|
|||||||||||||||||||||||||||||||||||||||||||||||||||||||||
Politik und Gesellschaft Online International Politics and Society 2/1999 |
|||||||||||||||||||||||||||||||||||||||||||||||||||||||||
ANDREAS WITTKOWSKY Der Nationalstaat als Rentenquelle - Determinanten der ukrainischen Politik Vorläufige Fassung / Preliminary version "Noch ist die Ukraine nicht gestorben" - gleich mehrere Autoren leiteten ihre jüngsten politischen Analysen der ehemaligen Sowjetrepublik mit dem Anfang ihrer Nationalhymne ein. Ursprünglich als trotziges Zeichen des frühen ukrainischen Nationalismus gedacht, war in diesem Fall eher Pessimismus Quelle der Inspiration, denn weder die wirtschaftliche noch die politische Lage bieten gegenwärtig übermäßigen Anlaß zur Hoffnung. Im wesentlichen hausgemacht - aber verstärkt durch die Rubelkrise - bewegt sich das größte osteuropäische Land im achten Jahr seiner Unabhängigkeit am Rand des Staatsbankrotts. Nach den im März 1998 durchgeführten Wahlen zur "Werchowna Rada" tritt - wie schon im vorherigen Parlament - nur eine kleine Minderheit der Abgeordneten für die notwendigen wirtschaftspolitischen Reformschritte ein. Stattdessen finden die politischen Auseinandersetzungen schon heute unter dem Vorzeichen der für Oktober 1999 terminierten Präsidentschaftswahl statt. Sie drohen, die politische Handlungsfähigkeit der begrenzt reformfreudigen Exekutive durch den Widerstand gegen Amtsinhaber Leonid Kutschma vollends zu unterminieren. Angesichts dieser Unsicherheiten ist eine detaillierte Prognose über die mittelfristige Entwicklung der Ukraine gewagt. Es lohnt sich aber, etwas tiefer in die jüngere Geschichte des Landes einzutauchen. Hier lassen sich einige grundlegende Determinanten seiner Politik erkennen, die - so meine These - auch die zukünftige Entwicklung prägen werden: "Historischer Kompromiß": Der nationale Konsens zur Zeit der 1991 durchgesetzten Unabhängigkeit der Ukraine beruhte auf einem fragilen "historischen Kompromiß" zwischen verschiedenen gesellschaftlichen Gruppen und ihren Eliten. Ihr Verhältnis zum Nationalstaat und ihre politischen Orientierungen werden bis heute von sehr unterschiedlichen Erwartungen bestimmt, die einen Konsens über die Entwicklungsrichtung des Nationalstaats auch in Zukunft unwahrscheinlich machen. Das politische Handeln zugunsten einer nationalen Entwicklungsorientierung wird deshalb ausgesprochen schwach bleiben. "Rent-seeking" und Simulationen: Aufgrund des fehlenden Konsenses ist die ukrainische Politik stark von wirtschaftlichen, oft kurzfristigen Interessen geprägt. Dabei stehen der Verteilungskampf um die Ressourcen und "rent-seeking"-Strategien im Vordergrund. Um ihre wahren Intentionen in diesem Verteilungskampf zu verbergen, greifen die Akteure vielfach auf Simulationen - die moderne Form der Potjomkinschen Dörfer - zurück. Im Gegensatz zu technischen Simulationen - die künstlich möglichst realitätsnahe Zustände erzeugen - sollen gesellschaftliche Simulationen die Realität durch Vorspiegelung falscher Tatsachen verdecken, um daraus politischen oder wirtschaftlichen Gewinn zu ziehen. Tatsächliche Reformpolitiken haben nur dann eine Chance, wenn sich im politischen Prozeß Gruppen durchsetzen, deren Eigeninteressen mit Transformationserfordernissen übereinstimmen. Dominanz interner Prozesse: Die ukrainischen Akteure konzentrieren sich im wesentlichen auf die materielle Logik der internen Prozesse. Deshalb hat sich auch im Außenverhältnis der Ukraine zunehmend pragmatisches Interessenhandeln durchgesetzt, wo direkt nach der Unabhängigkeit noch eine stark ideologisch gefärbte Auseinandersetzung über die Abgrenzung der Ukraine von Rußland dominierte. Inzwischen wird das Außenverhältnis eindeutig von den - durchaus unterschiedlichen - wirtschaftlichen Interessen der relevanten politischen Akteure geprägt: dem Schutz vor Konkurrenz bei Privatisierungen und Marktaufteilungen, den Exportinteressen der Rüstungsindustrie oder den Importinteressen der monopolistischen Energieunternehmen. Umgekehrt wird die Unabhängigkeit der Ukraine nicht von außen, sondern durch den internen wirtschaftlichen Mißerfolg bedroht. Diese Thesen sollen in drei Abschnitten verdeutlicht werden. Der erste Abschnitt widmet sich der Periode, in der die andauernden Grundlagen für den ukrainischen Transformationspfad geschaffen wurden (1991-94). Zunächst werden Entstehen und Charakter des "historischen Kompromisses" erläutert, die dem nationalen Konsens zur ukrainischen Unabhängigkeit zugrunde lag. Dies ist der Schlüssel zum Verständnis, warum die angekündigten Reformen nach der Unabhängigkeit ausblieben und der wirtschaftliche Schock stattdessen durch "rent-seeking" und Simulationen verstärkt wurde. Da die Bevölkerung im Osten des Landes eine "doppelte Enttäuschung" erlebte, löste sich der nationale Konsens auf, und separatistische Bewegungen stellten den Bestand des Nationalstaats in Frage. Der zweite Abschnitt zeichnet die Veränderungen nach, die der umfassende Elitenwechsel im Zuge der Parlaments-, Präsidenten- und Regionalwahlen 1994 mit sich brachte. Erstmals wurden Wirtschaftsreformen eingeleitet. Da diese auch weiterhin von "rent-seeking" und Simulationen begleitet sind, kann ihr Erfolg nur als zwiespältig bewertet werden. Obwohl sich bis heute nur wenig an der "doppelten Enttäuschung" der Bevölkerung geändert hat, haben die entscheidenden Regionaleliten ein pragmatisches Interesse am neuen Nationalstaat entwickelt, so daß die Ukraine heute als politische Einheit gefestigt ist. Die ausstehende wirtschaftliche Konsolidierung bleibt unter diesen Bedingungen die existenzielle Herausforderung der