Lena Kronenbürger: Inwiefern werden die Lebenserfahrungen von Frauen in der Finanzpolitik und den Wirtschaftswissenschaften berücksichtigt und abgebildet?
Katharina Mader: Unsere Lebensrealitäten beeinflussen unseren Zugang zur Forschung und welche Fragen gestellt werden. In der Ökonomie gibt es nicht viele Frauen und noch weniger Arbeiter_innen-Kinder an Universitäten, was dazu führt, dass Fragen zu Armut, Klasse und Geschlechterverhältnissen oft nicht gestellt werden.
Der wesentlichste Einfluss, den die Wirtschaft und die Wirtschaftswissenschaften auf die Geschlechterverhältnisse und damit auf die Machtverhältnisse zwischen den Geschlechtern hat, ist, dass die Wirtschaftswissenschaften oft vorgeben, geschlechtsneutral zu sein, obwohl sie tatsächlich von männlichen Forschern geprägt sind und männliche Realitäten als die Norm betrachtet werden. Wenn acht von zehn Forscher_innen Männer sind, werden geschlechtsspezifische Fragen oft nicht berücksichtigt und gleichzeitig wird behauptet, dass ihre Forschung absolut geschlechtsneutral sei, während feministische Forschung als ideologisch abgetan wird. Die Forschungsfragen und Modelle der Wirtschaftswissenschaften sind aber nicht universell anwendbar, da sie nicht die unterschiedlichen Realitäten von Frauen und Männern berücksichtigen. So sind die Wirkungen von Wirtschafts- und Finanzpolitik auf die Geschlechter noch immer ein blinder Fleck, der große Auswirkungen auf Forschungsfragen und politische Entscheidungen hat.
LK: Wie gestalten sich Entscheidungsprozesse bei der Vergabe von öffentlichen Geldern?
KM: Bei den öffentlichen Geldern ist es ähnlich wie in der Wissenschaft. Es sind hauptsächlich Männer, die Entscheidungen treffen und behaupten, dass sie die Realität abbilden würden, obwohl sie die Perspektiven weniger privilegierter Gruppen nicht mit einbeziehen. In der Finanzpolitik herrscht auch oft ein technokratischer Zugang und Frauen wird gerne mal unterstellt, dass sie keine Ahnung von Budgets haben. Das führt zu einem totalen Ausschlussmechanismus und schließt alle aus, die nicht bis ins kleinste technische Detail mit Budgets vertraut sind.
„Finanzpolitik sollte gleichermaßen für Frauen und Männer
geplant und umgesetzt werden“
Ein Beispiel aus der Corona-Pandemie zeigt, was passieren kann, wenn mittelalterliche weiße Männer Entscheidungen treffen. Unsere österreichische Bundesregierung hat damals viele Expert_innen um sich gesammelt und ihre Entscheidungen kommuniziert. Obwohl es einige Studien gab, die gezeigt haben, dass Home-Office und gleichzeitig Kinderbetreuung nicht funktioniert, haben einige Experten vorgeschlagen, einfach die Schulen zu schließen, damit die Eltern – also eigentlich die Mütter – zu Hause bleiben müssen. Das hat zu Kritik geführt und man musste sich sogar dafür entschuldigen. Das zeigt deutlich, wie wichtig es wäre, dass Expert_innengruppen divers aufgestellt sind, damit auch die Politik divers ist und verschiedene Perspektiven berücksichtigt werden. Man kann wohl nicht von allen Expert_innen erwarten, dass sie über ihren eigenen Tellerrand schauen, deshalb müssen wir immer versuchen, so viele Perspektiven wie möglich einzubeziehen, um eine breitere und inklusivere Politik zu gestalten.
LK: Wie könnten die öffentlichen Gelder so angepasst werden, dass sie die tatsächlichen Lebensrealitäten abdecken, die oft vernachlässigt werden?
KM: Hier kommt Gender Budgeting zum Tragen! Gender Budgeting bedeutet, dass öffentliche Haushalte auf ihre Geschlechtergerechtigkeit hin untersucht werden. Die Idee des Gender Budgeting ist aufgekommen, weil man erkannt hat, dass die Budgets, die den Frauenministerien zugeordnet sind, in den meisten Ländern sehr minimal sind und somit kein Hebel für Gleichstellung sein können. Wenn man Gleichstellung als Querschnittsmaterie betrachtet, muss man auch den öffentlichen Haushalt in Betracht ziehen.
