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Politik und Gesellschaft Online
International Politics and Society 3/1998
KLAUS PÖHLE
Ist europäische Identität unmöglich?

Vorläufige Fassung / Preliminary version

Dieser Artikel wird der Frage nachgehen, ob sich neben der nationalen und anderen Identitäten eine europäische Identität herausbilden kann. Zugleich will er durch Herausarbeitung einfacher und verständlicher Kriterien Transparenz in das begriffliche Gestrüpp bringen.

Zur fehlenden Exaktheit des Begriffs

Die Antwort setzt beim Begriff "Identität" ein, dessen inflationär zu nennender Gebrauch im krassen Gegensatz zu seiner fehlenden begrifflichen Klarheit steht. Er ist zu einer Münze geworden, die offenbar " als eine fast beliebige Vokabel" verwandt werden kann. "Seit Ende der siebziger Jahre geistert der Begriff "Identität" durch die Zeitungen und jedes Akademieprogramm und jeder unversitäre Kleinmeister hat den Begriff jahrelang im Repertoire. ...Die meisten redeten einfach ...von "nationaler Identität" ..., ohne nachzudenken darüber, wie man sich derlei vorzustellen hat" Die begriffliche Schwammigkeit kontrastiert mit der Selbverständlichkeit und Autorität, mit der Identitäten oder ihr Fehlen behauptet werden. Als seien es wissenschaftliche Erkenntnisse, die keine Interpretation erfordern und keinerlei Zweifel zulassen. Mit dieser Art Diskussion wird auf die naturwissenschaftliche, insbesondere mathematische Begriffsbestimmung der Identität rekurriert: A = B, d.h. Identität liegt dann vor, wenn A und B die Namen für ein und denselben Gegenstand sind. Entsprechend kennt der psychologische Begriff die Ich-Identität als vollständiges Einssein eines Menschen mit sich selbst.

Diese auf einen einzigen Gegenstand oder eine einzelne Person bezogene Identität ist bestechend in ihrer Klarheit und Eindeutigkeit. Zweifel können im naturwissenschaftlichen Bereich nur schwer aufkommen. Anders ist es, sobald nicht tote Materie, sondern lebende Wesen ins Spiel kommen. Am vollständigen Einssein eines Menschen mit sich selbst dürften immer Zweifel erlaubt sein. Es empfiehlt sich deshalb, diese begriffliche Strenge außerhalb des naturwissenschaftlichen Bereichs nicht zu erwarten und dennoch bei der Benutzung des Begriffs Identität im gesellschaftlich/politischen Leben auf ein hohes Maß an Eindeutigkeit und Klarheit zu drängen, um seiner Komplexität gerecht zu werden.

Begriffliche Beliebigkeit mag weiter hinnehmbar sein, wenn von kultureller Identität die Rede ist und keine Ausgrenzung mit politischen Folgen droht. Anderes gilt, wenn Identität als politische Waffe eingesetzt wird, um bestimmte Entwicklungen zu befördern oder zu behindern, etwa bei der Öffnung des öffentlichen Dienstes für Ausländer, beim Wahl- und Staatsbürgerrecht und bei der Fortentwicklung der Europäischen Union (EU). So fallen Bestrebungen auf, den Begriff ausschließlich auf nationale Identität einzuengen, was sowohl die europäische wie die regionale Dimension ausschließen würde.

Die Frage nach der europäischen Identität hat zu einer breiten und lebhaften wissenschaftlichen Diskussion geführt, die sich zumeist in der Beschwörung der Vergangenheit Europas und seinen kulturellen Gemeinsamkeiten verliert und logischerweise viele Gründe für eine europäische Identität freilegt. Die Weiterführung des Denkprozesses wird zumeist durch die nationale Identität blockiert, die wie ein Felsblock auf dem Weg zur europäischen zu liegen scheint. Die Überhöhung der nationalen Identität dient offenkundig der Absicht, eine europäische Identität von vornherein für absurd zu erklären, so daß sich weitere Fragen z.B über die Finalität der europäischen Integration von selbst verbieten und der Bestand der Nationalstaaten nicht einmal theoretisch in Gefahr gerät. Statt Vorstufe eines irgendwie gearteten europäischen (Bundes)Staates soll die EU auf den Status eines bloßen "Staatenverbundes" beschränkt bleiben, weil es vor allem an einem europäischen Staatsvolk mangele. Dies setzt wiederum eine europäische Identität der Bürger voraus, die das Staatsvolk der EU bilden könnte.

Hier soll bewußt eine auf den politischen Bereich beschränkte begriffliche Ein - und Abgrenzung der Identität versucht werden, um eine überzeugende Antwort auf die Titelfrage zu erlauben: Ist europäische Identität ausgeschlossen, weil sie den geographischen wie inhaltlichen Rahmen des Nationalstaates nicht zu überwinden vermag?.

Der Einzelne als Träger der Identität

Auch aus "fremden" Dynastien stammende Monarchen haben immer gern von ihren "treuen Untertanen" gesprochen und noch heute teilen insbesondere diktatorische Staatschefs ihren Bürgern eine einheitliche "nationale Identität" in einem quasi hoheitlichen Akt zu, ungefragt und ohne Rücksicht auf die Zugehörigkeit zu verschiedenen "Stämmen". Mit der Ablösung der Feudalzeit durch moderne Demokratien sind jedoch aus Vasallen längst über ihre bürgerlichen und Menschenrechte aufgeklärte Staatsbürger geworden. Sie sind Subjekte und nicht länger bloße Objekte.

Identität hat folglich vom einzelnen Menschen auszugehen. Er ist das Subjekt, das durch seine Existenz aufgefordert ist, sein Verhältnis zu seiner Umwelt im Rahmen seiner Möglichkeiten und nach seinem Willen zu gestalten. So kann er sich z.B. mit seinem Beruf, mit einem Hobby oder entsprechend seinen religiösen oder politischen Überzeugungen mit einer Kirche oder Partei identifizieren.

Identität ist weiter in Bezug auf etwas außerhalb des einzelnen Menschen zu sehen, zu dem er in einer besonderen Beziehung steht. Von politischer Identität ist dann zu sprechen, wenn es sich um eine politisch relevante Einheit handelt. Diese Einheit mag nur aus einigen (Beispiel: Familie) oder aus sehr vielen Personen (Beispiel: Staat) bestehen. Immer handelt es sich jedoch um organisierte Ansammlungen von Menschen mit eigenen Strukturen, Regeln und Sanktionsmöglichkeiten.