ukrainischen Gegenwart. In dritten Abschnitt erfolgt eine Bestandsaufnahme der aktuellen Probleme und ein Ausblick auf die wahrscheinliche Entwicklung. Ein "historischer Kompromiß" und seine Erosion, 1991-1994 Die wichtigsten Faktoren der ukrainischen Nationalstaatsbildung lagen im Bereich der politischen Ökonomie. Der nationale Konsens, der beim 1991 abgehaltenen Referendum zum großen "historischen Kompromiß" zwischen nationalistisch und nichtnationalistisch orientierten Bevölkerungskreisen führte, gründete auf - unrealistischen - wirtschaftlichen Erwartungen. Die politische Durchsetzung der Unabhängigkeit war den machtpolitischen und wirtschaftlichen Interessen eines Teils der ukrainischen Nomenklatura geschuldet, die auch nach der Unabhängigkeit ihre Macht sichern konnte. Bald wurde offensichtlich, daß deren Ziele nicht mit den Transformationserfordernissen übereinstimmten. Die ökonomischen Erwartungen der Bevölkerung wurden deshalb bereits in den ersten beiden Jahren der Unabhängigkeit schwer enttäuscht. Der nationale Konsens zerbrach, und politische Kräfte mit konkurrierenden nationalen Orientierungen gewannen an Zulauf. Der nationale Konsens - ein "historischer Kompromiß" Am 24. August 1991 erklärte die "Werchowna Rada", das Parlament der ukrainischen Sowjetrepublik, die Unabhängigkeit des Landes. Am 1. Dezember 1991 wurde diese Entscheidung von der großen Mehrheit der Bevölkerung in einem landesweiten Referendum bestätigt. Der hier zum Ausdruck gebrachte staatsnationale Konsens war Resultat eines "historischen Kompromisses", an dem drei strategische gesellschaftliche Gruppen mit unterschiedlichen Erwartungen beteiligt waren:
Die 1989 vornehmlich durch Intellektuelle erfolgte Gründung der Nationalbewegung Ruch (Volksbewegung zur Unterstützung der Perestrojka), die schon bald Massenzulauf erhielt, wurde ermöglicht durch die Öffnungspolitik Michail Gorbatschows (Glasnost). Die Forderungen von Ruch - zunächst nach einer größeren Autonomie der Ukraine innerhalb der Sowjetunion, später nach staatlicher Unabhängigkeit - entsprachen der historisch entstandenen Konzeption des ukrainischen Nationalgedankens, der kulturell und an die ukrainische Sprache gebunden war. Zwar waren mit der Unabhängigkeit diffuse Erwartungen auf Wohlstandsgewinne verbunden, dennoch spielten ökonomische Aspekte hier eine untergeordnete Rolle. Die Bergarbeiterbewegung entstand ungefähr zeitgleich zu Ruch in allen Bergbaugebieten der Sowjetunion. Hier war die allgemeine Verschlechterung der Lebens- und Arbeitsbedingungen das entscheidende Antriebsmoment. Seit den 1960er Jahren hatte die Moskauer Unionsregierung vor allem in die sibirischen Kohlereviere investiert. Der ostukrainische Donbass war davon besonders negativ betroffen. Eine Hinwendung zur nationalen Idee fand hier aus rein pragmatischen Motiven statt, nachdem die Hoffnung auf eine Veränderung der Moskauer Politik begraben werden mußte. Die kulturell-sprachlichen Aspekte einer ukrainischen Eigenständigkeit wurden weitgehend abgelehnt, ebenso wie wirtschaftliche Reformen, die zu Zechenschließungen und Massenentlassungen geführt hätten. Dies wird deutlich an den seit 1989 jährlich wiederkehrenden Bergarbeiterstreiks, die in der Regel mit Subventionsforderungen verbunden sind. Entscheidend für die politische Durchsetzung der Unabhängigkeit war der politische Kurswechsel eines Teils der alten Eliten unter Führung des Parlamentssprechers Leonid Krawtschuk. Diese "Nationalkommunisten" betrieben seit 1989 die Sicherung der politischen Macht und des Zugriffs auf die Ressourcen der Republik. Das Scheitern des Putsches gegen den sowjetischen Präsidenten Gorbatschow im August 1991 schuf eine Situation, in der durch die parlamentarische Unabhängigkeitserklärung eindeutige Fakten geschaffen wurden. Im Dezember 1991 konstituierte sich eine Mehrheit von 90,3 % der Bevölkerung in einem Referendum als Staatsnation der Ukraine. In allen Verwaltungsgebieten (Oblasty), auch in der mehrheitlich russischsprachigen Südostukraine, stieß die Unabhängigkeit auf über 80 %ige Zustimmung; auf der Krim fand sie bei niedriger Wahlbeteiligung eine nur eine knappe Mehrheit. Nach der Unabhängigkeit blieben die Nationalkommunisten politikbestimmend. Krawtschuk wurde im Dezember 1991 zum ersten Präsidenten der unabhängigen Ukraine gewählt, nachdem er die alten Parteistrukturen und jene Bevölkerungsteile für sich mobilisieren konnte, die in ihm weiterhin den Vertreter des alten Systems sahen und die Sicherung der bisherigen gesellschaftlichen Strukturen erwarteten. Die Vertreter der Nationalbewegung fanden sich dagegen größtenteils in der Opposition wieder. Ihre Schwäche war auch der Tatsache zu verdanken, daß Krawtschuk die meisten Positionen der Nationalbewegung übernahm, um seine Macht nach innen und die Unabhängigkeit nach außen ideologisch abzusichern. Der staatsnationale Konsens basierte also nicht ausschließlich und nicht einmal wesentlich auf den von Ruch vertretenen kulturnationalen Vorstellungen. Eine zum Zeitpunkt der Unabhängigkeit durchgeführte Meinungsumfrage ergab, daß 79 % der Befragten den "Ausweg aus der wirtschaftlichen Krise" für die wichtigste Aufgabe des neuen Nationalstaats hielten, über 60 % erwarteten die "Stabilisierung der Wirtschaft und einen höheren Lebensstandard". Die "kulturelle Wiedergeburt der Ukraine" und die "Sicherung der politischen Souveränität" lag dagegen nur jedem fünften Staatsbürger am Herzen, und in breiten Bevölkerungsteilen herrschte auch weiterhin Skepsis gegenüber den kulturellen Aspekten der Unabhängigkeit. Schock ohne Therapie - Reformrhetorik, "rent-seeking" und Simulationen In