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Politik und Gesellschaft Online International Politics and Society 2/1999 |
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ROLAND VAUBEL Kein Grund für zentrale Standards - nationale Präferenzen weiterhin durchsetzbar Vorläufige Fassung / Preliminary version Die überlegene Effizienz der Wettbewerbswirtschaft ist allgemein anerkannt. Sie macht den zu verteilenden Wohlstands-Kuchen groß. Daß auch der politische Wettbewerb effizient ist, erscheint uns ebenfalls selbstverständlich, soweit es um den Wettbwerb zwischen den Parteien und in den Parteien geht. Politischer Wettbewerb ist - wie der wirtschaftliche Wettbewerb - gleichbedeutend mit Wahlfreiheit. Er ist eine Voraussetzung für Demokratie. Dem Sozialstaat widerspricht er nicht. Noch nicht so weit verbreitet ist jedoch die Einsicht, daß diese Überlegungen analog für den politischen Wettbewerb zwischen den Regierungen verschiedener Länder gelten. Denn Regierungen sind Anbieter öffentlicher Güter und Transfers und sollten - wie alle Anbieter - einem möglichst starken Wettbewerbsdruck ausgesetzt sein. Eine besonders weitreichende Form des politischen Wettbewerbs ist der "Systemwettbewerb", wie wir ihn zum Beispiel in diesem Jahrhundert zwischen den kommunistischen Staaten des Ostens und den westlichen Demokratien erlebt haben. Hier ging es nicht um Einzelheiten der Wirtschaftspolitik, sondern ums Grundsätzliche. Trotzdem war es natürlich kein Wettbewerb zwischen "Systemen", sondern zwischen politischen Akteuren, d.h. Individuen oder Institutionen. Der Systemwettbewerb hat den westlichen Demokratien recht gegeben. Auch der Integrationsprozess in Westeuropa hat Elemente des Systemwettbewerbs: die anfangs noch weitgehend merkantilistischen Vorstellungen der französischen Politiker konkurrierten mit der marktwirtschaftlichen Konzeption der Deutschen. Auch hier hat sich - jedenfalls bis Maastricht - eher die Marktintegration, das Wettbewerbsmodell, durchgesetzt. Das Wichtigste am politischen Wettbewerb ist, daß er - wie der Wettbewerb in der Wirtschaft - Vergleiche ermöglicht. Die Bürger können zwischen Parteien, Regierungen und sogar Wirtschaftsordnungen (Institutionen) vergleichen. Sie brauchen keine theoretischen Überlegungen anzustellen, was wohl die beste Lösung ihrer Probleme wäre. Die Vielzahl der konkurrierenden Experimente erlaubt es ihnen, die überlegene Lösung an ihren Früchten zu erkennen. Der Vergleich der Resultate versetzt die Bürger überhaupt erst in die Lage, eine wirksame demokratische Kontrolle auszuüben. Schon Kant hat 1784 darauf hingewiesen, daß die Willkür der Fürsten durch den politischen Wettbewerb in Schach gehalten wurde. Die "innere Kultur" der Staaten und der Sieg der Aufklärung seien dem Wettbewerb der Fürsten zu verdanken. In der neueren wirtschaftsgeschichtlichen Literatur wird betont, daß sich der wissenschaftlich-technische Fortschritt und die moderne Industriegesellschaft vor allem deshalb in Europa - und nicht in Großreichen wie China oder Indien - entwickelte, weil die intellektuellen Eliten und verfolgte Minderheiten leichter ausweichen und die Bürger besser vergleichen konnten. Es ist kein Zufall, daß sich Freiheit und Demokratie zuerst in Europa und den dreizehn Gründerstaaten der USA durchsetzten. Wenn sich Europa jetzt für die Zentralisierung und damit gegen den politischen Wettbewerb entscheidet, so gibt es sein historisches Erfolgsmodell auf und optiert für das asiatische Modell. Die neue politische Kaste heißt "Eurokratie". In der Europäischen Union wird die Zentralisierung verharmlosend "politische Integration" genannt. Daß Zentralisierung mit einem Verlust von Demokratie verbunden ist, zeigt die Geschichte der europäischen Integration geradezu exemplarisch. Betrieben wird der Zentralisierungsprozeß vor allem von denjenigen, die der demokratischen Kontrolle entgehen wollen - den Regierungen und ihren Bürokratien. Entstanden ist ein Europa der Exekutive. Selbst für die Gesetzgebung sind in erster Linie die Regierungen (der Rat) und die europäische Bürokratie (die Kommission) zuständig. Die Kommission besitzt sogar ein Vorschlagsmonopol. Über die europäische Gesetzgebung kann die Exekutive die Kontrollrechte der Parlamente außer Kraft setzen. Als zum Beispiel der Bundesrat 1992 gegen die von der Regierung geplante Mehrwertsteuererhöhung Front machte, hatte der Finanzminister die Möglichkeit, sein Ziel ohne jegliche parlamentarische Kontrolle über eine europäische Steuerrichtlinie zu erreichen. Für die Bürger ist der Brüsseler Gesetzgebungsprozeß schwer verständlich. Das liegt nicht nur an den Sprachbarrieren und den größeren Entfernungen, sondern auch an der mangelnden Transparenz des Entscheidungsprozesses. Denn die Beratungen