scherbenhaufen" (S. 2) steht. Dabei geht Boris von der paradigmatischen Bedeutung aus, die Mexiko als neoliberales Modell für ganz Lateinamerika besaß, ohne daß er jedoch die im Klappentext angekündigte "Verallgemeinerungsfähigkeit der mexikanischen Erfahrungen für andere Länder der 'Dritten Welt'" aufzeigen kann. Dies ist auch gut so, da darin der eigentliche Wert der vorliegenden Arbeit liegt: Sie ergeht sich nicht in allgemeinem Auseinandersetzungen mit dem vielbemühten Konzept des Neoliberalismus, sondern argumentiert sehr eng an der mexikanischen Realität, die sie mit viel Geschick in ihren verschiedenen Dimensionen ausbreitet. In historischer Perspektive sowie an den Strukturmerkmalen der mexikanischen Politik orientiert werden die Elemente der Wirtschaftsstrategie unter Präsident Miguel de la Madrid nachgezeichnet, wobei deren Wirksamkeit als nur sehr begrenzt eingeschätzt wird. Allerdings findet in seiner Regierungszeit die für den mexikanischen Fall kennzeichnende heterodoxe Wirtschaftspolitik der Wirtschaftspakte unter Beteiligung von Unternehmer- und Arbeitnehmerschaft sowie Regierung mit dem "Pakt für ökonomische Solidarität" (Dez. 1987) ihren Ursprung. Der "actismo", den Boris zunächst in wahlpolitischen Interessen der Regierungspartei PRI begründet sieht, läutete eine andauernde Tendenz zu Reallohnverlusten ein, konnte jedoch die inflationären Tendenzen begrenzen. Für Dieter Boris wie auch andere Beobachter bleibt es angesichts dieser negativen Konsequenzen für die Bevölkerung unverständlich, weshalb es in Mexiko zu keiner sozialen Explosion gekommen ist, eine Tatsache, die er der Tragfähigkeit der alten Integrationsmechanismen des politischen Systems zuschreibt. An dieser Stelle gerät Boris mit seiner strukturalistischen Perspektive an die Grenzen der Analyse. Es gelingt ihm nicht, die Beziehungen zwischen Ereignissen im politischen System und den wirtschaftlichen Prozessen herzustellen (vgl. auch des Autors eigenes Eingeständnis dieses Dilemmas auf S. 183); dies zumal, wenn er konzedieren muß, daß manche politische Dynamik eher auf systemexterne Phänomene wie die Erdbebenkatastrophe 1985 in der Hauptstadt zurückzuführen ist als auf die Folgen der neoliberalen Politik. Dies wird auch beim Durchgang durch die Regierungszeit von Salinas de Gortari ersichtlich, wenn der anfängliche wirtschaftliche und politische Erfolg des Präsidenten, nicht zuletzt am Beispiel des Sozialprogrammes PRONASOL, erläutert wird. Das NAFTA-Projekt wird als "externe Institutionalisierung der neoliberalen Politik" (S. 89) begriffen und dann bezogen auf die Folgen der Außenöffnung für die verschiedenen wirtschaftlichen Sektoren diskutiert. Die Expansion der Konsumgüterimporte und die schmale Basis der industriellen Exporte beschreiben jenes strukturelle Dilemma der Handelsbilanzdefizite, die die Regierungsjahre von Salinas de Gortari bestimmen sollten. Auch die einseitigen Folgen der Privatisierung, die öffentliche Monopole in private Monopole von Freunden des Präsidenten umwandelte, werden deutlich herausgearbeitet. Schließlich werden die Tendenzen der Sozialstrukturveränderungen analysiert (S. 146-181), sicherlich das gelungenste Kapitel des Buches, das beispielgebend den systematischen Stellenwert der oft ausgeblendeten Sozialstrukturanalyse für die soziologische und politikwissenschaftliche Forschung verdeutlicht. In diesem Kontext steht neben der Bedeutung der Mittelschichten für das soziale und politische Leben des Landes auch eine Auseinandersetzung mit der Informalisierung der Wirtschaft und der Rolle der Frauen. Abschließend geht Boris noch auf die politische Entwicklung Mexikos bis zu den Präsidentschaftswahlen 1994 ein, ein Abschnitt, in den auch ein Exkurs zum Aufstand in Chiapas eingeschlossen ist, der auf die Spezifika von Chiapas innerhalb der nationalen Entwicklungsdynamik abhebt und sich damit erfreulich von der andernorts verbreiteten vorschnellen Interpretation dieses Aufstandes als Konsequenz des Neoliberalismus unterscheidet. Dabei betont Boris auch den wellenförmigen Charakter der mexikanischen Protest- und sozialen Bewegungen, die nur sehr begrenzt der wirtschaftlichen Dynamik zuzuordnen sind, gleichwohl aber einen wichtigen Impuls zur politischen Pluralisierung des Landes geleistet haben. In politischer Hinsicht bleibt - so kann man wohl Boris' Urteil zusammenfassen - vieles offen, zumal auch weiterhin viele mexikanische Besonderheiten fortwirken. Die wirtschaftliche Entwicklung dagegen hat nach ihrem Absturz im Jahre 1994 wieder an Fahrt gewonnen, es muß aber nach Ansicht des Autors mit neuen Zusammenbrüchen gerechnet werden, wenn die neoliberale Orthodoxie nicht überwunden wird.
Auch wenn Boris darauf nicht eingeht,
so kann NAFTA in dieser Hinsicht als stabilisierendes Element
verstanden, das gleichzeitig aber die mexikanische Wirtschaftspolitik
wichtiger nationaler Steuerungselemente entkleidet hat. Die Instabilitätsmomente
des Landes liegen daher vor allem im sozialen und politischen
Bereich, denen nun stärkere Aufmerksamkeit zukommen muß.
Dieter Boris hat dafür mit einem guten "Mexiko-Buch"
den Weg bereitet.
Günther Maihold |
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