der dreieinhalbjährigen Präsidentschaft Krawtschuks erfolgten die wichtigsten internen und externen Weichenstellungen, die den ukrainischen Transformationspfad bis heute prägen. Obwohl der Präsident wiederholt seinen Reformwillen betonte, war seine Amtszeit vom wirtschaftlichen Niedergang gekennzeichnet. Dafür waren im wesentlichen zwei Faktoren verantwortlich: Erstens gab es keinen Konsens über eine Transformationsstrategie und den Einsatz der begrenzten staatlichen Mittel, und Fehleinschätzungen über das nun autonom zu nutzende wirtschaftliche Potential des Landes waren weit verbreitet. Allgemein wurde angenommen, die "Kornkammer" der Sowjetunion sei über Jahrzehnte hinweg vom Moskauer Zentrum ausgebeutet worden. Zweitens waren die staatlichen Institutionen schwach und blockierten sich angesichts der ungeklärten Verfassungslage gegenseitig. Aufgrund der mangelnden Gewaltenteilung kam es zu permanenten politischen Machtkämpfen zwischen bzw. innerhalb der Legislative und der Exekutive, die niemand dauerhaft zu seinen Gunsten entscheiden konnte. Unter diesen Umständen nutzten die wirtschaftspolitischen Akteure ihren Einfluß, um dem Anpassungsdruck an marktwirtschaftliche Verhältnisse zu entgehen. Stattdessen richteten sie ihr Handeln vornehmlich darauf, staatlich geschützte Renteneinkommen zu gewinnen. Dafür boten sich vor allem vier Quellen: die politisch durchgesetzte Schöpfung subventionierter Kredite, der Zugang zu Export- und Importlizenzen, der Verkauf von preisgebundenen Gütern auf dem Schwarzmarkt und der Mißbrauch von Staatsgarantien. Im Zuge des Verlusts politischer Steuerungsmöglichkeiten setzten sich verstärkt Simulationen - die moderne Form Potjomkinscher Dörfer - durch. Im Bereich der Wirtschaft erstellte das neue Wirtschaftsministerium - das ehemalige Staatliche Plankomitee - weiterhin gesamtwirtschaftliche Produktionspläne, die auf den von vornherein nicht finanzierbaren Ressourcenanforderungen der Branchenministerien beruhten. Gleiches galt für die Budgetplanung des Finanzministeriums. In dem folgenden politischen Feilschen innerhalb der Administration und mit dem Parlament blieb von den ursprünglichen Prioritäten wenig übrig, und auch die gefundenen Kompromisse waren nicht bindend. Angesichts völlig utopischer Steuerschätzungen kam es zu einem täglichen "cash management" des Finanzministeriums, und der tatsächliche Haushalt beruhte auf der Möglichkeit, diese Ausgabenpolitik politisch zu beeinflussen. Die Bevölkerung hatte hier die schlechtesten Karten, so daß Lohn- und Rentenzahlungen über Monate verzögert wurden. In der Folge erlebte die Ukraine einen Schock ohne Therapie (vgl. Tabelle 1). Insbesondere die unkontrollierte Kreditschöpfung führte Ende 1992 zur Hyperinflation, die - verstärkt durch den Zusammenbruch der Rubelzone - von wachsenden Leistungsbilanzdefiziten und vom Einbruch der Produktion begleitet wurde. Die Vorstellung, die Ukraine sei mit der ererbten Wirtschaftsstruktur ein reiches Land, stellte sich als Illusion heraus. Dabei fiel insbesondere die Abhängigkeit von Energieimporten ins Auge, die knapp 50% der Gesamtimporte des Landes ausmachten. Nachdem die Hauptlieferländer, Rußland und Turkmenistan, ihre Öl- und Gaspreise innerhalb kürzester Zeit auf Weltmarktniveau angehoben hatten, war die Ukraine mehrfach unfähig, die fälligen Devisenzahlungen zu leisten.
"Doppelte Enttäuschung" im Ostteil des Landes - die eigentliche Bedrohung der Unabhängigkeit Im Ostteil der Ukraine erlebte die Bevölkerung eine "doppelte Enttäuschung" ihrer an die Unabhängigkeit geknüpften Erwartungen. Zum einen blieb die erhoffte Wohlstandssteigerung aus, zum anderen wurde die zunehmende offizielle Propagierung von ukrainischer Kultur und Sprache als Bedrohung der eigenen Lebenspraxis wahrgenommen. Der neue Staat war nicht annähernd in der Lage, seine Bürger vor den Folgen der wirtschaftlichen Krise zu schützen. Der Lebensstandard der meisten Ukrainer sank dramatisch, und die Inflation entwertete die Sparguthaben vollständig. Die offiziellen Statistiken - die nur begrenzten Aufschluß über die tatsächliche Situation geben konnten - verzeichneten von 1990 bis 1993 einen Rückgang der Reallöhne um 70 %. Hinzu kamen die Simulationen in der sozialen Sphäre. So wurde offiziell an einem kostenlosen Gesundheits- und Bildungssystem festgehalten - unter der Oberfläche fand die totale Privatisierung statt. Angesichts ausbleibender Lohnzahlungen wurden für ärztliche Untersuchungen und Operationen individuelle "Gebühren" vereinbart. Medikamente und Verbandsmaterialien hatten die Patienten meist selbst zu beschaffen. Die Bereitschaft, zugunsten der Unabhängigkeit wirtschaftliche Schwierigkeiten hinzunehmen, war aber aufgrund des Charakters des nationalen Konsenses begrenzt. Im November 1993 waren nur 19 % der Bürger hierzu bereit, 44 % lehnten dies durchweg ab. Weitere 31 % gewährten dem neuen Nationalstaat immerhin eine ein- bis zweijährige Bewährungsfrist; doch auch diese verstrich ohne eine Verbesserung der Lage. Hinzu kam die Entscheidung der politischen Führung, die kulturnationalen Vorstellungen der Unabhängigkeitsbewegung zu ihrem Programm zu machen und stärker auf die Durchsetzung der ukrainischen Sprache zu drängen. Damit entschärfte man zwar die Opposition des nationalen Spektrums, entfremdete aber den ohnehin skeptischen Teil der Staatsbürger, deren Zustimmung zur Unabhängigkeit nicht an die ukrainische Sprache gebunden gewesen war. Auch wenn sich in der sprachlichen Alltagspraxis nur wenig änderte, wurde das öffentliche Klima durch die Nationalisierung des politischen Diskurses aufgeheizt. Innerhalb von drei Jahren nach