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Politik und Gesellschaft Online
International Politics and Society 4/1998
Wilfried Buchta:
Die iranische Schia und die islamische Einheit 1979-1996
Hamburg 1997
Deutsches Orient-Institut, 427 S.

Vorläufige Fassung / Preliminary version

Fast zwanzig Jahre nach dem Sturz des Schah-Regimes durch die von Ayatollah Khomeini angeführte "Islamische Revolution" und neun Jahre nach dem Tode ihres charismatischen Führers ist die Islamische Republik Iran innerhalb der internationalen Staatengemeinschaft noch immer weitgehend politisch isoliert und geächtet. Dabei hat der Iran aufgrund seiner geostrategischen Lage, seiner Bevölkerung und seiner ökonomischen Ressourcen durchaus das Potential - und auch die Ambitionen -, zur wichtigsten Regionalmacht im Mittleren Osten zu werden. Doch noch immer haftet dem Iran das Stigma des revolutionären Außenseiters an, der nicht nur unberechenbar ist, sondern auch vor der Mißachtung internationaler Normen und Konventionen nicht zurückschreckt.

Einer der Gründe für das anhaltende Mißtrauen in der westlichen wie auch der islamischen Welt ist die von der iranischen Staatsführung mit unvermindert revolutionärer Rhetorik propagierte Ideologie der islamischen Einheit, die die Außenpolitik Irans als doppelbödig und unglaubwürdig erscheinen läßt. Denn obwohl der Iran sich seit dem Tode Khomeinis 1989 um eine Normalisierung der politischen und wirtschaftlichen Beziehungen zum Westen und zur islamischen Welt bemüht, und obwohl er das seinerzeit von Khomeini unter dem Schlagwort der islamischen Einheit propagierte Ziel eines auf die Umwälzung der islamischen Staatenordnung gerichteten "islamischen Internationalismus" de facto längst aufgegeben und der Verfolgung eigener nationalstaatlicher Interessen untergeordnet hat - der Nachfolger Khomeinis, Ayatollah Khamenei, verkündete sogar im April 1993 ausdrücklich den endgültigen Verzicht auf den "Export der Revolution" als Bestandteil iranischer Politik -, wird die offizielle iranische Propaganda nicht müde, den angeblich überkonfessionellen Modellcharakter der islamischen Revolution zu betonen, um ihren Führungsanspruch über alle Muslime der Welt zu legitimieren.

Die Idee der islamischen Einheit, ihre Entstehung in der Ära Khomeini und ihre Wandlungen in den Jahren zwischen 1979 und 1996 sind Gegenstand der umfangreichen und ungemein faktenreichen Studie von Wilfried Buchta. Um es vorweg zu sagen: Es dürfte in der neueren deutschsprachigen Literatur über den Iran keine Veröffentlichung geben, die es in bezug auf Insiderinformationen und die Verwendung von Originalquellen mit der Arbeit Buchtas aufnehmen kann. Als Islamwissenschaftler und Politologe bringt der Autor geradezu ideale Voraussetzungen mit, die ihn befähigten, die Methoden der Religionswissenschaft mit denen der empirischen Sozialforschung zu verbinden. Seine Sprachkenntnisse eröffneten ihm den Zugang zu einer Fülle von Originalliteratur und unveröffentlichten Dokumenten, vor allem in persischer Sprache, die westlichen Sozialwissenschaftlern in der Regel aufgrund der Sprachbarriere verschlossen bzw. allenfalls in Übersetzungen zugänglich sind. Darüber hinaus führte der Autor während zweier jeweils mehrmonatiger Iran-Aufenthalte in den Jahren 1993 und 1994 zahlreiche Interviews mit führenden Vertretern aller heute im Iran relevanten politischen, kulturellen und religiösen Strömungen und Richtungen, darunter auch mit Systemkritikern, wie dem Philosophen Abdul Karim Sorush und Vertretern der Gruppe quietistischer Kleriker, die die politische Herrschaft der Geistlichen grundsätzlich ablehnen.

Buchta geht bei seinen Ausführungen von fünf Hauptthesen aus (S. 45-47), die von den Ergebnissen der Untersuchung im wesentlichen bestätigt werden und in gekürzter Form wie folgt lauten:

  1. Die von der Teheraner Führung propagierte Idee der Einheit der Muslime ist ein ideologisches Schlagwort aus der Frühphase der Revolution, die aber bei der Mehrheit der iranischen Geistlichkeit wie auch der Masse der Gläubigen bis heute kaum Resonanz gefunden hat.
  2. Khomeinis islamische Einheitsidee ist bis heute ein unverzichtbarer Kernbestandteil der Revolutionsideologie der iranischen Führung, für die es aus Gründen der ideologischen Legitimierung nach innen wie nach außen keinen Ersatz gibt; sie kann daher nur abgeschwächt oder modifiziert, aber nicht aufgegeben werden.
  3. Die Einheitspolitik Irans unter Khomeini stand unter streng ideologisch-politischen Vorzeichen. Die - für eine wirkliche Einheit unverzichtbare - theologische Annäherung zwischen Sunniten und Schiiten wurde von Khomeini weder verbal noch institutionell gefördert. Sein Nachfolger Khamenei dagegen setzt - unter Beibehaltung des ideologischen Führungsanspruchs Irans - stärker ökumenische Akzente, mit dem Ziel, die weitgehende Isolierung des schiitischen Iran auf internationaler Ebene, vor allem aber auf der Ebene supranationaler islamischer Organisationen, zu durchbrechen.
  4. Hinter dem rhetorischen Bekenntnis zur islamischen Einheit hat sich in der Praxis eine weitgehende "Schiitisierung" der islamischen Revolution vollzogen, die sich unter anderem in der verfassungsmäßigen Verankerung der Schia als einziger Staatsreligion, der Monopolisierung aller Machtpositionen in den Händen von Schiiten und der sozialen und politischen Diskriminierung der nicht unbedeutenden sunnitischen Minderheiten, vor allem der Kurden und Belutschen, manife-stiert. Die Folge sind zunehmend gewaltsame religiöse Konflikte zwischen Sunniten und Schiiten, die ein beträchtliches Gefahrenpotential für die territoriale Integrität Irans darstellen.
  5. Seit dem Tode Khomeinis ist eine öffentliche Diskussion über die Idee der islamischen Einheit in Gang gekommen. Während jedoch die pragmatischen Kräfte in der iranischen Führung sich um eine Befreiung aus dem "schiitischen Ghetto" bemühen, werden diese Bemühungen durch die Forderung traditionalistischer Kreise nach der Zentralisierung aller Schiiten der Welt unter iranischer Führung behindert.

In seinem Resümee kommt Buchta zu dem Schluß, daß der islamische Internationalismus Khomeinischer Prägung faktisch gescheitert ist, und daß der Iran sich durch seine Politik der Schiitisierung - der Islamischen Revolution nach außen und von Staat und Gesellschaft nach innen - in eine Sackgasse - das genannte "schiitische Ghetto" - manövriert hat, aus dem herauszukommen nur durch den Verzicht auf die revolutionäre Rhetorik auf internationalem Parkett einerseits und die Gewährung gleicher Rechte für die sunnitischen Minderheiten im eigenen Lande andererseits möglich erscheint. Dies aber würde das gesamte System der schiitischen Klerikalherrschaft in Frage stellen und müßte angesichts der gegebenen Machtverhältnisse zwangsläufig zu schweren inneren Auseinandersetzungen führen.

Buchtas Studie ist eine anspruchsvolle - weil ein gewisses Maß an Vorkenntnissen voraussetzende -, aber von der ersten bis zur letzten Seite spannende Lektüre. Dabei wird sich der islamwissenschaftlich nicht vorgebildete Leser wohl nicht so sehr für die zuweilen ans Absurde grenzenden theologischen Differenzen zwischen Sunniten und Schiiten interessieren, deren detaillierte und anschauliche Darstellung allerdings auch deutlich macht, warum eine theologische Annäherung der beiden Konfessionen so ungemein schwierig - und im Grunde genommen auch von beiden Seiten gar nicht gewollt - ist.

Das eigentliche Verdienst der Studie liegt aber auch weniger auf dem islamwissenschaftlichen Gebiet als vielmehr in ihrem politisch-sozialwissenschaftlichen Aspekt. Hier betritt der Autor echtes Neuland, und hier kommen seine Insiderinformationen voll zum Tragen. Buchta bietet eine ungemein detaillierte und tiefgehende Analyse und Bewertung der divergierenden ideologischen Strömungen und Fraktionen in der iranischen Geistlichkeit einerseits und der für einen Außenstehenden verwirrenden und kaum durchschaubaren Macht- und Herrschaftsstrukturen andererseits. Auf diese Weise entsteht ein komplexes Bild der ideologischen Konflikte innerhalb der herrschenden Klasse und zwischen ihr und den außerhalb der Regierung stehenden Regimekritikern, aber auch der hinter den Fraktionen stehenden und sie stützenden Machtzentren.

Es würde hier zu weit führen, auf Einzelheiten einzugehen. Nur so viel sei gesagt, daß das politische System des Iran von einer Vielzahl multipolarer religiöser und nicht-religiöser, formeller und informeller Machtzentren geprägt ist, die meist heftig miteinander konkurrieren und sich deshalb häufig gegenseitig blockieren. Das stärkste Machtzentrum ist die von Khomeini geschaffene, auf seine eigene Person zugeschnittene Institution des vali-ye faqih, des "herrschenden Rechtsgelehrten" und Revolutionsführers, der allen staatlichen Organen, einschließlich des Amts des Staatspräsidenten, übergeordnet ist. Revolutionsführer und Staatspräsident bilden zwar eine "bipolare" Führungsspitze, in der beide zur Zusammenarbeit verurteilt sind; doch kann der Staatspräsident keine Entscheidung gegen den Willen des Revolutionsführers treffen. Diese dualistische Machtstruktur hat sich auf allen Ebenen der staatlichen Hierarchie etabliert, wobei das jeweilige islamisch-revolutionäre Machtzentrum die Aufgabe hat, das parallele staatliche Machtzentrum zu kontrollieren.

