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Politik und Gesellschaft Online
International Politics and Society 2/1999

 

ARNE HEISE

Vorläufige Fassung / Preliminary version

Koordinierte Haushaltspolitik zur Stabilisierung des Wirtschaftswachstums, Harmonisierung von Sozialstandards und Steuersätzen gegen Unterbietungskonkurrenz

Mit der zunehmenden Globalisierung, offensichtlicher aber mit der fortschreitenden europäischen Integration hat seit geraumer Zeit die Diskussion eingesetzt, ob die nationalstaatliche Politikfähigkeit an (internationale) Grenzen gestoßen sei. Kann es sich der Nationalstaat künftig leisten, sozialstaatliche Systeme, Arbeitsmarktregulierungen und wirtschaftspolitische Ziele nach den Präferenzen der nationalen Akteure auszurichten oder erzwingt die internationale Konkurrenz eine Systemkonvergenz und die nationale Politikimpotenz? Oder bedarf es vielleicht supranationaler Regulierungen und Institutionen, die an die Stellen ihrer (vorgeblich) ohnmächtigen nationalen Pendants treten?

Koordinierte Stabilisierungspolitik gegen Trittbrettfahrertum und Steuerungsunschärfe

Sowohl der Maastrichter Vertrag über die Europäische Union als auch seine Ergänzung auf dem Amsterdamer EU-Ratsgipfel 1997 bekennen sich zu einer Koordinierung der nationalen Wirtschaftspolitiken der Mitgliedsländer der Europäischen Union. Obwohl in den genannten Verträgen nicht klar ausgeführt ist, was unter "Wirtschaftspolitik" im einzelnen zu verstehen ist, geht es primär um makroökonomische Stabilisierungspolitik, die im wesentlichen, da die Geldpolitik mit dem Übergang in die Europäische Währungsunion ab 1999 zwangsläufig vereinheitlicht ist, öffentliche Haushaltspolitik meint. Im "Stabilitäts- und Wachstumspakt" (SWP) verpflichten sich die Mitgliedstaaten nicht nur zur Einhaltung eines maximalen Haushaltsdefizites von 3% des Bruttoinlandsproduktes (BIP), sondern auch zum Grundsatz des ausgeglichenen Haushaltes. Im Rahmen eines "Verfahrens bei übermäßigem Defizit" ist klar geregelt, unter welchen Bedingungen und in welchem Zeitraum eine Sanktion gegen den Mitgliedstaat auszusprechen ist, der ein "übermäßiges Defizit" aufweist. Damit haben sich die Mitgliedstaaten der Europäischen Union für eine regelgebundene "Gleichberechtigungsmethode" der Koordinierung entschieden. Für eine "Hegemonialmethode", bei der ein Land eine tonangebende, regelsetzende Rolle übernimmt, fehlte verständlicherweise die politische Legitimation, für die "Supranationalitätsmethode", bei der Gemeinschaftsorgane benötigt werden, die in der Richtlinienkompetenz über den Nationalstaaten stehen, fehlte die Bereitschaft zum Souveränitätsverzicht.

Die Reaktionen auf die Koordinierung der Wirtschaftspolitik in der EU fallen naturgemäß sehr unterschiedlich aus. Der neoliberale Mainstream feiert einerseits die Festschreibung der "klassischen Haushaltsregel" als Rückkehr zu einer vernünftigen Budgetpolitik, stimmt aber andererseits reflexartig in die Kritik an koordinierten wirtschafts- und beschäftigungspolitischen Maßnahmen ein, weil eine politische Koordinierung nicht ausreichend Raum für eine marktliche Koordinierung – also die Konkurrenz der nationalen Wirtschaftspolitiken – lasse und mit einer ausdrücklichen Erwähnung in den Vertragstexten eine Verantwortlichkeit auf europäischer Ebene entstehen könnte, die besser auf nationaler Ebene verbliebe. So erstaunlich es klingt, daß gerade der neoliberale Mainstream die nationale Verantwortung einklagt (Subsidiaritätsprinzip), andererseits ständig die nationalen Handlungsgrenzen in der globalen Welt beschwört, so verständlich wird diese Position, wenn Wirtschaftspolitik nach neoliberalem Verständnis im wesentlichen als Ordnungspolitik im Sinne der Deregulierung vermachteter Märkte verstanden wird.