der Unabhängigkeit ließen sich die Auflösung des nationalen Konsenses und eine regionale Spaltung des Landes beobachten. Der Dnipro (Dnjepr) mit einer mehrheitlich russischsprachigen Bevölkerung - darunter auch ethnische Ukrainer - am linken und einer mehrheitlich ukrainischsprachigen am rechten Ufer schien hierbei die Grenze zu sein. Die "doppelte Enttäuschung" drohte die Existenz des Nationalstaats genau ab dem Moment zu gefährden, als politische Eliten und Bewegungen der Regionen andere nationale Orientierungen anboten. Dies geschah vor allem im Donbass, der Hochburg der Bergarbeiterbewegung, und auf der mehrheitlich von ethnischen Russen besiedelten Krim. Im schwerindustriell geprägten ostukrainischen Donbass führte die anhaltende Verschlechterung ihrer Lebens- und Arbeitsbedingungen dazu, daß die Bergarbeiter auch weiterhin jährlich in Streik traten und die Unabhängigkeit zunehmend negativ bewerteten. Als Intellektuelle und Regionalpolitiker mehrere politische Bewegungen ins Leben riefen, die eine Eigenstaatlichkeit der Ukraine ablehnten, stießen sie deshalb auf fruchtbaren Boden. Auch die Wiedergründung der Kommunistischen Partei (KPU) wurde ab Dezember 1992 im Donbass betrieben. Alle diese Organsisationen traten gegen den ukrainischen Nationalismus ein und befürworteten eine starke GUS als Grundlage einer neuen eurasischen oder slawischen Union. Die Donezker Parteiorganisation der KPU trat offen für die Restauration der Sowjetunion ein. Dramatischer entwickelte sich die Lage auf der Krim, die von Anfang an eine Sonderrolle im ukrainischen Staat einnahm. Hier drohte sich das Zerfallsszenario der Sowjetunion auf der Republiksebene zu wiederholen. Die Krim-Eliten beriefen sich auf die Autonome Sowjetische Sozialistische Republik Krim, die zwischen Oktober 1921 und Juni 1945 (innerhalb der Russischen Sozialistischen Föderativen Sowjetrepublik) existiert hatte. Am 20. Januar 1991, noch vor der ukrainischen Unabhängigkeit, ließ der Oberste Sowjet der Krim ein Referendum durchführen, bei dem sich über 93 % der Krimbevölkerung für die Wiedererrichtung der Autonomie aussprachen. Nach der ukrainischen Unabhängigkeit, gegen die auf der Krim demonstriert wurde, erklärte der Krim-Sowjet am 5. Mai 1992 die Unabhängigkeit der Halbinsel. In die Krim-Verfassung wurde erst nach kontroverser Debatte ein Artikel über die staatliche Zugehörigkeit zur Ukraine aufgenommen. Auch Politiker der Russischen Föderation begannen, die Legitimität der 1954 erfolgten Übertragung der Krim von Rußland an die Ukraine zu bezweifeln und die separatistischen Kräfte der Krim dadurch zu ermutigen. So erklärte das russische Parlament am 21. Mai 1992 alle Dokumente des Krim-Transfers für nichtig. In dieser Auseinandersetzung spielte der ungeklärte Status der größtenteils in Sewastopol stationierten sowjetischen Schwarzmeerflotte eine entscheidende Rolle. Obwohl im Juni 1992 grundsätzlich eine Aufteilung der Flotte zwischen der Ukraine und der Russischen Föderation vereinbart worden war, kam es zu permanenten Auseinandersetzungen über die konkreten Modalitäten. Die Ukraine war bereit, Sewastopol als Sitz der russischen Schwarzmeerflotte zu akzeptieren, wollte sich aber das Recht auf Nutzung des Hafens durch die ukrainische Marine vorbehalten. Dagegen bestand die Russische Föderation auf der exklusiven Nutzung Sewastopols und sprach sich zudem gegen jede ukrainische Marinebasis auf der Krim aus. Im Frühjahr 1993 ging das russische Parlament so weit, die Stadt zum territorialen Bestandteil der Föderation zu deklarieren. Dies verhärtete die Fronten weiter. Eine weitere Position vertraten die Organisationen der Krimtataren. Die Tataren waren 1944 von Stalin der Kollaboration mit den deutschen Besatzern beschuldigt und wegen "Verrats am Sowjetvolk" nach Zentralasien deportiert worden. Infolge der politischen Debatte über die stalinschen Verbrechen im Zuge der Perestrojka begannen sie (bzw. ihre Nachkommen) zurückzuwandern. Zwischen 1990 und 1993 siedelten sich fast 240 000 Tataren auf der Krim an. Sie beanspruchten die alleinige politische Hoheit über das autonome Land ihrer Vorväter und lehnten die konkurrierenden Ansprüche der Ukraine, der Russischen Föderation und der im Obersten Sowjet vertretenen Eliten der Krim gleichermaßen ab. Die Forderung nach Eigenständigkeit der Krim wurde von fast allen Politikern und Parteien der Halbinsel vertreten. Die Parteien vom ukrainischen "Festland" spielten hier überhaupt keine Rolle. Zwei Parteien der alten wirtschaftlichen Eliten waren vor allem an den Zugriffsrechten auf das staatliche Eigentum, dem Abbau von Regulierungen, der Errichtung einer Freihandelszone und an weiteren Subventionen aus Kiew interessiert. Dagegen propagierten andere Bewegungen und Parteien die eine oder andere Form der Vereinigung mit Rußland oder den anderen slawischen Staaten. Massenunterstützung gewann die von Jurij Meschkow geführte Republikanische Bewegung der Krim, aus der im Oktober 1992 die Republikanische Partei der Krim (RPK) hervorging. Meschkow konnte deshalb im Januar 1994 die erste Wahl zu einem "Präsidenten der Republik Krim" für sich entscheiden. Unter Meschkows politischer Führung schritt der Separatismus weiter fort als jemals zuvor. Eine Woche nach der Wahl begann er, sich einen eigenen Herrschaftsapparat zu schaffen und warb in Moskau eine Regierungsmannschaft unter Leitung des ehemaligen russischen Wirtschaftsministers Jewgenij Saburow an. Eine hohe symbolische Bedeutung hatte das erste Dekret des Präsidenten, mit dem die Uhren der Krim um eine Stunde von Kiewer auf Moskauer Zeit vorgestellt wurden. Die Wahlen zum Krim-Sowjet