Die besondere Beziehung des einzelnen Menschen zu dieser Einheit entsteht in der Regel unfreiwillig: er wird in eine Familie hineingeboren; diese vermittelt ihm die Zugehörigkeit zu einer Religion, zu einer Gemeinde, zu einer Region/Landschaft und zu einem Staat; man sollte sich deshalb an den Gedanken gewöhnen, daß die Europäische Union von einer wachsenden Zahl von Europäern als eine neue Einheit wahrgenommen wird, die sich in noch unklarer Weise über ihren Staat wölbt. Politische Identität ist nicht an geographische Grenzen (Region, Nationalstaat) gebunden, sondern vom "seelischen Aufnahmevermögen" des Einzelnen abhängig. Deshalb läßt sich z.B. für die meisten Menschen noch kein persönliches Verhältnis zu den entfernten Vereinten Nationen herstellen.

Das unfreiwillige Entstehen einer besonderen Beziehung des einzelnen Menschen zu einer Einheit bedeutet nicht automatisch die Entwicklung einer Identität. Nach unserem heutigen Verständnis von der Würde des Menschen und seinen Grundrechten dürfen weder Familie, Sekte oder Staat ihre Mitglieder in einem solchen Ausmaß vereinnahmen, daß ihnen Identität wie das Stigma des Gewaltunterworfenen ungefragt zugeteilt werden kann. In ihrer Glanzzeit haben die Nationalstaaten ihren Staatsbürgern die nationale Identität aufoktroyiert, diese ideologisch in Schule und Armee unterfüttert und kämpferische Nationalisten aus ihren Bürgern formen wollen, die für das Vaterland zu sterben bereit waren. Noch heute rangiert die kollektive Identität verdächtig oft vor der individuellen. Auch in unseren demokratischen Gesellschaften muß sich der Mensch in die ihm vorgegebene Ordnung der Familie oder des Gemeinwesens einfügen; aber diese Ein- und Unterordnung sequestriert nicht sein Denken und Fühlen, sondern läßt ihm eigenen Willen. Seine besonderen Beziehungen zu einer Einheit kann er hoch- oder herunterstufen, aber auch ganz abbrechen.

Folglich gehört ein voluntaristisches Element dazu, um zu einer Identität zu kommen. Auf die sensible Frage, wer Jude ist, reagierte Jurek Becker mit der Feststellung: "aber ich wünschte mir, daß ich mir das selber aussuchen könnte" Doch der Mensch erbt die ethnisch-rassische Zugehörigkeit von seinen Eltern. Wäre damit zugleich die nationale Identität vorgegeben, müßte ein deutsches "Besatzungskind" mit einem schwarzen oder slawischen Vater auch eine amerikanische oder marokkanische oder russische Identität besitzen und nicht nur seelische Narben! "Pole, wer bist Du?" ist nicht nur Titel eines Buches, sondern auch Symbol für die Identitätsprobleme, nachdem man (wieder) einen eigenen Nationalstaat hat wie z.B. jetzt die baltischen Staaten.

Der Eintritt in eine politische Partei sollte bereits auf eigenen weltanschaulichen Überzeugungen beruhen, für eine Idee oder "Sache" eintreten zu müssen. Für die weitere Verinnerlichung dieser Verpflichtung hin zur Identifizierung sorgen dann oft die Parteien selbst oder die Sekten, Kirchen und der Nationalstaat, denn es sind immer Organisationen, die diejenigen Menschen führen und oft verführen, die das Aufgehen in einer größeren Einheit dem eigenverantwortlichen individuellen Dasein vorziehen.

Bereits das Kleinkind wird zu seiner engeren Familie ein Gefühl der Zugehörigkeit verspüren, das sich später auf die Großfamilie erstrecken wird. Schottische Clans und erst recht Familienverbände in der arabisch/afrikanischen/asiatischen Welt spielen für den einzelnen Menschen eine ihn prägende und sein Leben lang tragende und verpflichtende Rolle. Andere Einheiten wie Schulklasse, Sportmannschaft, Arbeitsteam treten bald hinzu, wenn auch oft nur auf Zeit. Natürlich gewachsene Regionen mit dem Vorzug gleichen Dialekts und gleichen geschichtlichen Erfahrungen dürften den Menschen näher stehen als der weiter entfernte und eher anonyme Nationalstaat, von dem vor allem Pflichten wie zum Steuerzahlen und zum Wehrdienst ausgehen.

Worauf es ankommt, ist die Intensität des Gefühls der Zugehörigkeit, denn der Mensch kann in diese Einheit locker oder fest, nur auf Zeit oder auf Dauer integriert sein. Die Zugehörigkeit kann für ihn alles oder nur wenig bedeuten. Eine kurze Zugehörigkeit verblaßt gegenüber aktuelleren Identitäten, aber kann Spuren hinterlassen, die revitalisiert werden können. Mit der Dauer der Zugehörigkeit kann sich die besondere Beziehung verstärken oder abschwächen, weil ihre Intensität vom Willen des Menschen abhängig ist. So lassen Familienbindungen aufgrund beruflicher Veränderung nach, während die Verbundenheit mit der Heimat große Distanzen und jahrzehntelange Abwesenheiten auszuhalten vermag, wie man bei Auswanderern beobachten kann. Auch ihre Nachkommen sind nicht frei davon. Immer mehr weiße Bürger der USA forschen verstärkt nach den europäischen "roots" ihrer Familie, seitdem dort afrikanische oder hispanische Herkunft häufiger in den Vordergrund gerückt wird. An die zweitausendjährige Kulturgeschichte Europas anknüpfen zu können und nicht nur an die gut zweihundertjährige Geschichte der USA macht sie stolz, verstärkt ihre US-Identität und gibt ihnen ebenfalls "Authentizität".

Individuelle oder kollektive Identität

Die Entwicklung in den demokratischen und wohlhabenden Industriestaaten räumt der Individualisierung breiten Raum ein, weshalb individuelle Identität im Kommen und kollektive Identität auf dem Rückzug begriffen ist. Sicherlich gibt es noch Familienoberhäupter, Sektenchefs sowie Kirchen- und Parteiführer, die ihre Anhänger am liebsten in strenger Unterordnung und kollektiver Loyalität sehen. Ludwig Erhard strebte zeitweise eine "formierte Gesellschaft" an. Die Nationalstaaten möchten lieber schlicht an Patriotismus und Opferbereitschaft ihrer Bürger appellieren statt gezwungen zu sein, deren Zustimmung zu politischen Entscheidungen mit umfangreichen Aufklärungskampagnen zu suchen. Es hilft ihnen, daß viele Menschen sich in der Kollektivität einer Volksgemeinschaft sicherer fühlen: sie raisonieren weniger und folgen gern der kollektiven Einheit.