Jene Ökonomen, die eine Interventionsnotwendigkeit des Staates zur Stabilisierung des Wirtschaftswachstums und damit auch zur Beschäftigungssicherung akzeptieren (sehr grob könnte man von "Keynesianern" sprechen), loben die Koordinierungsverpflichtung der Maastrichter und Amsterdamer Vertragswerke. Sie führen dafür zwei wesentliche Begründungen an:

Koordinierung beseitigt das Problem des Trittbrettfahrerverhaltens (Nutzung der Effekte einer wirtschaftspolitischen Maßnahme, ohne etwas dazu beitragen zu müssen) und verhindert damit eine Situation der gegenseitigen Blockade (Gefangenen-Dilemma). Damit führt internationale Koordinierung zur allgemeinen Wohlfahrtssteigerung.

Wirtschaftspolitik nach dem Ziel-Mittel-Ansatz setzt voraus, daß die Instrumente den nationalen Wirtschaftssubjekten eindeutig zugeordnet werden können, um eine deterministische Zielerreichung zu gewährleisten. Mit der zunehmenden Globalisierung entsteht eine Steuerungsunschärfe (Maßnahmen berühren auch internationale Wirtschaftssubjekte: "Spill-over-Effekte"oder "Exit-Optionen"), die nur durch eine Koordinierung von Wirtschaftspolitik reduziert werden kann.

So klar also die Notwendigkeit der Koordinierung der Wirtschaftspolitik in der EU zu sein scheint, so häufig werden auch die Probleme benannt:

Erstens: Koordinierung setzt voraus, daß gemeinsame wirtschaftspolitische Ziele verfolgt werden. Zwar ist die Stabilisierung von Wachstum und Beschäftigung ein Ziel, auf das man sich schnell einigen kann, doch mag die Abweichung von diesem Ziel und mithin die erforderliche Wirtschaftspolitik nicht in allen Ländern der EU gleichermaßen ausfallen. Mit der Vereinheitlichung der Geldpolitik in der Europäischen Währungsunion dürfte es allerdings zu einer weiteren Harmonisierung zumindest der konjunkturellen Entwicklung in der EU kommen, und auch die Anfälligkeit für länderspezifische Schocks ist zumindest für die Kernländer der E(W)U nicht sehr ausgeprägt. Schließlich haben alle EU-Mitgliedstaaten gleichermaßen (wenn auch nicht in gleichem Ausmaß) mit Massenarbeitslosigkeit und Wachstumsproblemen zu kämpfen.

Zweitens: Eine unterschiedliche Problemwahrnehmung – haben wir es tatsächlich mit unfreiwilliger Arbeitslosigkeit zu tun oder handelt es sich bei der hohen Arbeitslosigkeit in Europa vielmehr um freiwillige Arbeitslosigkeit, wie es der moderne Monetarismus behauptet? – führt (fast) zwangsläufig zu unterschiedlicher Zielsetzung und Mittelwahl. Eine Koordinierung wäre kaum denkbar oder müßte zu suboptimaler Politikabstimmung führen.

Drittens: Selbst bei Einigkeit über die Wahrnehmung der Wirtschafts- und Beschäftigungsentwicklung muß noch lange keine Einigkeit über das anzuwendende Instrumentarium bestehen – so hat die konservative Regierung in Großbritannien in den 80er Jahren eine deutlich konsequentere Politik der Deregulierung betrieben als die konservativ-liberale Regierung in der Bundesrepublik. Und auch die Bereitschaft zum Einsatz expansiver, makroökonomischer Maßnahmen scheint bei der linken Regierung in Frankreich ausgeprägter zu sein als in Großbritannien unter "New Labour".

Diese Koordinierungsprobleme können am besten bei hierarchischer oder supranationaler Koordinierung überwunden werden – Wege, die im Prozeß der europäischen Integration bislang nicht beschritten wurden und, so die einfache Prognose, auch in absehbarer Zukunft nicht offenstehen. Es verbleibt dann nur die Hoffnung, durch Anreize koordiniertes Verhalten zu fördern. Der "Stabilitäts- und Wachstumspakt" favorisiert in Verbindung mit dem "Verfahren bei übermäßigem Defizit" des Maastrichter Vertrages ein Koordinierungsverfahren mit Hilfe negativer Anreize, d.h. von Sanktionen bei nicht-konformem Verhalten.