im März 1994 und ein zeitgleiches Referendum verschafften der separatistischen Politik zusätzliche Legitimation. Das neue Krim-Parlament setzte im Mai die von Kiew abgelehnte Krim-Verfassung in Kraft und begann mit der parlamentarischen Beratung eines Gesetzes über eine eigene Staatsbürgerschaft. Die Ukraine schien vor der Alternative zu stehen, die Hoheit über die Halbinsel zu verlieren oder sie mit Gewaltmaßnahmen durchsetzen zu müssen. Erneuerung des "historischen Kompromisses" 1994-1998 Trotz der 1994 bestehenden Ausgangslage konnte sich die Ukraine bis 1997 als Nationalstaat friedlich konsolidieren. Dies lag nicht an der Befriedigung der bisher enttäuschten Erwartungen in der Bevölkerung, denn an deren Unzufriedenheit hat sich bis heute wenig geändert. Entscheidend war, daß sich in den politischen Machtkämpfen auf nationaler und regionaler Ebene diejenigen Eliten politisch durchsetzten, die ein pragmatisches, dauerhaftes Interesse am Bestand des Nationalstaats entwickelten und den "historischen Kompromiß" deshalb erneuerten. Der Verlauf der Konflikte machte deutlich, daß das hauptsächliche Interesse der Eliten im Zugriff auf die Eigentumstitel und im politischen Schutz der privaten Aneignung - oftmals verbunden mit "rent-seeking" und Simulationen - lag. Reformpolitiken hatten nur dann eine Chance, wenn die Einzelinteressen der politisch einflußreichen Eliten mit den Erfordernissen der Transformation übereinstimmten. Erste Reformen, fortgesetztes "rent-seeking" und neue Simulationen Im März bzw. Juli 1994 fanden Parlaments- und Präsidentenwahlen statt, die zu einem umfassenden personellen Wechsel in den nationalen politischen Eliten führten. Der neue Präsident, Leonid Kutschma, konnte wichtige politische und wirtschaftliche Reformen einleiten. Obwohl 1996 mit neuer Verfassung und neuer Währung wichtige institutionelle Hindernisse einer konsequenten Weiterführung der Reformpolitik beseitigt waren, ließ die tatsächliche Dynamik nach. Dafür sind vor allem zwei Aspekte verantwortlich. Zum einen waren die wichtigsten Intentionen der bisher reformorientierten Eliten weitgehend erreicht worden, z.B. der Zugang zu den militärischen und zivilen Märkten der ukrainischen Rüstungsindustrie. Zum anderen hatten sich die Möglichkeiten politischer Koalitionen erschöpft, nachdem Kutschma mit dem ehemaligen Geheimdienstchef Jewhen Martschuk und dem Unternehmer Pawlo Lasarenko zwei einflußreiche Premierminister entlassen hatte. Diese begannen mit Blick auf die 1999 geplanten Präsidentschaftswahlen, eine kraftvolle Opposition gegen die Präsidentenmannschaft zu formen. Nach den Märzwahlen 1994 wurde die "Werchowna Rada" zunächst vom Lager der rückwärtsgewandten Kräfte (Kommunisten, Sozialisten, Agrarier) dominiert. Dies schienen besonders schlechte Ausgangsbedingungen für Kutschma zu sein, der nach seiner Wahl ankündigte, radikale Wirtschaftsreformen einzuleiten. Zünglein an der Waage wurde aber die Mehrheit der parteilosen, unabhängigen Abgeordneten, und durch eine geschickte Machtpolitik konnte Kutschma in vielen Fragen eine knappe Zustimmung des Parlaments erringen. Durch einen vorläufigen Kompromiß zur Gewaltenteilung, der dann nach einem zähen Ringen in der Verfassung vom 28. Juni 1996 im wesentlichen bestätigt wurde, konnte er sich die Regierung unterstellen und somit politische Handlungsfähigkeit gewinnen. Auch das vorgelegte Reformprogramm fand zunächst die Zustimmung der "Werchowna Rada". Für ukrainische Verhältnisse waren die Reformen tatsächlich radikal. Ihre Bilanz fiel dennoch zwiespältig aus. Innerhalb zweier Jahre fanden umfassende Preisliberalisierungen statt, und die erfolgreiche monetäre Stabilisierung führte im Juni 1996 zur Einführung der neuen, an den US-Dollar gebundenen Währung Hrywnja. Die Produktionseinbrüche gingen jedoch nur langsam zurück, und der Inflationsrückgang war von einem Anstieg der Außenschuld begleitet - nicht zuletzt wegen unverändert hoher Energieimporte (vgl. Tabelle 2).
Die Achillesferse der Reformen war der nur schleppend verlaufende wirtschaftliche Strukturwandel. Eine institutionelle Liberalisierung der Märkte blieb aus. Die umfangreichen Regulationen erschwerten den Marktzugang für neue und ausländische Unternehmen, und das Wachstum beschränkte sich weitgehend auf die Schattenwirtschaft. Zudem wurde an einer umfassenden staatlichen Planung des Strukturwandels festgehalten, die von völlig unrealistischen Absatz- und Finanzierungsmöglichkeiten ausging und deshalb nicht annähernd umgesetzt werden konnte. Konkurse wurden nicht durchgesetzt, so daß die Unternehmen weiterhin auf staatliche Rettungsversuche hofften. Auch in den Politikbereichen, die nicht dem Anspruch staatlicher Planung unterworfen waren, wurden die Simulationen fortgesetzt. Diese zielten darauf, die zweifelsohne vorhandenen Kosten für Reformen zu verbergen und unpopuläre Maßnahmen zu vermeiden. So wurde beispielsweise weiterhin Vollbeschäftigung simuliert. Im März 1995 schätzte eine Untersuchung der Weltbank die verdeckte Arbeitslosigkeit auf 35 %, während die offizielle Statistik die Arbeitslosenquote mit 0,4 % angab. Auch 1997 befand sich die Quote - nach einem Rückgang des BIP von rund 60 % seit 1992 - noch unter 3 %. Die offiziell aufrecht erhaltenen "Beschäftigungsverhältnisse" waren allerdings nur noch selten mit Lohnzahlungen verbunden. Die staatlichen Zahlungsrückstände für Löhne und Renten stiegen beständig an. Bis Juni 1998 erreichten sie die stattliche Summe von 7, 3 Mrd. Hrywnja (damals ca. 3,65 Mrd. US$). Auch die geld- und fiskalpolitische Stabilität erwies sich unter diesen Umständen als simuliert. Ausmaß und Grenzen