Werden Familie, Partei, Sekte oder Nationalstaat angegriffen, finden sich auch andere Mitglieder der besonderen Einheit freiwillig zur kollektiven Verteidigung generell oder punktuell bereit. Kollektive Identität wird weiter ihren Ausdruck in verbaler oder tätiger Solidarität finden. Aber sie stößt an Grenzen, auch gegenüber dem Vaterland. Demokratisierung und Individualisierung unserer westlichen Gesellschaft erlauben dem einzelnen Menschen, zwischen Loyalität und Pflichtgefühl einerseits und Gewissen sowie eigenen Interessen andererseits abzuwägen. Wird Zustimmung bei einer nicht ausreichend begründeten Aktion erwartet, neigt sich die Waage schnell zur Ablehnung, zumal Sanktionen - außer bei Sektenmitgliedern und bei Wehrpflichtigen im Kriegsfalle - kaum zu befürchten sind. Über die Zugehörigkeit zu Parteien, Kirchen, Sekten sowie über die Billigung oder Ablehnung politischer Forderungen können wir ohnehin selbst bestimmen.

Dieses Maß an individueller Freiheit gibt es nicht in Zonen permanenten Kampfes. Etwa bei unterdrückten Völkern wie den Kurden und Palästinensern, die zu einem eigenen Staat erst kommen wollen und deshalb von ihren Anhängern ein Zurückstellen persönlicher Interessen erwarten. So bringt der Kampf der Palästinenser gegen Israel immer wieder Selbstmordattentäter hervor. "Kollektive Identitäten enden notorisch mit der Uniformierung oder dem Ausschluß von Individuen. Um jemanden zu diskriminieren, zu vertreiben und im Extremfall zu töten, muß man ihn möglichst vereinfachend identifizieren und ihm ein entsprechendes Schild ankleben".

Zugehörigkeit und Übereinstimmung

Die Zugehörigkeit des Einzelnen zu einer Einheit beruht auf einer tatsächlichen oder rechtlichen Gegebenheit, ohne etwas darüber auszusagen, ob sich der Einzelne in Übereinstimmung mit dieser besonderen Beziehung befindet. Das Gefühl der Zugehörigkeit kann folglich positiv wie negativ aufgeladen sein. Da Menschen eigenen Interessen zu folgen gewohnt sind, die nur selten mit denen der Einheit völlig identisch sein werden, gelangen sie in der Regel nur zu einer annähernden Übereinstimmung mit Letzterer. Diese Übereinstimmung kann gefühlsmäßig weiter gehen als geistig oder umgekehrt geistig größer sein als gefühlsmäßig. Das Gefühl der Zugehörigkeit befördert eine bereits vorhandene besondere Beziehung, aber schafft nicht notwendiger Weise Identität. Denn zusätzlich zum Gefühl muß auch der Verstand zumindest affektiv die Besonderheit der Beziehung billigen. Ein solcher analytische Vorgang kann weder dem Kleinkind noch dem Jugendlichen abverlangt werden, weshalb sich die dem Menschen vorgegebenen besonderen Beziehungen (Familie, Gemeinde, Staat usw.) nicht automatisch zu einer Identitätsbeziehung auswachsen.

Zur Zugehörigkeit muß weiter inhaltliche Übereinstimmung mit dem hinzukommen, was diese Einheit für ihn bedeutet oder in Zukunft bedeuten könnte. Wer z.B. dreißig Jahre oder mehr der europäischen Integration "gedient" hat , wird zur EU eine starke besondere Beziehung unterhalten. Sie ist wesentlicher Teil seines beruflichen und persönlichen Lebens und steht deshalb in deutlicher Konkurrenz zu seiner nationalen Identität. Daraus können Probleme der Loyalität entstehen, denn Mitarbeiter internationaler Organisationen unterliegen dienstlichen Verpflichtungen zur "Unabhängigkeit", insbesondere keinerlei Weisungen des Heimat- bzw. Entsendestaates anzunehmen. Es machte Sinn, ein eigenständiges europäisches Beamtenstatut für die Bediensteten der EU zu erlassen und mit einem eigenen Rekrutierungssystem sicherzustellen, daß das Personal auf Dauer eingestellt und nicht nur auf wenige Jahre "entsandt" ist. Loyalität ist eine rechtliche, sanktionsbewehrte, auf die Außenbeziehungen eines Menschen beschränkte Verpflichtung und insoweit der Staatsbürgerschaft vergleichbar, während Identität als innere Angelegenheit eines Menschen keinen direkten rechtlichen Bezug enthält.

Fühlt das Individuum sich dagegen eingeengt und gegängelt, wird das Verhältnis mit seiner Reifung abkühlen. Es erkennt die Zugehörigkeit nur noch widerwillig an und sucht die Möglichkeiten eines Ausstiegs: Weggang von Familie und Gemeinde oder Auswanderung aus dem Staat sind die üblichen Schritte. Die Massenflucht aus Albanien trotz nationaler Identität beruhte dagegen auf materieller Not. Fehlt die Kraft zum Ausstieg, obwohl die Zustimmung geschwunden ist und deshalb eine persönliche Identifizierung abgelehnt wird, so verbirgt äußerliche Anpassung an die Einheit die vorhandene innere Distanz. Kritische Geister folgen schon länger nicht mehr Devisen wie " right or wrong: my country"!

Natürlich sind auch diese "Aussteiger" von den Erfahrungen mit dem Regelwerk ihrer Einheit und durch die Erlebnisgemeinschaft geprägt worden. Sentimentale Erinnerungen und Haßgefühle mögen sich überlagern, weshalb es nicht korrekt wäre, ihnen ungefragt Identität zuordnen zu wollen, wohl aber affektive Verbundenheit mit der früheren Einheit.