So schlüssig sich dieses Koordinierungsverfahren auch herleiten läßt, so problematisch sind die konkreten Koordinierungsziele: ein über den Konjunkturzyklus hinweg ausgeglichenes öffentliches Budget und die Verhinderung selbst zeitweiliger Defizite von mehr als 3% des nationalen BIP. Damit wird einerseits eine Verschuldungsregel festgeschrieben, die kaum als optimal bezeichnet werden kann: weder ergibt sie sich zwangsläufig aus dem Postulat der Durchhaltbarkeit von Finanzpolitik noch dürfte sie die Wachstumskräfte der Wirtschaft optimal unterstützen. Andererseits wird auch die (koordinierte) Einschränkung der "automatischen Konjunkturstabilisatoren" bewirkt, was ein zusätzliches Instabilitätspotential beinhaltet. Schließlich lassen diese Koordinierungsinhalte keinen Raum für eine ökonomisch sinnvolle Differenzierung zwischen konjunkturellem (laufendes Budget) und strukturellem Defizit (Kapital-Budget).

Eine sinnvolle Koordinierungsregel in der EU muß also eine Regelbindung für das Kapital-Budget (z.B. systematisch orientiert an der "Investitionslücke" des jeweiligen EU-Mitgliedstaates oder pragmatisch orientiert an der Festlegung einer Zielgröße der öffentlichen Investitionsquote) und das laufende Budget (z.B. orientiert an einer nachhaltigen Gesamtverschuldung) vorsehen. Grundsätzlich könnte die Sanktionierung für das Koordinierungsverfahren des laufenden Budgets ähnlich aussehen wie im SWP, während die Einhaltung der Koordinierung des Kapital-Budgets z.B. über die Kreditvergabepolitik der Europäischen Investitionsbank (EIB) unterstützt werden könnte.

In Bezug auf das Koordinierungsziel muß die EU noch eine Kurskorrektur vornehmen, soll der europäische Integrationsprozeß die Wachstumskräfte nicht unnötig beschneiden. Die Nationalstaaten verlören bei all dem keineswegs an Bedeutung, sondern würden sich neben der Zieldefinition und dem Instrumenteneinsatz auch noch für die Koordinierungsleistung verantwortlich zeigen.

Gemeinsame Standards gegen Sozialdumping und Steuererosion

Soll die Bereitstellung öffentlicher Güter im wirtschaftlich vereinten Europa in nationaler Verantwortung und nach den Präferenzen der nationalen Akteure erfolgen, so muß sichergestellt sein, daß keine Form von europäischem Marktversagen zu erwarten ist. Genau dies ist aber nicht der Fall:

In einem einheitlichen Währungsraum wie der Europäischen Währungsunion (EWU), in der die Bereitstellung des öffentlichen Gutes "soziale Sicherheit" direkt (durch die Finanzierung der Sozialpolitik über die Lohnnebenkosten wie im sogenannten Bismarck-System) oder indirekt (durch die Finanzierung der Sozialpolitik über das allgemeine Steueraufkommen wie im sogenannten Beveridge-System) die Wettbewerbsfähigkeit nationaler Akteure beeinflußt, besteht die Gefahr eines "Sozialdumpings". Anders als in durch flexible Wechselkurse miteinander verbundenen nationalen Währungsgebieten können nationale Teilwirtschaften eines gemeinsamen Währungsraums die Ausgestaltung und Finanzierung ihres Sozialsystems nicht mehr nach eigenen Präferenzen ausrichten, sondern werden durch den Erhalt der Wettbewerbsfähigkeit der nationalen Wirtschaftsakteure eingeschränkt. Hier liegt also eine klare "Externalität" vor, die ohne Harmonisierung zu einer Unterversorgung mit sozialer Sicherheit führen müßte. In diesem Sinne ist dann auch die Verwendung des Begriffs "Dumping" gerechtfertigt, weil die "sozialen Kosten" (die aus der Bereitstellung von öffentlichen Gütern erwachsen) der Produktion aus Wettbewerbsgründen – und eben nicht als Ausdruck der Präferenzen der nationalen Akteure hinsichtlich ihres Versorgungsbedarfs mit dem öffentlichen Gut "soziale Sicherheit" – unterlaufen werden. Diese Entwicklung pervertiert die Vorstellung von marktlichem Wettbewerb als Entdeckungsverfahren der effizientesten Versorgungsmethode.