des Rates und der Kommission sind nicht öffentlich. Meist werden noch nicht einmal die Abstimmungsergebnisse veröffentlicht. Hunderte von Ausschüssen und Verbänden wirken an der Gesetzgebung mit. In keinem der Mitgliedstaaten ist die Gesetzgebung so lobbylastig wie in Brüssel. Eine geradezu unglaubliche Unkenntnis der europäischen Institutionen verraten die regelmäßigen Meinungsumfragen. Die Entdemokratisierung beruht nicht nur auf Konstruktionsfehlern des europäischen Hauses, die man hätte vermeiden können. Sie ist zum Teil ein systemimmanentes Merkmal internationaler politischer Integration. Schon allein die enorme Sprachvielfalt der Union verhindert, daß gemeinsame europäische Medien und eine europäische öffentliche Meinung entstehen können. Es fehlt ein Diskussionsforum, in dem die Interessenkonflikte in einer für den Bürger verständlichen Weise ausgetragen werden können. Das Europa-Parlament kann dies nicht leisten. Außerdem ist es selbst an politischer Zentralisierung interessiert, weil sie ihm einen Zuwachs an Kompetenzen und Macht beschert. Die politische Integration oder Zentralisierung Europas schwächt also den politischen Wettbewerb und damit die Demokratie. Ist sie trotzdem notwendig, nämlich - wie neuerdings einige meinen - um den Sozialstaat zu retten? Stehen wir vor einem Dilemma? Müssen wir zwischen Demokratie und Sozialstaat wählen? Die Gefahr, die einige an die Wand malen, heißt "Sozialdumping". Doch schon der Begriff ist unsinnig. Unter "Dumping" verstehen die Ökonomen, daß jemand seine Produkte im Ausland billiger als im eigenen Land anbietet (Preisdiskriminierung) oder vorübergehend unter Kosten verkauft, um eine Monopolstellung zu erringen. Daß die Arbeitsstunde in Portugal weniger als in Deutschland kostet, hat aber nichts mit Preisdiskriminierung oder einer Monopolisierungsstrategie zu tun. Es liegt daran, daß der Produktionsfaktor Arbeit in Portugal relativ zu Kapital reichlicher und weniger produktiv ist. Natürlich sind nicht nur die Löhne, sondern auch die Sozialstandards in Portugal niedriger. Denn Sozialstandards sind mit Kosten verbunden, und die Bereitschaft, diese Kosten zu tragen, hängt vom Entwicklungsniveau ab. Bezeichnet man die Kosten der Sozialstandards als "Soziallohn" und den Rest des Lohnes als "Geldlohn", so muß die Summe aus Soziallohn und Geldlohn der Arbeitsproduktivität entsprechen. Wird in Portugal der Soziallohn - zum Beispiel durch europäische Sozialstandards - erhöht, so müssen die portugiesischen Arbeitnehmer auf Geldlohn verzichten. Da ihr Geldlohn sowieso niedriger als der deutsche ist, sind sie nicht an deutschen Sozialstandards interessiert. Der damit verbundene Lohnverzicht ist ihnen zu hoch. Wer den weniger entwickelten Mitgliedsländern über europäische Richtlinien deutsche Sozialstandards aufzwingt, bekämpft daher nicht "Sozialdumping", sondern verhält sich unsolidarisch. Ist aber nicht zu befürchten, daß die zunehmende Integration der Märkte in Europa und der Welt den deutschen Sozialstaat unterminiert? Zwingt nicht der zunehmende internationale Wettbewerb - die vielzitierte "Globalisierung" - Deutschland dazu, Sozialleistungen und Sozialstandards abzubauen, um seine Wettbewerbsfähigkeit zu erhalten oder wiederzugewinnen? Hilft dagegen nicht einzig und allein eine internationale Zentralisierung oder Abstimmung der Sozialpolitik - zum Beispiel auf europäischer Ebene? Wer so fragt, übersieht, daß die internationale Wettbewerbsfähigkeit unserer Arbeitsplätze von den gesamten Arbeitskosten abhängt und daß der "Soziallohn" nur ein Teil davon ist. Das Gewicht der sozialen Komponente muß von den Wünschen der Arbeitnehmer abhängen. Wenn der Soziallohn heute das gewünschte Niveau hat, kann die internationale Wettbewerbsfähigkeit kein Grund sein, ihn abzusenken. Dann muß der Geldlohn die volle Last der Anpassung tragen. Wenn dagegen nicht das Niveau, sondern das Gewicht des Soziallohns (im Gesamtlohn) konstant gehalten werden soll, muß sich Lohnzurückhaltung auch auf den Soziallohn beziehen. Die Hauptschwierigkeit besteht darin herauszufinden, welche Soziallohnkomponente die einzelnen Arbeitnehmer überhaupt wünschen. Deshalb muß der Umbau des Sozialstaates vor allem darin bestehen, dem einzelnen im sozialen Bereich mehr Wahlmöglichkeiten einzuräumen - sowohl bei der Sozialversicherung als auch bei den Sozialstandards. Die notwendigen sozialpolitischen Innovationen werden desto eher gelingen, je größer die Vielfalt der Experimente ist. Nicht eine europäische Zentralisierung, sondern eine Individualisierung und Dezentralisierung der Entscheidungen tut not. Man kann es auch Emanzipation nennen. |
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© Friedrich Ebert Stiftung | technical support | net edition juliag | April 1999 |