Nicht nur eine, sondern mehrere Identitäten sind möglich

Da Menschen eine besondere Beziehung zu mehreren Einheiten nicht nur nacheinander, sondern zur gleichen Zeit unterhalten können, folgt logischerweise, daß es mehrere Identitäten geben kann. Entscheidend ist das subjektive Verhältnis des Einzelnen zur Einheit. Je stärker dieses ist, um so weniger Raum verbleibt für identitätsbefördernde Beziehungen zu anderen Einheiten, denn die seelische Kraft der Menschen ist begrenzt. Je gleichmäßiger sich diese Bindungen auf viele Einheiten verteilen, um so schwächer sind diese Identitäten einzuschätzen. Die Veranlagungen der Menschen spielen hierbei eine ausschlaggebende Rolle. Der introvertierte Mensch wird ebenso wie der fanatische Sektenanhänger seiner Beziehung zu einer einzigen Einheit eine solche Intensität geben, daß seine seelische Kraft für andere Identitäten nicht mehr reichen wird. Im großen Maße extrovertierte Menschen wiederum werden so viele "Identitäten" von geringer Intensität besitzen, daß das Bestehen einer starken, die Persönlichkeit prägenden Identität besser angezweifelt werden sollte. Ein Leben mit vielen Identitäten fordert solchen Menschen zugleich ab, die mit den Identitäten verbundenen Loyalitäten in eine sinnvolle Rangordnung zu bringen.

Jugendliche verspüren im Normalfall stärkere und dauerhaftere Bindungen an das Elternhaus als an die Schule, während diejenigen an Sport- und andere Vereine von größerer Dauer aber von wechselnder Intensität sein dürften. Jedenfalls ist nicht einsehbar, weshalb es keine Identität zur Heimatregion geben sollte. Die Verbundenheit mit Familie, Arbeitskollegen, Sport- und Parteifreunden kann eine solche Intensität erreichen, daß die nationale Identität erst an zweiter oder gar dritter Stelle kommt. Wenn mehrere Identitäten die Regel sind, warum sollte dann eine europäische unmöglich sein, die erst schwach ausgeprägt sein mag, aber dennoch bereits geortet werden kann?

Ein- und Ausgrenzung als Mittel zur Identitätsfindung

Identität als Begriff mit überwiegend psychologischen Bestandteilen muß Eigenheiten der menschlichen Natur Rechnung tragen, weshalb noch zwei weitere Kriterien Erwähnung verdienen.

So wird erstens die Identität verstärkt, wenn ihr Inhaber stolz auf die Einheit ist, zu der er gehört. Gesellschaftliches Prestige der Familie und Erfolg des Sportvereins zählen dabei ebenso wie olympische oder andere Siege der eigenen Nation. Erfolge und weltweites Prestige der EU dagegen bleiben für die Bürger weitgehend im Verborgenen oder werden von ihnen nicht genügend wahrgenommen.

Zweitens muß sich der individuelle Mensch bewußt sein, daß zwar er zur Einheit gehört, daß aber andere außen vor bleiben. Würden alle dazu gehören, ginge der besondere Anreiz für jegliche Identität verloren, denn am liebsten möchten die meisten Menschen einem möglichst exklusiven Club angehören, um sich auf diese Weise auserwählt fühlen zu können. Käme es zum Weltbürgertum, würden deshalb kontinentale, nationale und regionale Identitäten großen Auftrieb erhalten. Hinter dieser Haltung verbirgt sich zumeist das Bedürfnis nach Besonderheit, aber oft auch eine diskriminierende Ablehnung Außenstehender. Die "Einbeziehung des Anderen" dürfte nur selten die Verhaltensmaxime der Menschen sein.

Auch Identität benötigt zur begrifflichen Klarheit ein Gegensatzpaar in Bezug auf die Einheit: Zugehörigkeit und Ausgrenzung: man ist Badener oder Schwabe; man kann nicht beides zugleich sein. Es gehört zum Erwachsenwerden, damit zu leben, daß man aus einem bestimmten Dorf, Kreis, Land, Staat kommt und nicht aus einem anderen. Damit verbundene Hänseleien muß man ebenso ertragen lernen wie Vorurteile zwischen den Völkern. Richtig ist, daß diese Ausgrenzung oft leidvoll erfahren wird: von Flüchtlingen oder anderen "Zugereisten", von Transsexuellen oder von anderen durch Geburt bestimmten ethnischen, rassischen oder religiösen Gruppen von Menschen. Der Zerfall Jugoslawiens hat Europa erschreckende Beispiele von Ausgrenzung geliefert.

Fremde leben aus zwei Hauptgründen unter uns. Die Mitgliedsstaaten der EU sehen sich einer diametralen Entwicklung ausgesetzt: einer für die Industriestaaten geltenden demographischen Tendenz folgend schmelzen unsere Staatsvölker langsam dahin wie die Gletscher in den Alpen und Zuwanderung von Arbeitskräften war deshalb bis vor kurzem erwünscht; zugleich drängen Asylsuchende und Wirtschaftsflüchtlinge in unsere reichen Staaten mit ihrem hohen rechts- und sozialstaatlichen Niveau. Der gesellschaftliche Aufstieg ins Staatsvolk wird ihnen jedoch selbst dann nicht leicht gemacht., wenn sie über viele Jahre im Gastland arbeiten, Steuern zahlen und mit ihren Beiträgen die Sozialsysteme stützen. Sie alle unterliegen der nationalen Rechtsordnung des Gastlandes, ohne an deren Weiterentwicklung durch neue Gesetze oder an ihrer Anwendung etwa als Laienrichter mitwirken zu können. So entstehen neue Minderheiten, die keinem der Staatsvölker der EU angehören und sich deshalb nur als geduldet betrachten können, was für die Entwicklung ihrer europäischen Identität keinesfalls förderlich sein dürfte.

Auch gewinnt Identität an Intensität dann, wenn der Zugehörigkeit zu einer Einheit Vorteile zu verdanken sind oder ihretwegen Nachteile in Kauf genommen werden müssen. Im Zweiten Weltkrieg trugen Menschen aus vielerlei Nationen aus unterschiedlichen Gründen deutsche Uniformen. Was während des Krieges als Vor- oder Nachteil empfunden wurde, konnte sich nach Kriegsschluß in das Gegenteil verwandeln, als sehr deutlich zwischen Siegern oder Besiegten unterschieden wurde. Die Zugehörigkeit zu einer von den Achsenmächten besetzten Nation konnte Luxemburger, Belgier u.a. vor Kriegsgefangenschaft bewahren oder eine schnellere Heimkehr ermöglichen. Andere erwartete Zuhause das Kriegsgericht oder andere Sanktionen.

Als selbstverständlich nehmen es EU–Bürger hin, wenn sie bei Paßkontrollen auf Flughäfen innerhalb der EU an besonderen Schaltern schneller als die übrigen Reisenden abgefertigt werden. Als Nachteil erleben dagegen Reisende mit schweizerischen Paß, daß sie aufgrund einer Volksabstimmung nicht einmal zum Europäischen Wirtschaftsraum (EWR) geschweige denn der EU gehören. Besonders deutlich wurde oder wird ihnen dies auf dem Internationalen Flughafen Mulhouse vorgeführt, der bei Basel auf französischem Staatsgebiet liegt, aber von Frankreich und der Schweiz u.a. mit schweizerischen Fluggesellschaften gemeinsam betrieben wird.