Gender Budgeting ist also ein wichtiges Instrument, um sicherzustellen, dass öffentliche Gelder tatsächlich dazu beitragen, Geschlechtergerechtigkeit zu fördern. Auch wenn es bedeutet, dass man bei der Planung des öffentlichen Haushalts die Auswirkungen auf Frauen und Männer berücksichtigt, sollten jedoch nicht nur Geschlechterdichotomien, sondern auch andere Faktoren wie Herkunft und soziale Klasse einbezogen werden. Wenn wir uns wirklich für Evidenz-basierte Politik einsetzen wollen, müssen wir analysieren, wie effektiv bestimmte Maßnahmen sind und welche Bedürfnisse und Bedarfe bestehen. Finanzpolitik sollte gleichermaßen für Frauen und Männer geplant und umgesetzt werden. Somit ist Gender Budgeting ein wichtiger Schritt in Richtung einer gerechteren Gesellschaft.
„Auch Frauen streben oft danach, nach diesen männlichen
Normen zu leben, um ebenfalls Macht zu erlangen“
LK: Können Sie ein Beispiel aus der Vergangenheit nennen, in dem bei der Budgetplanung die Geschlechterperspektive nicht ausreichend berücksichtigt wurde?
KM: In der Vergangenheit wurden bei Wirtschaftskrisen oft Maßnahmen ergriffen, die zwar kurzfristig die Wirtschaft ankurbeln, aber langfristig negative Auswirkungen auf die Gesellschaft haben. In den letzten Krisen haben viele Länder, auch Österreich und Deutschland, schnell Konjunkturpakete geschnürt und viel Geld in die Baubranche gesteckt, um die Wirtschaft anzukurbeln. Doch Studien zeigen, dass Investitionen in beschäftigungsintensive Bereiche wie Bildung und Pflege langfristig sinnvoller sind. Außerdem wurden vor allem männliche Beschäftigungsverhältnisse gestützt, auch in der Pandemie, obwohl da die Mütter ihre Arbeitsstunden reduziert haben, um Kinderbetreuung und Schulschließungen zu bewältigen. Die darauffolgenden Konsolidierungen nach der letzten Wirtschaftskrise haben in vielen Ländern zu Sparmaßnahmen zum Beispiel im Gesundheitswesen geführt, was jetzt die Reaktion auf die Pandemie zusätzlich erschwert hat. Es geht also nicht nur um abstrakte Diskussionen über Steuern, sondern auch um unmittelbare Lebensrealitäten der Menschen wie Kindergartenplätze und Pflege. Durch Gender Budgeting könnte man gezielt in diese Bereiche investieren, die sowohl der Wirtschaft als auch der Gesellschaft zugutekommen. Aber natürlich könnte auch das Ehegattensplitting überdacht oder Vermögenssteuern eingeführt werden, um die Vermögensunterschiede zwischen den Geschlechtern zu verringern.
LK: Wie sieht die tatsächliche Umsetzung von Gender Budgeting in der Praxis aus?
KM: Gender Budgeting ist in Österreich für jedes Ministerium verpflichtend und beinhaltet die Formulierung von Gleichstellungszielen und Indikatoren. Es gibt jedoch keine Sanktionsmechanismen, um sicherzustellen, dass diese Ziele auch tatsächlich umgesetzt werden. Es ist somit eine technische Übung, die von der Verwaltung durchgeführt wird, aber keine Auswirkungen auf die Realpolitik hat. Den deutschen Weg fand ich da dann doch ehrlicher: Hier wurde eine Machbarkeitsstudie durchgeführt, die letztendlich einfach nicht umgesetzt wurde.
„Es ist wesentlich, dass Politiker_innen ein Verständnis für Geschlechterrollen entwickeln“
LK: Sie schildern eine recht pessimistische Lage. Gibt es auch positive Beispiele für eine erfolgreiche Umsetzung von Gender Budgeting?
KM: Die Stadt Wien hat vor 15 Jahren Gender Budgeting auf Verwaltungsebene eingeführt und damit große Fortschritte im Bereich Gender Mainstreaming erzielt. Dieses Beispiel zeigt, dass auf regionaler Ebene etwas machbar ist. Ähnliche Beispiele gibt es auch aus Deutschland. Regionale Umsetzungen sind wahrscheinlich erfolgreicher, weil sie verständlicher und unmittelbarer betroffen sind, wie zum Beispiel die Musikschule oder der Sportplatz, im Gegensatz zu Milliardenhilfen für Unternehmen.
LK: Wie wichtig ist es, dass Organisationen und Regierungen ein Bewusstsein für Geschlechtergerechtigkeit entwickeln, bevor sie Gender Budgets einführen?