der Reformen wurden durch die Intentionen der wichtigsten strategischen Gruppen bestimmt. Kutschma, ehemals Direktor des größten sowjetischen Raumfahrtunternehmens Jushmasch, und wichtige Köpfe der Präsidentenmannschaft wollten den wirtschaftlichen Sturzflug beenden, um dem Verfall der besonders stark betroffenen Rüstungsindustrie Einhalt zu gebieten und ihr neue Tätigkeitsfelder zu erschließen. Andere einflußreiche Interessengruppen befürworteten lediglich jene Reformschritte, die neue Rentenquellen erschlossen, z.B. die Kommerzialisierung oder Privatisierung alter staatlicher Monopolbetriebe. Die personell und geschäftlich weiterhin eng mit den Unternehmen verflochtenen Branchenministerien schützten deren Geschäftsbereiche mit Hilfe ihrer Regulierungskompetenz. Die Kämpfe um die oligopolistische Aufteilung von Märkten gewannen an Bedeutung, und die Klagen über Korruption nahmen zu. Wirtschaftliche Interessen waren auch ein wichtiger Faktor für die außenpolitische Orientierung der Ukraine. Für das Vordringen auf die lukrativen Weltmärkte für Rüstungsgüter und kommerzielle Raketenstarts war es wichtig, die politische Unterstützung westlicher Länder - vor allem der USA - zu gewinnen. Neben der Entscheidung, die Atomwaffen der Ukraine abzubauen, war die Reformpolitik hier die wichtigste Voraussetzung. Umgekehrt führte die offensichtlich gewordene ökonomische Abhängigkeit von der Russischen Föderation zu einer Entideologisierung der ukrainischen "Ostpolitik". Die aufgelaufenen Forderungen für Energieimporte konnten umgeschuldet werden, wobei der russische Energieriese Gasprom teilweise mit Beteiligungsscheinen für die ukrainische Privatisierung entschädigt wurde. Im stark verflochtenen Rüstungsbereich wurden die Kooperationsbeziehungen trotz gleichzeitiger Konkurrenz auf dem Weltmarkt gestärkt. Nach verschiedenen Rückschlägen unterzeichneten beide Staaten dann 1997 einen Freundschaftsvertrag, der auch die endgültige Aufteilung der Schwarzmeerflotte ermöglichte. Dabei erreichte die Ukraine einen Teilerlaß ihrer Energieschulden sowie die Verrechnung der russischen Pachtsumme für die Buchten in Sewastopol mit künftigen Energielieferungen. Pragmatische Umorientierung der Regionaleliten An der "doppelten Enttäuschung" im Ostteil des Landes änderte sich nur wenig, da Wohlstandssteigerungen auf kleine Gruppen beschränkt blieben. Auch die versprochene Aufwertung der russischen Sprache blieb aus. Bereits ein Jahr nach den Wahlen mußte Kutschma erhebliche Popularitätsverluste in seinen ehemaligen Hochburgen hinnehmen. Die ohnehin schon geringe Unterstützung der Bevölkerung für Reformen sank schon Mitte 1995 auf unter 30 %. Die geringste Zustimmung war auf der Krim und im Osten zu verzeichnen. Das politische Schisma in der Ukraine bestand fort. Dennoch orientierten sich die wichtigsten Regionaleliten zunehmend auf die nationale Ebene. Die Eliten aus dem ostukrainischen Dnipropetrowsk konnten schon frühzeitig erheblichen Einfluß auf die wichtigsten Weichenstellungen in Personal- und Regulierungsfragen gewinnen. Zunächst ist hier das Team von Präsident Kutschma zu nennen, der die politische Macht vor allem zur industriepolitischen Förderung des Rüstungs- und Raumfahrtsektors nutzte. Im Juni 1996 berief der dann Pawlo Lasarenko zum Premierminister, der seine Position offensichtlich nutzte, um dem Dnipropetrowsker Unternehmen "Jedyni Energetytschni Systemy Ukraijiny" (Vereinigte Energiesysteme der Ukraine) Starthilfe auf dem gewinnträchtigen und stark regulierten Gasimportmarkt zu leisten. Innerhalb weniger Jahre wuchs so einer der fünf größten Konzerne der Ukraine heran, der rund 25 Banken und Industrieunternehmen vereinigte. In den beiden Gebieten mit starken separatistischen Tendenzen nahm die weitere Entwicklung unterschiedliche Formen an. Die Regionaleliten im Donbass versuchten schon bald, im Machtspiel auf nationaler Ebene gleichzuziehen. Dagegen spitzte sich die Lage auf der Krim zunächst zu. Entscheidend waren der jeweilige Ausgang der Regionalwahlen und die daran anschließenden Auseinandersetzungen um die Sicherung und Mehrung des Eigentums. Im Donbass konnten die nostalgischen Kräfte, allen voran die Kommunisten, nur relativ wenig Kapital aus der "doppelten Enttäuschung" schlagen. Bei den parallel zum Präsidentenwahlgang 1994 stattfindenden Wahlen der "oblast"-Räte setzten sich vor allem unabhängige Kandidaten durch. Auch bei der Direktwahl der Vorsitzenden dieser Räte - inoffiziell auch Gouverneure genannt - konnte sich in der größeren und politisch einflußreicheren Donezker "oblast" ein Vertreter der Neuen Ökonomischen Eliten (NÖE), Wladimir Schtscherban, durchsetzen. Sein Aufstieg in die politische Regionalelite war begleitet von beträchtlichen wirtschaftlichen Erfolgen des von ihm gegründeten Privatunternehmens "Delo wsech" (Sache aller). Im Januar 1996 ließ er sich dann zum Vorsitzenden der Liberalen Partei (LPU) wählen, deren Gründer Igor Makulow sein Liberalismusverständnis sehr einleuchtend dargelegt hatte: "Nun, und es ist gefährlich, hier zwischen den Armen ein Reicher zu werden. Einfach lebensgefährlich. Deswegen muß man andere auch reich machen, so daß sie keine Feinde werden". Der Schutz und die Mehrung des neuen privaten Eigentums blieb auch unter Schtscherban das wichtigste politische Ziel der NÖE: seine Administration begann, stärker in die regionale Wirtschaft einzugreifen, z.B. im Bereich der Privatisierung. Für die Nationalstaatsbildung war in diesem Prozeß entscheidend, daß sich die Strategien der politischen Absicherung zunehmend nach Kiew orientierten und der Nationalstaat als oberste politische