Der Vertrag von Amsterdam bringt den EU–Bürgern interessante Neuerungen für ihre Identitätsfindung. Erstmalig werden die Mitgliedstaaten zur Einhaltung demokratischer Grundwerte und Strukturen verpflichtet (Artikel 6), was gegebenenfalls mit dem Entzug von Mitwirkungsrechten geahndet werden kann (Artikel 7). EU–Bürger sind folglich vor dem Entstehen von rechten oder linken Diktaturen besser geschützt als bisher. Da dieser Maßstab auch an beitretende Staaten angelegt wird (Ergänzung im Artikel 49), können deren Bürger dem Beitritt eine zusätzliche positive Seite abgewinnen. Als logische Konsequenz wird in einem Protokoll zum Vertrag ausgeschlossen, daß EU–Bürger in einem anderen EU–Mitgliedstaat politisches Asyl beantragen können, solange der Rat nicht auf einen ernsthaften und andauernden Bruch der Prinzipien von Artikel 6 erkannt hat.

Ebenfalls neu ist die Bereitschaft der EU und ihrer Organe, bei Diskriminierungen aus sexuellen, rassischen, ethnischen, religiösen Gründen oder wegen Behinderung, Alter oder der sexuellen Orientierung in Aktion zu treten (neuer Artikel 13). Von der Schnelligkeit und Wirksamkeit dieser Aktionen dürfte abhängen, ob die betroffenen Bürger sich in identitätsfördernder Weise geschützt fühlen. Das neue Recht der EU–Bürger (Artikel 255), bei jedem Organ der EU Dokumente anfordern zu können, dürfte eher als selbstverständlich angesehen werden, wie das ebenfalls neue Recht (3.Absatz zu Art. 21) , Briefe in einer der zwölf Amtssprachen an diese Organe schreiben zu können. Auch hier wird die Wirkung von der Schnelligkeit und der Art der Anwort abhängen. Die weiter geltenden Rechte, Petitionen an das EP richten und sich an dessen Bürgerbeauftragten mit Eingaben wenden zu können, scheinen besser geeignet, ein persönlicheres Verhältnis der Bürger zur EU herzustellen und ihnen zu europäischer Identität zu verhelfen, zumal nach bisherigen Erfahrungen damit zu rechnen ist, daß die Rechte der Bürger mit jedem neuen Vertrag erweitert werden.

Das Erleiden von Nachteilen aufgrund der Zugehörigkeit zu einer als feindlich angesehenen Einheit läßt den Betroffenen intensiver über seine Identität nachdenken, etwa wenn er sich zufällig während eines Umsturzes vor Ort in Afrika befinden und vor einem neuen "Organ der öffentlichen Macht" stehen sollte, das wie ein Botaniker die Klassifizierung vornimmt: Weißer oder Farbiger, männlich oder weiblich, jung oder alt, Christ oder Jude, Europäer oder Amerikaner, Deutscher oder Franzose usw. Ein konkretes Beispiel soll dies illustrieren:

Nach einem Militärputsch in Togo an der Jahreswende 91/92 sandte die französische Regierung ein Air-France-Flugzeug, um französische Landsleute in Sicherheit zu bringen. Das putschende Militär prüfte vor Besteigen des Flugzeuges die Passagierliste und ließ einen jungen Deutschen aus Ostberlin mit dem unfranzösischen Namen Thomas Kuhlke passieren, der durch mehrfache Interventionen seiner beunruhigten Mutter beim Quai d´Orsay auf diese Liste gekommen war. Für das togolesische Militär mag dabei die fortdauernde Bedeutung Frankreichs in diesem Teil Afrikas die entscheidende Rolle gespielt haben und weniger die Mitgliedschaft Deutschlands wie Frankreichs in der EG/EU sowie die Zugehörigkeit Togos zu den 70 AKP-Staaten, die aus einer engen völkerrechtlichen Verbindung zur EU verschiedene Vorteile ziehen. Frankreich kann sich aber auch bereits als Schutzmacht für alle EU-Bürger gefühlt haben, denn nur 21 Monate später verpflichtete der Vertrag von Maastricht die EU-Staaten, allen Bürgern aus der EU diplomatischen Schutz in Drittstaaten zu gewähren (Art. 20). Die EU-Bürgerschaft bringt folglich spürbare Vorteile, denen sich allerdings die meisten Menschen erst durch Erfahrung am eigenen Leib bewußt werden.

Nationale Identität versus europäische Identität

Nationale Identität beherrscht die politische Szene, verdrängt andere Identitäten oder läßt sie nur schwer aufkommen. Mit Vorliebe wird sie unter Mißachtung der Individualität der Menschen als kollektive Identität politisch instrumentalisiert und zumindest in den nächsten Jahren gegen die EU gerichtet, denn der heutige Nationalstaat sieht sich durch die fortschreitende europäische Integration und den schleichenden Verlust an Souveränität aufgrund wachsender völkerrechtlicher Verpflichtungen - nach Habermas ist "äußere Souveränität der Staaten heute ohnehin ein Anachronismus"- infrage gestellt. In Frankreich wird diese Entwicklung z.B. von den nationalen Eliten als Angriff auf ihren Einfluß in den öffentlichen Verwaltungen gesehen. Da Sachzwängen gehorchend der EU weitere Kompetenzen trotz aller Widerstände zuwachsen werden, ist mit heftiger werdenden Angriffen und neuen fragwürdigen Entscheidungen von Verfassungsgerichten zu rechnen. Es wäre zu wünschen, daß dabei Fakten wie Logik nicht schlicht vernachlässigt werden. So ist die außerordentlich starke Stellung der Mitgliedstaaten im Verfassungssystem der EU auf Dauer angelegt und wesentlich ausgeprägter als die der Länder im Bund. Dies sollte zur Beruhigung der Gemüter ebenso beitragen wie z.B. die Aussage des früheren Präsidenten des Europäischen Parlaments Klaus Hänsch, wonach die Vertiefung der EU "niemals so weit getrieben werden dürfe, daß die Mitgliedstaaten ihre Identität als politisch-gesellschaftlich-kulturell von einander unterscheidbare Handlungsträger in der Gemeinschaft verlieren".

Staatsgewalt, Staatsgebiet und Staatsvolk der EU ?

