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Kommissionschef Juncker fordert ein "Triple-AAA" für das Soziale Europa. Nun hat die Kommission einen Entwurf für eine „europäische Säule sozialer Rechte“ vorgelegt. Was ist jetzt zu tun?
Bild: kein Titel von Eflon lizenziert unter CC BY 2.0
Endlich! Die EU-Kommission entdeckt die soziale Dimension der EU neu. Nach Jahren der Krisenpolitik, Banken- und Staatsrettung ist klar: Nur ein soziales Europa hat eine Zukunft. Die EU-Kommission schlägt nun eine Europäische Säule sozialer Rechte vorund eröffnet gleichzeitig ein öffentliches Konsultationsverfahren. Experten der Friedrich-Ebert-Stiftung, der Hans-Böckler-Stiftung und der Stiftung Wissenschaft und Politik haben sich die Vorschläge genauer angesehen. Ihr Fazit: Der Entwurf der Kommission enthält viele unverbindliche und altbekannte Rezepte, es gibt jedoch auch einige vielversprechende Vorschläge zum Beispiel für verbindliche Mindeststandards bei der sozialen Mindestsicherung, Arbeitslosenhilfe und Mindestlohn. Die Experten empfehlenan die Tradition der sozialpolitischen Aktionsprogramme anzuknüpfen und rechtlich verbindliche Maßnahmen zu beschließen. Notfalls auch in einem kleinen Kreis williger Mitgliedstaaten.
Der Vorschlag der Kommission ist grundsätzlich zu begrüßen. Der europäische Binnenmarkt und die Währungsunion haben weitreichende Auswirkungen auf nationale Arbeitsmärkte und Wohlfahrtsstaaten. Die soziale Divergenz, insbesondere zwischen den Mitgliedstaaten im Euro-Raum, hat im Zuge der Eurokrise erheblich zugenommen. Die soziale Dimension der EU sollte deshalb nachhaltig gestärkt werden.
Die europäische Sozialpolitik ist für den europäischen Integrationsprozess konstitutiv. Ohne den Ausbau der sozialen Integration wird eine weitere Vertiefung der ökonomischen Integration keine politische Legitimation erhalten; es droht im Gegenteil, dass der bislang erreichte Integrationsstand massiv in Frage gestellt wird. Das in Art. 3 des EU-Vertrags (EUV) postulierte Ziel der Schaffung einer sozialen Marktwirtschaft ist das Leitbild des europäischen Einigungsprozesses. Neben der Stabilisierung und Vertiefung der Wirtschafts und Währungsunion gehört der Einstieg in eine europäische Sozialunion deshalb zu den strategischen Zielen und Schwerpunkten der EU.
Die Entwicklung und Konkretisierung eines Sockels der sozialen Rechte in der EU und ihren Mitgliedstaaten wird ein bedeutender Schritt auf diesem Weg zur Förderung und Festigung der sozialen Konvergenz in der EU und der Eurozone darstellen. Eine europäische Sozialpolitik wird die nationalen Sozialstaaten nicht ersetzen können. Aber sie sollte und kann versuchen, anspruchsvolle europäische Mindeststandards zu definieren und zugleich die bestehenden nationalen Sozialschutzsysteme zu stärken.
Um sicher zu stellen, dass die Debatte um eine „europäische Säule sozialer Rechte“ diesoziale Dimension der EU tatsächlich und substantiell voranbringt, sollte sie – ähnlich wie bei der Gemeinschaftscharta der sozialen Grundrechte von 1989 – in ein vorwärtsweisendes sozialpolitisches Aktionsprogramm mit konkreten Maßnahmen und Projekten münden. Im Ergebnis sollte dieses Aktionsprogramm zu einem rechtlich verbindlichen europäischen Kanon sozialer Rahmen- und Mindestbestimmungen führen. Eine unverbindliche Handreichung mit Empfehlungen, wie der gemeinsame Bestand der sozialen Grundrechte und ein sozialpolitischer Mindestschutz aussehen sollte, wird nicht ausreichen.
i) Fokus auf konkrete und effektive Maßnahmen: Viele der Grundsätze sind, wie für die europäische Sozialpolitik charakteristisch, ambivalent und unverbindlich. Wir empfehlen den Fokus auf jene Grundsätze zu legen, die eine signifikante, marktkorrigierende Wirkung entfalten können. Einheitliche Strukturen, die dem gemeinsamen Verständnis sozialer Sicherheit in der EU entspringen, sollten die Sicherung gegenüber Lebensrisiken (Krankheit, Invalidität), eine angemessene Grundsicherung des Lebensstandards (Mindestsicherung, Arbeitslosenhilfe, Rente)und ein angenähertes Angebot sozialer Dienste (Kinderbetreuung, Pflege) beinhalten. Besonders problematisch ist der Bezug auf das Flexicurity-Konzept, das sich in der Vergangenheit allzu oft als Chiffre für den bloßen Abbau von Arbeitnehmerrechten erwiesen hat. Positiv hervorzuheben sind die Grundsätze zu „Mindesteinkommen“ und „Arbeitslosenleistungen“ sowie die Gleichbehandlung am Arbeitsplatz.