Allerdings lassen die sehr heterogenen, in der jeweiligen kulturellen Einbettung gewachsenen nationalen Institutionen einen hohen Grad an Pfadabhängigkeit erwarten, auch mag die institutionelle Harmonisierung eine dynamischen Ineffizienz nahelegen. In diesem Fall wäre nicht für die institutionelle Harmonisierung der Sozialpolitik im Sinne einer Sozialversicherungsunion zu plädieren, sondern für eine europäische Harmonisierung, die die Differenzen in den nationalen Institutionengefügen akzeptiert (und den institutionellen Wettbewerb im Sinne einer "best practice" erlaubt). Konkret kann die europäische Bereitstellung des öffentlichen Gutes "soziale Sicherheit", die weder die großen realwirtschaftlichen Produktivitäts-, Kosten- und Einkommensunterschiede in der EWU übersieht noch die Gefahr des Sozialdumpings mißachtet, nur darauf hinauslaufen, die Sozialleistungsquoten aneinander zu binden. Als Referenzmodelle hierfür sind die "Sozialschlange" bzw. das "Korridormodell" hinlänglich beschrieben. Indem man sich innerhalb der E(W)U auf ein oder mehrere Bandbreiten der Sozialausgaben als Anteil an der nationalen Wertschöpfung einigt, können die - noch sehr unterschiedlichen - nationalen Leistungsfähigkeiten mit institutionellem Wettbewerb kombiniert und gleichzeitig eine wettbewerbszentrierte Unterversorgung mit sozialer Sicherheit vermieden werden.

Wenn die Stabilisierungs- und Sozialpolitik behandelt werden, kann die Fiskalpolitik nicht unerwähnt bleiben, bildet sie doch deren finanzielle Grundlage. Bereits im EG-Vertrag von 1986 wird die Harmonisierung der indirekten Steuern angemahnt, soweit dies der Vollendung des EU-Binnenmarktes dienlich ist. Mit der Europäischen Währungsunion und der weiteren kapitalseitigen europäischen Integration wird auch eine Koordinierung der direkten Besteuerung immer wichtiger: Mit der Fixierung der Wechselkurse in der EWU erhält die direkte Besteuerung unmittelbaren Einfluß auf die Wettbewerbsfähigkeit der besteuernden nationalen (oder regionalen) Einheit, mit zunehmenden internen Verrechnungsmöglichkeiten stehen multinationalen Unternehmen in erhöhtem Maße Möglichkeiten offen, Gewinne dort auszuweisen, wo die Besteuerung am niedrigsten ist. Damit aber wird die Selbstbestimmung der Besteuerung nach nationalen Präferenzstrukturen unmöglich, ein Steuerdumping die kaum vermeidliche Folge. Die Parallelen zur Sozialpolitik sind offensichtlich.

Eine Koordinierung der EU-weiten Besteuerung ist deshalb notwendig, um die Effizienz der Steuersysteme (im Sinne der maximalen Wohlfahrtssteigerung) zu bewahren. Diese Effizienz kann nicht durch EU-weiten Wettbewerb um die niedrigsten Steuersätze gewährleistet werden, sondern allenfalls durch den nationalen (partei-)politischen Wettbewerb um die effizientere Steuer(re-)form.

Die Bereitstellung öffentlicher Güter wird auch zukünftig in nationaler Verantwortung verbleiben, doch zeigt sich, daß ein einheitlicher Währungsraum eine Harmonisierung der europäischen Fiskal- und Sozialpolitik erzwingt. Es bedarf deshalb nach der neoliberal dominierten Phase der "negativen Integration" endlich weiterer Schritte der "positiven Integration".


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