Das Bundesverfassungsgericht bemängelt ohne Begründung das Fehlen eines europäischen Staatsvolks, deutet auch nicht an, ob es von den drei Elementen der Staatsrechtslehre der EU wenigstens Staatsgebiet und Staatsgewalt zugesteht. Staatsgewalt wird von der EU - wie für föderalistische Systeme durchaus typisch - nur zum Teil direkt, in der Regel indirekt über die nationalstaatlichen Verwaltungsstrukturen auf dem Hoheitsgebiet der Mitgliedstaaten ausgeübt, womit sich vermittelt durch die Mitgliedsstaaten zugleich das "Staatsgebiet" der EU ergibt. Amtliche wie parteipolitische nationale Stellen haben sich bisher nicht gescheut, unbequeme Entscheidungen allein "Brüssel" anzulasten und damit der EU ausdrücklich Staatsgewalt zuerkannt, um ihre eigene Mitverantwortung dahinter zu verstecken. Regelmäßig wird der Bürger zur Teilnahme an Wahlen zum Europäischen Parlament aufgefordert. Juristische und politische Beziehungen sind folglich bereits vorhanden, aber noch fehlt es an Gefühlen der Zugehörigkeit zur EU. Der Schritt von der passiven Hinnahme zur freudigen Identifizierung mit der EU muß von den meisten Bürgern noch getan werden. Sie dürften die EU überwiegend als eine Angelegenheit zwischen Staaten, aber nicht selbst als Staat ansehen. Es ist deshalb zu früh, von einem Staatsvolk der EU zu sprechen, das sich natürlich auf die deutschen, französischen, britischen usw. Völker gründen müßte. Weder die zahllosen gemeinsamen historischen, rechts- und kunstgeschichtlichen Wurzeln aller europäischen Völker noch die Notwendigkeit zur solidarischen Bewältigung der Zukunft dürften bisher ein ausreichend intensives Gefühl der Zusammengehörigkeit ausgeprägt haben, zumal juristische Bestandteile noch fehlen. Vor allem gibt es keine eigenständige "öffentliche Meinung" der EU, sondern fünfzehn nationale. Wer das Fehlen einer einheitlichen Sprache als Argument gegen eine europäische Identität ins Feld führt, ignoriert die bewährten Beispiele, die sowohl von der Schweiz (4 Sprachen), von Luxemburg (3 Sprachen) wie Finnland (2 Sprachen) gegeben werden.

Die Forderung nach Übereinstimmung von europäischem Staatsvolk und europäischer Identität ist ohnehin fragwürdig, denn sie ist auch in den westeuropäischen Staaten nicht gewährleistet. Ihre eigene Logik führten diese mit der von ihnen betriebenen Entkolonialisierung ad absurdum: Sie schufen aus ihren früheren Kolonien "Nationalstaaten" in den von ihnen gezogenen künstlichen Grenzen, so daß darin verschiedenartige Stämme mit vielen Sprachen und teilweise auch Religionen zu leben gezwungen sind. Gemeinsame Sprache ist allein diejenige der früheren Kolonialmacht. Einer der Stämme übt regelmäßig allein die Macht im Staate aus und unterdrückt zumeist die anderen, weshalb die Staatsgewalt Ruhe und Ordnung nicht mehr im gesamten Staatsgebiet garantieren kann. Stammeskriege in solchen künstlichen Nationalstaaten werden zu blutigen Bürgerkriegen, die wie im Falle Burundi, und früher in Uganda, aber auch im Sudan die Form von Genozid annehmen können. Ergebnis: die nationale Identität ist fraglich und die Einheit von Nation und Staat wird nur selten erreicht.

Staatsangehörigkeit und nationale Identität

Während Staatsangehörigkeit die rechtlichen Beziehungen einer Person in einem Staat regelt, sollen die emotionalen Beziehungen zum Staatswesen von der nationalen Identität aufgefangen und versorgt werden. Die Schere zwischen Staatsbürgerschaft und Identität schließt sich bequem für die Kinder der Einheimischen, denen mit der Geburt die Staatsbürgerschaft in den Schoß fällt; sie öffnet sich beträchtlich für legal eingewanderte Ausländer, die jahrelang um die Staatsbürgerschaft kämpfen müssen. Ein Gefühl der Zugehörigkeit will sich dann nur schwer einstellen und die Identität zum früheren Staat bleibt in greifbarer Nähe. Selbstzweifel, wirklich zur neuen nationalen Identität vorstoßen zu können, sowie die abschreckend langen Einbürgerungsverfahren mögen der Grund für die relativ wenigen Anträge auf Erwerb der Staatsbürgerschaft sein. Zweifel an der Seriosität des rechtsstaatlich-gründlichen Prüfungssystems verstärkte die Sofortgewährung der deutschen Staatsbürgerschaft an einen gerade erst nach Deutschland hereingeholten sehr jungen ausländischen Fußballer beim FC Karlsruhe, zumal dieses "Patent" dem Bundesaußenminister und Fan vom FC Karlsruhe zum 60. Geburtstag geschenkt wurde.

Offene "Heim-ins-Reich"-Parolen und im Ausland tätige Fünfte Kolonnen westeuropäischer Staaten gehören zwar der Vergangenheit an, aber Spuren sind noch immer in den politischen Kulturen lebendig. Typische Auswandererstaaten würden noch gern ihr Staatsvolk vergrößern oder zumindest Unterstützung in vielfältiger Weise von "ihren" Auslandsbürgern einfordern. Griechenland (10 Mio Einwohner, aber 4 Mio Griechen im Ausland), Spanien mit der Gewährung seiner Staatsbürgerschaft an Bürger südamerikanischer Staaten und Irland als berühmtes Auswanderungsland sind hierfür Beispiel. Die prononcierte Pflege der Bindungen an das Heimatland fordert eine Loyalität ein, welche diese Auslandsbürger längst dem neuen Staat schulden. Die Bindungen an die ursprüngliche Heimat haben sich gelockert und zeigen sich nur noch, wenn bei Naturkatastrophen spontan Hilfe geleistet wird. Von einer nationalen Identität kann kaum mehr gesprochen werden.

Auch Veränderungen auf der subnationalen Ebene verändern die nationale Identität. Bei weiterem Vormarsch regional-landsmannschaftlicher Elemente dürfte sich die regionale Identität zu Lasten der nationalen verstärken. Dabei unterscheiden sich Regionen mit ausgeprägten historisch-kulturellen Eigenheit (etwa Bayern, Hamburg, Bremen) von solchen, die sich in der Industriegeschichte zuerst als geschichtsloses Konglomerat von Menschen aus verschiedenen Regionen/Nationen (etwa Ruhrgebiet) herausgebildet haben. Die Labourregierung macht nun den Weg frei zu regionalen Parlamenten in Schottland und Wales. Der bisher im schnellen Aufstieg begriffene Ausschuß der Regionen der EU könnte sich auch zu einem Kristallisationspunkt von Identitätsansprüchen gegenüber europäischer wie nationaler Identität entwickeln.