Entscheidungsinstanz gestärkt wurde. Erstens lag es im Interesse der NÖE, den Einfluß derjenigen Kräfte einzudämmen, die das Privateigentum aus ideologischen Gründen ablehnten. Und dies waren auch die stärksten Opponenten des ukrainischen Nationalstaats, allen voran die Kommunisten. Nach den Erfolgen bei den Regionalwahlen stellten die Vertreter der NÖE dieses Spektrum politisch kalt. Auch die Bergarbeiter kehrten angesichts der geänderten politischen Rahmenbedingungen von separatistischen Forderungen ab und konzentrierten sich wieder auf die ökonomische Dimension ihres Unmuts. Zweitens wurde es immer wichtiger, die macht- und eigentumspolitischen Weichenstellungen auf nationaler Ebene zu beeinflussen. So ließ sich Schtscherban auch in die "Werchowna Rada" wählen, wo er zum Vorsitzenden der einflußreichen Kommission für Budgetfragen aufstieg. Die LPU mit ihren wenigen Abgeordneten betrieb zudem erfolgreich die Gründung einer eigenen Fraktion. Auf der Krim schuf die zunehmende Herausbildung einer eigenen politischen Struktur und einer eigenen politischen Öffentlichkeit institutionelle Bedingungen, die das Entstehen einer eigenen staatlichen Struktur begünstigten. Daß es dann nicht zum Äußersten kam, hatte weniger mit den politischen Interventionen aus Kiewals mit einer Spaltung der Krim-Eliten zu tun, der vornehmlich ökonomische Interessen zugrundelagen. Der Auslöser war die eingeschlagene Wirtschaftspolitik des aus Moskau angeworbenen Vizepremiers Saburow. Ihr Kern war ein radikales Privatisierungsprogramm, nach dem viele Staatsbetriebe möglichst schnell verkauft oder übertragen werden sollten. Ziel war nach Saburows Angaben die Anwerbung auswärtigen - vor allem russischen - Kapitals. Ein Großteil der Krim-Eliten schien die Vision des Vizepremiers nicht zu teilen. Die offensichtliche Bevorzugung russischer Unternehmen durch die Regierung führte dazu, daß das angeblich so prorussische Krim-Parlament die Politik Saburows als Ausverkauf an Moskau attackierte. Im August verhängte es ein Moratorium über die weitere Privatisierung, sprach der Regierung Saburow das Mißtrauen aus und forderte den Rücktritt Meschkows. Die ukrainische Regierung gab dem Konflikt neue Nahrung, als sie am 6. September die Übertragung der nationalstaatlichen Eigentumsansprüche an die Krim-Behörden bekanntgab. Den folgenden Machtkampf konnte der Krim-Sowjet zu seinen Gunsten entscheiden. Der Nachfolger Saburows, Anatolij Frantschuk, war ein Vertreter jener Kräfte, die bereit waren, die Zugehörigkeit der Krim zur Ukraine zu akzeptieren, soweit sie mit einer weitgehenden Autonomie und dem Zugriffsrecht auf das zu privatisierende Eigentum verknüpft war. Als Sieger des Machtkampfs erhielten sie die Möglichkeit, die "Krim-Pirogge" ungestört unter sich aufzuteilen. Tatsächlich wurde der neue Premier schon kurz nach dem Abklingen der Krise beschuldigt, die Lizenzvergabe für die anlaufende Öl- und Gasförderung auf dem Schwarzmeerschelf der Krim zugunsten seines Sohnes manipuliert zu haben. Auf der Krim wurde besonders deutlich, was sich auch schon bei den Regionaleliten aus Dnipropetrowsk und Donetsk beobachten ließ: In der konkreten Politik setzten sich die ökonomischen Interessen als die eigentlichen Determinanten der Politik durch, auch wenn diese den vorherrschenden ideologischen und kulturellen Orientierungen - der Ablehnung des ukrainischen Nationalstaats und dem Zugehörigkeitsgefühl zum russischen Sprachraum - widersprachen. In allen drei Regionen setzten sich Elitengruppen durch, die ein mehr oder weniger starkes pragmatisches Interesse am ukrainischen Nationalstaat entwickelten und den zerstörten historischen Kompromiß deshalb erneuerten bzw. - im Fall der Krim - wenigstens tolerierten und für sich zu nutzen wußten. Herausforderungen der Gegenwart Nachdem die Festigung des staatlichen Zusammenhalts durch die Erneuerung des "historischen Kompromisses" gelungen ist, bleibt die wirtschaftliche Konsolidierung als existenzielles Problem der unabhängigen Ukraine bestehen. Obwohl die (offiziell erfaßte) Wirtschaft im ersten Halbjahr 1998 erstmals nach der Unabhängigkeit wuchs, verleitete die Verschlechterung wichtiger makroökonomischer Rahmendaten internationale Beobachter zu der Einschätzung, die Ukraine befände sich im "Ausnahmezustand". Der Hintergrund für diese Kassandrarufe waren das simultane Ansteigen von Staatsverschuldung, Haushalts- und Handelsbilanzdefizit und das weitere Ausbleiben des Strukturwandels. Die Grenzen der Simulation geldpolitischer Stabilität wurden nun sichtbar. Da die Steuereinnahmen weit hinter den Schätzungen zurückblieben, erreichten die Zahlungsrückstände für staatliche Löhne und Renten die stattliche Summe von 7,3 Mrd. Hrywnja (im Juni 1998 ca. 3,65 Mrd. US$). Zudem drohte die Ukraine ihre Fähigkeit zu verlieren, ihre fälligen - zumeist kurzfristigen - Staatsanleihen zu bedienen. Ausländische Investoren zogen ihre Gelder ab, und die stark ansteigenden Zinssätze für Hrywnja-Schuldtitel spiegelten die steigenden Erwartungen auf eine baldige Abwertung der Währung wider. Der Absturz des russischen Rubel im August 1998 blieb dann nicht ohne Folgen für die ukrainische Währung. Der enge Wechselkurskorridor zum Dollar mußte aufgegeben werden, und die Hrywnja wurde um rund 50 % abgewertet. Dennoch wäre es verfehlt, die Verantwortung für diese Entwicklung (und die damit verbundene Inflationsgefahr) allein auf die Politik der Russischen Föderation abwälzen zu wollen - letztere verschärfte die hausgemachten Probleme der Ukraine lediglich. Die internen wirtschaftlichen Strukturprobleme standen dementsprechend im Zentrum der harten Verhandlungen um die