KM: Um Gender Budgeting zu verstehen, ist es wesentlich, dass Politiker_innen ein Verständnis für Geschlechterrollen entwickeln. Das Konzept der hegemonialen Männlichkeit zum Beispiel, bei dem nur wenige privilegierte Männer vom System profitieren, während alle anderen danach streben, weil sie denken, dass sie auch davon profitieren würden, muss erkannt werden. Es ist wichtig zu erkennen, wie sehr uns Geschlechterrollen einschränken und wie wenig sie ein selbstbestimmtes Leben für Frauen ermöglichen. Frauen streben oft danach, nach diesen männlichen Normen zu leben, um ebenfalls Macht zu erlangen, obwohl dies nicht die Realität für die meisten Menschen ist. Es ist wichtig, dass Politiker_innen sensibilisiert werden, um Privilegien zu reflektieren und zu verstehen, wen sie eigentlich vertreten. In Österreich gibt es zwar mehr Frauen in Regierungen, aber viele agieren und leben wie ihre männlichen Kollegen und haben kein Interesse an Gleichstellungspolitik. Daher müssen wir auch bei Politikerinnen einen Anknüpfungspunkt finden, um ihnen die Wichtigkeit von Gleichstellung und Frauenpolitik zu vermitteln.
„Es ist entscheidend, dass Gleichstellungspolitik
nicht nur als temporäres Thema betrachtet wird“
LK: Ist es Ihrer Meinung nach also eine Illusion, dass Frauen, wenn sie in Führungspositionen aufsteigen, sich automatisch für andere Frauen einsetzen?
KM: Zumindest passiert das in der Realität nicht oft. Wenn man erst einmal in das System der Macht eingebunden ist und gelernt hat, wie man sich verhalten muss, um erfolgreich zu sein, denkt man meist nicht mehr an feministische Solidarität und andere Frauen.
LK: In diesem Interview konnten wir bereits von Ihnen lernen, dass feministische Finanzpolitik ein blinder Fleck ist. Welche Konsequenzen befürchten Sie für Frauen und andere benachteiligte Gruppen?
KM: Ich denke, dass wir durch die multiplen Krisen, die ineinander übergegangen sind, wie die Pandemie, der Ukraine-Konflikt und die Energiekrise, sehr viel weiter zurückfallen werden in Bezug auf die Gleichstellung der Geschlechter. Die Vorstellungen vieler Frauen von einer gleichberechtigten Gesellschaft werden durchkreuzt. Die Krisen arbeiten dagegen. Viele Frauen haben aufgrund der Pandemie und der Betreuung ihrer Kinder den Arbeitsmarkt verlassen und sind gerade im Zuge der Teuerung nun armutsgefährdet. Studien zeigen, dass Frauenarmut direkt mit Kinderarmut einhergeht. Wenn wir Frauen keine finanzielle Unabhängigkeit ermöglichen, hat dies direkte Auswirkungen auf die nächste Generation und deren Bildung und Armutswahrscheinlichkeit. Es ist wichtig, dass Frauen heute gut leben können, um auch die nächste Generation zu unterstützen. Ich befürchte, dass dies momentan nicht passiert und dass es eine riesige Gefahr für die Zukunft darstellt.
LK: Inwiefern kann Gender Budgeting dazu beitragen, Armut und soziale Ungleichheit zu reduzieren?
KM: Sicherlich indem ein Blick auf die Bedürfnisse von Frauen und Mädchen geworfen und gezielt in ihre Bedürfnisse investiert wird. Konkret kann dies jetzt durch politische Maßnahmen wie beispielsweise Deckelungen von Mietpreisen oder die Bereitstellung von warmen Mahlzeiten in Schulen und Kindergärten geschehen. Denn gerade Familien in Armut können sich diese Grundbedürfnisse zurzeit nicht leisten und werden somit noch weiter in die Armut abrutschen. Es gibt jedoch noch kein grundsätzliches Verständnis, dass wir solche Maßnahmen brauchen und deshalb fehlt auch der politische Wille, um diese Themen anzugehen.
LK: Gleichstellung – werden wir sie tatsächlich eines Tages erleben?
KM: Die Frage, ob wir noch Gleichstellung erleben werden, ist schwierig zu beantworten. Ich persönlich habe die Sorge, dass wir noch einen weiten Weg vor uns haben. Aber es ist wichtig, sich daran zu erinnern, dass wir bereits einige Errungenschaften erreicht haben und dass diese noch relativ jung sind. In Österreich war es zum Beispiel bis 1978 erlaubt, dass der Ehemann die Kündigung der Erwerbstätigkeit seiner Frau veranlassen konnte. Wir müssen uns bewusst machen, wie weit wir bereits gekommen sind und dass gesellschaftliche Entwicklungen Zeit brauchen. Es ist also angebracht, Geduld zu üben, obwohl ich persönlich kein geduldiger Mensch bin.
LK: Auch wenn Geduld gefragt ist: Was muss Ihrer Meinung nach sofort geschehen und kann nicht auf die lange Bank geschoben werden?
KM: In meinen Augen ist es entscheidend, dass Gleichstellungspolitik nicht nur als temporäres Thema betrachtet wird, das gerade in Krisensituationen vernachlässigt wird. Stattdessen muss es als Querschnittsmaterie ständig in die politischen Entscheidungen einfließen, auch und gerade in schwierigen Zeiten.