Nation oder Staat

Der "Brite" Anthony Barnett verblüfft mit der Differenzierung, daß die britische Identität vor allem von "Engländern" behauptet wird, während Walliser und Schotten an der europäischen Identität zunehmend Geschmack fänden, weil diese sie in ihrem Empfinden, sie selbst, nämlich Walliser oder Schotten, zu sein, bestärken würde. Auch bei deutscher Identität muß gefragt werden, auf welche Einheit sie ausgerichtet ist: auf die deutsche Nation oder auf den Staat Bundesrepublik Deutschland?

Ist der Staat gemeint, ergibt sich eine automatische Verknüpfung mit dem Staatsvolk, das sich aus den Staatsbürgern zusammensetzt, denen allein die Verfassungen unserer Nationalstaaten wichtige politische Rechte einräumen, nicht dagegen den "Menschen" an sich, denen allerdings inzwischen allgemeine Grund- und Menschenrechte zuerkannt werden. Würde die deutsche Identität auf das gegenwärtige Staatsvolk begrenzt, so könnten z.B. die deutschen Volkszugehörigen in den Weiten der ehemaligen Sowjetunion diese erst mit der formellen Einbürgerung erlangen. Identität ist jedoch nicht an die Staatsbürgerschaft gebunden und kann unterschiedlich intensiv ausfallen. Man vergleiche den in der Bundesrepublik geborenen und aufgewachsenen jungen Türken und den jungen Kasachen aus einer deutschstämmigen Familie, wenn beide die deutsche Staatsbürgerschaft erhalten. In ihrem Innern liegen zwei nationale Identitäten im Wettbewerb wenn nicht gar im Streit miteinander. Der junge Türke dürfte besser deutsch können und sehr viele positive wie negative Erfahrungen bereits mit Deutschland gemacht haben, während den jungen Mann aus Kasachstan bisher vor allem Träume und Hoffnungen und vielleicht die Erzählungen seiner Großmutter beeinflußt haben dürften.

Die deutsche Einheit lieferte einen deutlichen Beweis, daß mit der Staatsbürgerschaft nicht zugleich die bundesrepublikanische Identität erworben wurde, als die DDR-Staatsbürgerschaft zugunsten derjenigen der Bundesrepublik Deutschland einfach durch hoheitlichen Akt beseitigt wurde. Es ist an der Zeit zu fragen, ob die früheren Bürger der DDR die bundesrepublikanische Staatsbürgerschaft mit ihren neuen Rechten und Pflichten für sich persönlich akzeptieren. Die meisten werden dies tun. Ob aus vollem Herzen, werden sie nicht offenbaren. Andere trauern aufgrund ihrer veränderten sozialen, wirtschaftlichen und gesellschaftlichen Situation verflossenen DDR-Zeiten nach. Deutliches Indiz für die fehlende neue Identität war die zögernde Abholung des neuen Passes, als die letzte Geltungsfrist des DDR-Passes Ende 1996 ablief. Nach einer jährlich durchgeführten Untersuchung der Universität Münster fühlen sich die früheren DDR-Bürger mehrheitlich noch immer als Bürger zweiter Klasse in der Bundesrepublik was den Grad ihrer Identität bestimmen dürfte. Auch bei den Saarländern ist 30 Jahre nach der Eingliederung noch Distanz heraus zu hören, wenn sie vom "Reich" sprechen.

Würde dagegen die "deutsche Nation" als Einheit für die Identität genommen, würden sich auch diese "anderen" Bürger der DDR zu dieser nationalen Identität bekennen, denn als Deutsche haben sie sich auch bei inniger Verbundenheit mit dem sozialistischen Lager immer gefühlt. Der niederländische Schriftsteller Cees Nooteboom sah im November 1989 viele Hunderte von Trabis zum "urdeutschen" Hermannsdenkmal bei Detmold pilgern.

Dagegen würde die Loslösung vom Staatsvolk Probleme anderer Art hervorrufen: der organisatorisch-staatliche Rahmen der Bundesrepublik Deutschland würde mit der Anknüpfung an einen ethnologischen Volksbegriff - gestützt auf sprachliche, kulturelle und historische Gemeinsamkeiten - gesprengt. Gewönne etwa die Benützung der deutschen Sprache herausragende Bedeutung, kämen Österreich, Südtirol, Memelland, Eupen-Malmedy usw. ins Blickfeld. Eine solche Auslegung der deutschen Identität paßt aus mindestens zwei Gründen nicht mehr in diese Zeit: europäische Integration und KSZE verhindern in unseren Breiten, daß wegen angeblicher nationaler Identitäten gewaltsame Folgerungen zum Nachteil des territorialen Besitzstandes von Nationalstaaten gezogen werden. Zum anderen lassen sich die Menschen eine nationale Identität nicht mehr aufoktroyieren. Sie üben z.B. in Südtirol mühsam errungene Autonomierechte aus, die den Wechsel in einen anderen Nationalstaatsverband überflüssig machen, zumal sich über alle ein zunehmend dichter werdendes einheitliches Netz von EU-Normen wölbt. Die europäische Integration trägt auf diese Weise zur wirksamen Entschärfung der Minderheitenprobleme bei. Nationale Identität verliert ohnehin an Intensität, sobald der Nationalstaat in eine größere Staatenorganisation eingebettet ist und sich nicht mehr allein gegen Feinde behaupten muß.

Nationale Staatsbürgerschaft und Unionsbürgerschaft

Einmal embryonal ins Leben gerufen, wird die Unionsbürgerschaft weiter Gestalt annehmen und von jedem neuen Vertrag mit weiteren Rechten ausgestattet werden, welche die Grundrechte der Mitgliedstaaten und der Europäischen Konvention zum Schutze der Menschenrechte und Grundfreiheiten von 1950 ergänzen. Solange keine wirklich originären Rechte hinzukommen und eine Staatsbürgerschaft der EU formell eröffnet wird, wird die nationale Bedeutung behalten. Anders verhält es sich mit den Identitäten. Sie können einander überlagern und "ersetzen" im Sinne von ablösen, aber auch neben einander bestehen bleiben, was z.B. für nationale und europäische Identität gelten würde. Die europäische Identität wird sich vermutlich parallel zur Unionsbürgerschaft schneller und kräftiger entwickeln als zur Zeit vorauszusehen ist. Fairness sollte gebieten, bei der wissenschaftlichen Bewertung dieser Entwicklung keine strengeren Kriterien aufzustellen als sie für die nationale Identität üblich sind.