Wie wird es im Iran weitergehen? Die überraschende Wahl des liberal-gemäßigten Theologen Sayid Mohammad Khatami zum Staatspräsidenten im Mai 1997 mit fast 70 % der Stimmen war ein klares Signal, daß die Mehrheit der Bevölkerung, vor allem aber die Frauen und die junge Generation, der Bevormundung von Staat und Gesellschaft durch die "Mullahkratie" überdrüssig ist und eine Liberalisierung des Systems, vor allem politische, wirtschaftliche und soziale Reformen einfordert. Damit hat Khatami eine ungemein schwierige Aufgabe übernommen, die, wenn er sie ernst nimmt, unweigerlich zu Konflikten mit den traditionalistisch-revolutionären Machtzentren führen muß, wie erst kürzlich die Auseinandersetzung um den populären Bürgermeister von Teheran und Khatami-Vertrauten, Gholamhossein Karbaschi, gezeigt hat.

Buchta gibt in seiner Studie keine explizite Prognose ab. Er zeigt jedoch eine Reihe systemimmanenter Konfliktfelder auf, die auf längere Sicht zu einer Eskalation führen können. Ein wesentliches Konfliktfeld sieht er in dem grundsätzlichen Antagonismus zwischen den Parallelstrukturen der islamischen Revolution und des republikanischen Staates; eine dauerhafte Koexistenz aller dieser Machtzentren hält er für eher fraglich. Schon von jeher umstritten ist die Institution der velayat-e faqih, der "Herrschaft des Rechtsgelehrten", die die Vereinigung der obersten politischen und religiösen Autorität in der Hand eines obersten schiitischen Rechtsgelehrten - der über der Verfassung und der Volkssouveränität steht und seine Legitimation allein von Gott ableitet - bedeutet. Diese von Khomeini durchgesetzte und in der Verfassung verankerte Konstruktion stellte seinerzeit eine revolutionäre Neuerung dar, für die es auch in der schiitischen Welt kein Beispiel gibt. Sie wird daher - zumindest in dieser Form - von einem Großteil der schiitischen Geistlichkeit abgelehnt.

Hinzu kommt, daß der Revolutionsführer Khamenei, anders als Khomeini, nicht die Würden eines Groß-Ayatollahs und eines mardja-e taqlid ("Quelle der Nachahmung") besitzt. Er wird daher von den Groß-Ayatollahs nicht als religiöse Autorität akzeptiert, mit der Folge, daß im Prinzip jeder Groß-Ayatollah, der auch den Rang des mardja hat, die von Khamenei erlassenen politisch-religiösen Direktiven (fatwas) außer Kraft setzen könnte. Würde dies nur ein einziges Mal geschehen - bisher war dies nicht der Fall -, so würde es die Stellung Khameneis nachhaltig erschüttern und damit auch die Institution der velayat-e faqih ernsthaft in Frage stellen.

In diesem Lichte - zumal die Mehrheit der Groß-Ayatollahs ohnehin die Ausübung weltlicher Herrschaft durch Geistliche ablehnt - erscheint es durchaus vorstellbar, daß die velayat-e faqih obsolet wird, wenn eines Tages die Nachfolge Khameneis ansteht. So vertritt der ehemalige Außenminister und stellvertretende Ministerpräsident Ebrahim Yazdi, der sich von einem Anhänger Khomeinis zu einem Kritiker des Systems gewandelt hat, in einem von Buchta geführten Interview die Ansicht, daß das auf den Charismatiker Khomeini zugeschnittene Modell der velayat-e faqih ein "Auslaufmodell" sei. Da es keinen geeigneten Nachfolger für Khomeini gebe, habe es weder innerhalb noch außerhalb Irans eine Zukunft (S. 220).

Einen gewaltsamen Umsturz im Iran, sei es von innen oder von außen, hält Buchta, wie er an anderer Stelle ausführt, für wenig wahrscheinlich, da das Regime noch immer über eine gewisse soziale Basis verfüge und ein erheblicher Teil der Bevölkerung direkt oder indirekt aus dem System Nutzen ziehe und ihm daher loyal sei. Er kommt deshalb zu dem Schluß, daß eine Reform des Regimes nur aus dem Regime heraus, also auf evolutionärem Wege, erfolgen könne. Der neue Staatspräsident Khatami scheint entschlossen zu sein, diese Veränderungen auf den Weg zu bringen. Wieweit er damit Erfolg haben wird, bleibt abzuwarten; der Unterstützung der Mehrheit des iranischen Volkes kann er sich jedenfalls sicher sein.

Ob es allerdings dem Iran in absehbarer Zeit gelingen kann, aus dem "schiitischen Ghetto" auszubrechen und verlorenes Vertrauen und Einfluß in der sunnitisch-islamischen Welt zurückzugewinnen, scheint - so Buchta - mehr als fraglich.

Horst Büscher
Wesseling
(verstorben im Juli 1998)


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