Konditionen für einen IWF-Dreijahreskredits über 2,2 Mrd. US$. Trotz der Atempause durch die erste Tranche zahlte die ukrainische Nationalbank NBU nach mehreren Versuchen, die Gläubiger zur freiwilligen Umschuldung zu überreden, im September 1998 erstmals nur Hrywnja statt der vereinbarten Dollar für eine fällige kurzfristige Staatsanleihe aus. Internationale Investoren bewerteten diesen Schritt als De-facto-Zahlungsunfähigkeit. Gegenwärtig befindet sich die Ukraine abermals in einem Dilemma zwischen ökonomischen Erfordernissen und politischen Konstellationen. Nach den Wahlen zur "Werchowna Rada" im März 1998 haben sich die Chancen für die notwendigen Reformen eher verschlechtert als verbessert. Das Lager der konservativen Parteien (Kommunisten, Block der Sozialisten und Agrarier, Progressive Sozialisten) konnte aus der anhaltenden "doppelten Enttäuschung" leichte Stimmengewinne mobilisieren. Ihnen gegenüber steht ein ungefähr gleich großes Lager von unabhängigen Abgeordneten, das zunächst eine Pattsituation schuf. Dem Parlament gelang es wochenlang nicht, seine Arbeitsfähigkeit zu erlangen. Die Wahl von Oleksandr Tkatschenko vom Block der Sozialisten und Agrarier zum Parlamentssprecher erfolgte erst Anfang Juli - nach 19 Wahlgängen. Präsident Kutschma nutzte diese Situation, wichtige Elemente der mit dem IWF vereinbarten Konditionen per Dekret festzulegen. Diese können jedoch von der "Werchowna Rada" per Gesetz wieder außer Kraft gesetzt werden. Inzwischen zeichnet sich ab, daß die Politik 1999 im wesentlichen von den im Oktober stattfindenden Präsidentenwahlen bestimmt wird. Deshalb ist es unwahrscheinlich, daß eine längerfristige angemessene Strategie zur Lösung der wirtschaftlichen Probleme verfolgt wird. Neben dem starken konservativen Lager, das zur Zeit keine gemeinsame Führungspersönlichkeit aufweist, formieren sich weitere Oppositionsgruppen, die aus einer Blockade des Amtsinhabers politisches Kapital schlagen wollen. Als Führungsfiguren treten dabei zwei von Kutschma wieder entlassene Premierminister in den Vordergrund. Die Aufsteigerpartei Hromada des Geschäftsmanns Pawlo Lasarenko beteiligte sich schon im Oktober an einem gescheiterten Versuch, den Präsidenten durch ein Amtsenthebungsverfahren zu stürzen. Und der ehemalige Geheimdienstchef Jewhen Martschuk konnte - mit Hilfe finanzkräftiger Unternehmer und des ehemaligen Präsidenten Krawtschuk - die einstmals marginalisierte Vereinigte Sozialdemokratische Partei zur Basis seiner politischen Aktivitäten ausbauen. Auch nach den Präsidentenwahlen ist eher mit einem weiteren Durchwursteln zu rechnen. Allerdings sind eindeutige Verschlechterungen denkbar. Keiner der Kandidaten ist als überzeugter Reformer anzusehen. Der Amtsinhaber Kutschma hat - aus den genannten Interessenlagen - die bisher wichtigsten positiven Impulse gesetzt. Aufgrund seines Popularitätsverlusts wird er es aber schwer haben, ein weiteres Mal die Unterstützung der Bevölkerung zu gewinnen, und auch das Reservoir seiner potentiellen Bündnispartner ist inzwischen abgeschmolzen. Lasarenko steht eindeutig für Rentiersinteressen im Energiesektor, die der weiteren Entwicklung des Landes zuwiderlaufen. Gleiches gilt für Kommunisten, Sozialisten und Agrarier, hinter deren ideologischer Fassade sich oftmals ebenfalls "rent-seeking"-Strategien verbergen, die sich vermutlich in einem schnellen Anheizen der Inflation niederschlagen werden. Martschuk läßt bisher kein ausgeprägtes wirtschaftspolitisches Profil erkennen. Unabhängig vom Ausgang der Präsidentenwahlen wird die ukrainische Politik weiterhin dem Primat interner Prozesse folgen - und damit auch von "rent-seeking" und Simulationen gekennzeichnet sein. Dabei wird sie konkret von den - weiterhin wechselnden - politischen Koalitionen abhängen, da kein Spitzenkandidat über eine stabile Mehrheit verfügen wird. In diesem Zusammenhang wird es von entscheidender Bedeutung sein, ob einzelne Politiker in diese Koalitionen eingebunden werden, die sich bereits als (begrenzte) Reformer erwiesen haben. Auch einige Elitengruppen könnten durch die verschärfte Krise erneut ein Interesse an einzelnen Reformschritten gewinnen - vor allem, wenn sie längerfristige Investitionssicherheiten benötigen oder im Exportbereich tätig sind. Schnelle wirtschaftliche Erfolge aus eigener Kraft sind nicht zu erwarten. Die Möglichkeit, der ukrainischen Entwicklung positive Impulse von außen zu geben, ist begrenzt. Alle mehr oder weniger guten Ratschläge für eine erfolgreiche Einbindung in die Weltwirtschaft - und damit zur Förderung ihrer inneren Stabilität - sind bereits erteilt worden. Allein: es mangelt an der Umsetzung. Für ausländische Investoren ist die Ukraine mit ihren bürokratischen Regulierungen und der fehlenden Rechtssicherheit vergleichsweise uninteressant geblieben. Die Direktinvestitionen liegen mit 2 Mrd. US$ (40 US$ pro Kopf) am unteren Ende der postsowjetischen Republiken, und die Finanzkrise hat nun auch das mühsam aufgebaute Vertrauen internationaler Anleger zerstört. Der meistversprechende Ansatz liegt darin, diejenige Kräfte zu stärken, die aufgrund ihrer eigenen Interessen den internen Druck zugunsten einer weiteren Umstrukturierung der ukrainischen Wirtschaft erhöhen. Ein wichtiger Beitrag zu ihrer Unterstützung besteht darin, ihnen Perspektiven und Zugänge zu westlichen Märkten zu eröffnen, unter Umständen auch bei umstrittenen Rüstungsgütern wie dem Transportflugzeug Antonow 70. "Noch ist die Ukraine nicht gestorben." |
|||||||||||||||||||||||||||||||||||||||||||||||||||||||||
© Friedrich Ebert Stiftung | technical support | net edition juliag | April 1999 |