Die Präambeln der drei Gründungsverträge der Europäischen Gemeinschaft sowie des EU-Vertrages wenden sich an die Völker, ohne dies deutlich auf das jeweilige Staatsvolk einzuschränken. Für Irritationen könnte die Kernaussage über das Europäische Parlament im Artikel 189 EGV sorgen: "Das Europäische Parlament besteht aus Vertretern der Völker der in der Gemeinschaft zusammengeschlossenen Staaten", womit sowohl auf die Unabhängigkeit dieser Volksvertreter von der jeweiligen Regierung wie auf ihre generelle Verpflichtung gegenüber dem eigenen Staatsvolk abgestellt sein könnte. Dies muß "europäischer" bewertet werden, spätestens seitdem der Vertrag von Maastricht den EU-Bürgern an ihrem jeweiligen Wohnsitz ein aktives und passives Wahlrecht zum Europäischen Parlament gab, so daß sie ihre Stimme auch für Kandidaten aus anderen Mitgliedstaaten abgeben können. Zum jeweiligen wahlberechtigten Staatsvolk gesellen sich nunmehr bei Kommunalwahlen wie EP–Wahlen EU-Bürger aus anderen Mitgliedstaaten, was die Tür zum Entstehen eines europäischen Staatsvolkes weiter aufstößt, ohne die nationale Staatsbürgerschaft einzuschränken.

Auf dem Weg zur europäischen Identität

Eine gesamteuropäische Identität, genährt vom Stolz auf Hervorbringungen der europäischen Kultur und in Abgrenzung zu Asien, Afrika und Amerika ist sicherlich schon jetzt vorhanden, wenn auch nur schwach ausgeprägt. Sie steht hinter der nationalen Identität deutlich zurück. Europäische Identität begrenzt auf die EU ist ebenfalls möglich und nimmt mit der anlaufenden Osterweiterung die gesamteuropäische Identität in sich auf. Verweisungen allein auf historische, kulturelle und anderen Gemeinsamkeiten aus der europäischen Geschichte reichen aber zur Begründung dieser europäischen Identität nicht aus. Man kann das europäische Individuum nicht zwingen, nun endlich zu seiner europäischen Identität zu finden. Sie bildet sich heraus, sobald die EU bewußt als Einheit wahrgenommen wird, die mittelbar und unmittelbar das Leben des Einzelnen beeinflußt. Auch muß die Handlungsfähigkeit der EU auf internationalem Parkett zunehmen und zu Erfolgen wie Niederlagen führen, mit denen sich der Bürger leidend oder stolz identifizieren kann.

EU-Identität verspüren schon jetzt außer europäischen Beamten solche der nationalen Regierungen und anderer Verwaltungen, die mit der EU zu tun haben und sich zum europäischen Einigungswerk bekennen. Zu ihnen gesellt sich das Heer der Journalisten, der Lobbyisten und der Mitglieder der europäischen Bewegungen in den verschiedenen Mitgliedstaaten. Von Jahr zu Jahr nimmt auch die Masse derjenigen zu, die aus beruflichen oder privaten Gründen EU-Binnengrenzen regelmäßig überschreiten oder im EU–Ausland leben. Diese "Praktiker der EU" machen als Pendler, Unternehmer, Händler, Handwerker, Rentner, Studenten usw. von Freizügigkeit und Niederlassungsfreiheit der EU Gebrauch. Den Weg zur europäischen Identität finden auch die vielen, die "gemischte" Ehen oder Verbindungen jenseits der nationalen Grenzen eingegangen sind. Dennoch: konservativ eingestellte Menschen werden das Verblassen der nationalen Identität betrauern; rechtsradikale Menschen den Aufstieg der europäischen Identität strikt ablehnen.

Meinungsumfragen, offizielle Referenden und die Teilnahme an Wahlen zum Europäischen Parlament offenbaren in den Mitgliedstaaten nicht nur Ablehnung und viel Skepsis, sondern auch in sehr differenziertem Maße Zustimmung zur europäischen Integration, wobei leidvolle Erfahrungen aus der europäischen Geschichte eine Rolle spielen dürften. Bei der letzten Umfrage von Eurobarometer fühlten sich 51% der Befragten aus der EU-15 in einem gewissen Grade als Europäer und nicht nur als nationale Staatsbürger, wobei nationale Trends sehr konstant bleiben. Weit über den EU–Durchschnitt liegt Luxemburg, wo bei sieben von zehn Bewohnern die europäische Zugehörigkeit vor der nationalen rangierte. Ihnen folgen Franzosen, Italiener, Spanier, Niederländer, während die Staaten unter dem EU–Durchschnitt von Schweden, Griechenland, Großbritannien angeführt werden. In Irland halten sich inzwischen nationale und europäische Identität die Waage, weil der irische Unabhängigkeitskampf gegen England unter anderem dadurch vollendet werde, "daß die irische Identität durch Europa bestätigt und gefestigt wurde, ein Prozeß, der Irland aus einer jahrzehntelangen Gefangenschaft eines nach innen blickenden Nationalismus befreit hat". Überhaupt hört man weniger Widerspruch von den kleineren Staaten gegen die europäische Identität, weil sie sich europäische Einheit nicht anders als in nationaler Vielfalt vorstellen können, während den größeren Staaten unter europäischer Einheit insgeheim noch immer die bloße Verlängerung ihrer eigenen Nation vorschwebt.

Eine Variante zu dieser Denkweise bietet Schmierer. Danach "müssen alle Versuche, das staatliche Vereinigungsprojekt aus einer behaupteten "europäischen Identität" zu begründen ebenso mißlingen wie die umgekehrten Versuche, eine europäische Identität aus der Union der Staaten abzuleiten, die sich nach und nach bildet ... ", denn Europa habe nie ein eigenes Reich gebildet. Wird hier Europa seine Vielfalt als ein Gebrechen angelastet, das eine handlungsfähige staatsähnliche politische Struktur für immer auschließt? Beweist nicht der jetzige Stand der EU, daß europäische Staaten aus den Fehlern der Vergangenheit lernen und für sich eine würdige Zukunft im Zusammengehen und -wachsen mit anderen Staaten erblicken können? Unsere Nationalstaaten waren ebenfalls nicht plötzlich da, sondern haben sich schrittweise entwickelt und in ihrem Besitzstand häufig verändert.


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