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„Die Zukunft gestalten“ – das Grundsatzprogramm des DGB 1996

Vor 25 Jahren gab sich der Deutsche Gewerkschaftsbund (DGB) sein letztes, noch immer gültiges Grundsatzprogramm. Vom Beschluss 1990, seine Programmatik zu erneuern, bis zu seiner Verabschiedung brauchte es sechs Jahre. Geprägt war dieser Weg von einer grundlegenden Diskussion um den künftigen gewerkschaftspolitischen Kurs.

„In dieser Zeit tiefer Umbrüche brauchen wir selbst und die, die auf uns setzen und uns vertrauen, neue Orientierungen. Die Menschen spüren und erleben es tagtäglich, daß diese Republik sich verändert. Sie wissen, jetzt werden die Weichen gestellt, die für jeden von uns von großer Bedeutung sind.

Sie fragen sich, und sie fragen uns: Wird diese Gesellschaft zusammenhalten? Oder werden noch mehr Menschen in die Arbeitslosigkeit, ins Abseits und am Ende auch in die Armut gedrängt? Gelingt es, produktiv zu arbeiten und dennoch die Umwelt zu bewahren? Oder wird an der Natur weiter Raubbau betrieben und Umweltpolitik zum Stiefkind unserer Industriegesellschaft?

Sind wir in der Lage, den Sozialstaat durch Reformen zu sichern und damit die Demokratie zu festigen? Oder wird dieses Land zur Deutschland AG, in der nur noch der Profit, nur noch das betriebswirtschaftliche Kalkül, der gnadenlose Konkurrenzkampf an erster Stelle stehen?“

Fast könnte man meinen, hier würde über deutsche Realitäten des Jahres 2021 gesprochen. Es sind aber die Worte, mit denen Dieter Schulte, von 1994 bis 2002 Vorsitzender des Deutschen Gewerkschaftsbundes, am 13. November 1996 die Beratungen des 5. außerordentlichen Bundeskongresses des DGB über ein neues Grundsatzprogramm eröffnete.

Auf dem DGB-Bundeskongress 1990 hatte die IG Metall die Schaffung eines neuen Grundsatzprogramms initiiert. Heinz-Werner Meyer (DGB-Vorsitzender 1990–1994) und nach dessen plötzlichem Tod auch sein Nachfolger Dieter Schulte unterstützten diesen Prozess.

Programmatische Neubestimmung des DGB

Auf Veranstaltungen und über Veröffentlichungen fand die Auseinandersetzung über eine neue gewerkschaftliche Politik statt. 1991 wurde durch den DGB-Bundesvorstand eine Projektgruppe „Zukunft“ eingerichtet, die für die anstehende Debatte einen Rahmen setzen sollte. Eine Anfang 1992 gebildete Programmarbeitsgruppe entwickelte zehn Leitfragen zur anstehenden Programmdebatte:

  1. Wege zur sozialen Einheit
  2. Zukunft des Sozialstaates
  3. Gestaltung der Ökonomie
  4. Zukunft der Arbeit
  5. Bildung und Ausbildung für die Zukunft
  6. Emanzipation der Frauen
  7. Europäische Zusammenarbeit
  8. Wanderungsbewegungen und gesellschaftliche Integration
  9. Umwelt, Frieden und Entwicklung
  10. Zukunft gewerkschaftlicher Interessenvertretung

Dem Versuch, darüber in den Einzelgewerkschaften eine Diskussion anzustoßen, war kein Erfolg beschieden. Bis 1995 wurden vom DGB-Bundesvorstand zehn Werkstattgespräche realisiert, deren Ergebnisse im Bund-Verlag in fünf Bänden der Öffentlichkeit präsentiert wurden. Dies und auch Artikel beispielsweise in den „Gewerkschaftlichen Monatsheften“ brachten die Debatte aber nicht grundlegend voran. In zähen Flügelkämpfen wurde lange die zentrale Frage diskutiert, ob im neuen Grundsatzprogramm die soziale Marktwirtschaft als geeignete Wirtschaftsform zur Erreichung gewerkschaftlicher Ziele anerkannt werden, oder ob man a– wie noch im Programm von 1981 – an der grundsätzlichen Gegnerschaft zum Kapital festhalten solle.. Schließlich sollte das Ziel der Sicherung und des Ausbaus der „sozial regulierten Marktwirtschaft“ Eingang ins Programm finden. 

Zunächst  konnte der Bundesvorstand dem 15. ordentlichen Bundeskongress 1994 aber nur einen Zwischenbericht abliefern. Ein Entwurf zum Grundsatzprogramm, den die Grundsatzabteilung für den Bundesvorstand des DGB am 24. November 1995 erstellt hatte, fand keinen einhelligen Konsens, so dass er nicht wie geplant verabschiedet werden konnte. Erst im März 1996 nahm der DGB- Bundesvorstand den Entwurf an.