ii) Mindeststandards für nationale Systeme der sozialen Sicherung: Eine europäische Säule sozialer Rechte muss ein System der sozialen Sicherheit aufzeigen. Dazu sollten die Elemente eines Mindestschutzes fundamentaler Sozialleistungen gemeinschaftlich definiert werden. Für europäische Mindeststandards für nationale Systeme der Mindestsicherung, die zum Beispiel in Form einer Rahmenrichtlinie umgesetzt werden könneniii, besteht mit den Artikeln 151 und 153 AEUV eine fundierte rechtliche Grundlage. Diese Zusammenstellung eines europäischen sozialpolitischen Sockels auf hohem Niveau muss dann auch die Entwicklung und Definition gemeinsamer Indikatoren für diese Sozialleistungen beinhalten. Eine rechtlich verbindliche Richtlinie würde die Reform nationaler Sozialsysteme nach modernen Kriterien beschleunigen und würde zu einem sozialpolitischen Ausgleich nicht nur innerhalb der Währungsunion beitragen. Es muss dabei um relative Mindeststandards handeln, nationale Unterschiede der Sozialstaaten blieben bestehen.
iii) Entwicklung einer europäischen Mindestlohnpolitik, die sicherstellt, dass überall in Europa die Mindestlöhne tatsächlich „Living Wages“ sind, die eine angemessene soziale Teilhabe ermöglichen. Eine europäische Mindestlohnpolitik sollte sich in die bestehenden nationalen Tarifvertragssysteme einfügen. Das Mindestlohnniveau sollte ein angemessenes Einkommen garantieren. Alle EU-Staaten sollten sich verpflichten ihr Mindestlohnniveau sukzessive auf mindestens 55 bis 60 Prozent des jeweiligen nationalen Medianlohns anzuheben.
iv) Soziale Dimension des europäischen Semesters: Die Mitgliedstaaten sind in erster Linie für die Ausgestaltung der Systeme der sozialen Sicherheit verantwortlich. Aber ebenso wie eine engere wirtschaftspolitische Kooperation insbesondere in der Eurozone immer dringlicher wird, muss auch die Konvergenz der europäischen Sozialstandards enger und intensiver koordiniert werden. Die in dem sozialen Kanon fixierten sozialpolitischen Rechte und Grundsätze könnten zur Grundlage einer sozialpolitischen Koordinierung im Rahmen des europäischen Semesters werden und zum Maßstab für sozialpolitische länderspezifische Empfehlungen derEuropäischen Kommission.
v) Offenheit für alle Mitgliedstaaten: Die Kommission adressiert ihren Vorschlag füreine Säule sozialer Rechte zunächst an die Mitglieder der Eurozone. Grundsätzlich sollte diese Säule jedoch für alle Mitglieder im europäischen Binnenmarkt verbindlich werden. Deshalb sollte zugleich mit der Verabschiedung des sozialpolitischen Mindestkanons der Eurozone auch Initiativen gestartet werden, um die „Pre-Ins“ der Eurozone an diese sich etablierende Sozialunion heranzuführen. Die ESI-Fonds der europäischen Kohäsionspolitik sollten für diese sozialpolitische Heranführungsstrategie genutzt werden.
vi) Verfahren der verstärkten Zusammenarbeit: Dessen ungeachtet bleibt im Rahmen der 28 bzw. 27 Mitgliedstaaten, aber auch im Rahmen der 19 Mitgliedstaaten der Währungsunion, eine Einigung im Bereich der Sozialpolitik aufgrund von strukturellen Unterschieden nationaler Produktionssysteme schwierig. Für die ersten Schritte auf dem Weg zu einer Sozialunion könnte auf das vorhandene Instrument der verstärkten Zusammenarbeit zurückgegriffen werden. Es empfiehlt sich insbesondere das Verfahren zur verstärkten Zusammenarbeit, wonach eine Gruppe von neun Mitgliedstaaten nach Annahme eines Vorschlags des Ministerrats durch die Kommission und nach Ermächtigung durch den Rat, die in der Regel mit qualifizierter Mehrheit erteilt wird, auch im sozialpolitischen Bereich zur Anwendung zu bringen (siehe dazu Artikel 326-34 AEUV).
vii) Einbindung der Sozialpartner und Erneuerung des Sozialen Dialogs: In den gesamten Prozess der Erarbeitung der sozialpolitischen Säule, die Definition des Mindestsockels sowie der geeigneten Indikatoren und Strukturen müssen die europäischen und die nationalen Sozialpartner eng von der Kommission eingebunden werden. Die Initiativen und Bestrebungen der Kommission zur Erneuerung und Wiederbelebung des Sozialen Dialogs sind deshalb zu begrüßen; für den weiteren Prozess der Erarbeitung und Konkretisierung der europäischen Säule sozialer Rechte muss der Soziale Dialog intensiv genutzt werden.
Dr. Alexander Schellinger, Friedrich-Ebert-Stiftung
Dr. Peter Becker, Stiftung Wissenschaft und Politik
Dr. Thorsten Schulten, Wirtschafts- und Sozialwissenschaftliches Institut, Hans-Böckler-Stiftung
Ansprechpartner in der Friedrich-Ebert-Stiftung:
Arne Schildberg
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