Auch in den Folgemonaten verstummte die Diskussion um das neue Grundsatzprogramm nicht. Insbesondere die Verzögerungen der Jahre zuvor führten jetzt zur Kritik am Zeitmanagement der Programmdiskussion. So forderten beispielsweise Wissenschaftler_innen in einem mit „Programm der Beliebigkeit“ überschriebenen Artikel in den „Gewerkschaftlichen Monatsheften“ (H. 4, 1996), den außerordentlichen DGB-Kongress im November des Jahres abzusagen, weil u.a. die für Mai/Juni 1996 gesetzte Frist für Änderungsanträge zu kurz sei.

Auf der anderen Seite publizierte der Geschäftsführende Bundesvorstand des DGB noch im September 1996 eine Materialsammlung unter dem Titel „Stark durch Wandel“, in welcher Stellungnahmen verschiedener gesellschaftlicher Gruppen zur anstehenden Programmdebatte auf dem Bundeskongress zusammengestellt worden waren.

Auf der Zielgerade zum Programm

In einem Artikel in den „Gewerkschaftlichen Monatsheften“ (H. 10, 1996) umschrieb Dieter Schulte die Aufgaben des neuen Programms:

„Es geht um die Frage, wie wir die Zukunftsfähigkeit unseres Landes und den Zusammenhalt unserer Gesellschaft stärken können. Dies ist auch der Kern unserer programmatischen Erneuerung, mit der wir einen neuen Konsens über notwendige Reformen herbeiführen wollen. Wir mischen uns ein, weil wir der Überzeugung sind, daß die Politik begreifen muß, daß sie eine Gestaltungsaufgabe hat. Sie muß mehr sein als nur der Nachvollzug von vermeintlichen Sachzwängen eines globalisierten Wettbewerbs. Es geht darum, Handlungsspielräume auszuloten und dann auch zu handeln.“

Dieter Schulte, wie beispielsweise auch Anke Fuchs, Joschka Fischer, Harald Schartau oder Hubertus Schmoldt, hatten auf der DGB-Veranstaltung „Sozial und ökologisch umsteuern!“ am 19. Juni 1996 Statements zur Programmdebatte abgegeben. So erklärte Schulte, dass die Gewerkschaften im Spannungsfeld der Interessen von Arbeitnehmern und Arbeitgebern im nächsten Jahrzehnt Schwerpunkte zu setzen habe. „Kernfragen unserer Arbeitsgesellschaft“, die sich in der neuen Programmatik widerspiegeln müssten, komme zentrale Bedeutung zu. Er nannte hier in erster Linie eine Vollbeschäftigungspolitik, für die die Arbeitszeitpolitik besonderen Stellenwert habe, nachgeordnet auch die Qualifizierungs- und die allgemeine Arbeitsmarkt- und Forschungsförderungspolitik. Als weiteren Schwerpunkt sah Dieter Schulte eine „zukunftssichernde Industriepolitik“:

„In gemeinsamen industriepolitischen Initiativen liegt die Chance, die sozial-ökologische Reformstrategie auch wirtschaftlich umzusetzen. Umweltpolitische Enthaltsamkeit hingegen wäre absolut kontraproduktiv, sie würde uns im globalen Wettbewerb nur zurückwerfen. Was wir statt dessen brauchen, ist eine Reformstrategie mit Augenmaß. Für den Deutschen Gewerkschaftsbund heißt Augenmaß: Wir wollen keine Umweltpolitik, die den Umweltdreck nur in andere Länder verlagert, aber wir wissen auch, daß es viele hervorragende ökologische Innovationen der Unternehmen nur deshalb gibt, weil der Gesetzgeber Rahmenbedingungen gesetzt hat, also sanften Druck ausgeübt hat. An solchen zielführenden Konzepten wollen wir als Gewerkschaften mitarbeiten.“

Auf dem 5. Außerordentlichen Bundeskongress des DGB, der vom 13. bis 16. November 1996 in Dresden stattfand, verabschiedeten 558 Delegierte – nach teils bewegter Diskussion – das neue Grundsatzprogramm. Mit ihm stellten sich die Gewerkschaften den großen, weiterhin aktuellen Themen – Ökologie, Europa, Bildung. Noch heute ist es in Kraft.

Hubert Woltering

  • Im Bestand des DGB-Archivs, seit 1995 als Sonderarchiv im AdsD, findet man u.a. das Archivgut der Abteilung Grundsatzfragen und Gesellschaftspolitik beim Bundesvorstand des Deutschen Gewerkschaftsbundes. Dort ist grundlegendes Material über die Schaffung des Grundsatzprogramms 1996 zu finden, wie auch zu vorherigen programmatischen Dokumenten des DGB. Den Text zum Grundsatzprogramm findet sich auf den Seiten des DGB. Weitere DGB-Publikationen zum Thema findet man über den Katalog der Bibliothek der FES.

 


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