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Der Hochverratsprozess in Leipzig 1872

Nach dem deutsch-französischen Krieg von 1870/71 wurden führende Sozialdemokraten im März 1872 des Hochverrats bezichtigt. Sie hatten im Reichstag die deutsche Kriegspolitik hinterfragt und eine Vision für ein friedliches Europa jenseits von Nationalitätenhass formuliert. August Bebel und Wilhelm Liebknecht wurden deswegen als „vaterlandslose Gesellen“ beschimpft und zu zwei Jahren Festungshaft verurteilt. Die Sozialdemokratie gewann jedoch an Popularität.

Bild: Vor dem Leipziger Bezirks-Geschworenengericht, März 1872: Wilhelm Liebknecht (stehend), Adolf Hepner und August Bebel (am rechten Bildrand) [6/FOTA039048].

Vorgeschichte: Deutsche Reichseinigung

Die Gründung des Deutschen Kaiserreichs 1871 stand am Ende einer Kette blutiger Einigungskriege: 1864 gegen Dänemark, 1866 gegen Österreich sowie 1870/71 gegen Frankreich. Seit dem Ende des Heiligen Römischen Reichs Deutscher Nation 1806 sowie der Revolution von 1848 stand die Frage eines deutschen Nationalstaats in der politischen Diskussion. In den 1850er-Jahren wurde mit der Nationalstaatsgründung Italiens 1861 ein Vorbild geschaffen, wie überhaupt nationales Denken im 19. Jahrhundert immer wichtiger wurde und Politik und Gesellschaft antrieb.

Vielen Menschen aus allen Schichten, insbesondere aus dem Bürgertum, erschienen die zahlreichen deutschen Königs-, Fürsten- und Herzogtümer geradezu veraltet. Der Traum einer einheitlichen deutschen Nation war lebendig, es gab ein Verlangen nach nationaler Einheit, könnte man aus emotionsgeschichtlicher Perspektive sagen. Machthistorisch freilich hatten die kleineren süddeutschen Herrscherhäuser ihre Vorbehalte gegen das starke preußische Königreich. Im Krieg 1866 waren sie noch an der Seite Österreich-Ungarns gegen Preußen gestanden.

Erst der Krieg gegen Frankreich brachte die deutschen Staaten und Herrscherhäuser zusammen. Auslöser waren Streitigkeiten zwischen Frankreich und Preußen um die Thronbesetzung in Spanien gewesen. Durch einen intriganten Schachzug Otto von Bismarcks („Emser Depesche“) erklärte Frankreich den Krieg. In der europäischen Außenpolitik stand Frankreich als Aggressor da. Den Krieg gewannen die vereinigten deutschen Truppen überraschend schnell. Sogar der französische Kaiser wurde in der Schlacht bei Sedan gefangen genommen. Am 18. Januar 1871 erfolgte im Spiegelsaal von Versailles die Proklamation des preußischen Königs Wilhelm I zum deutschen Kaiser.

Haltung der sozialdemokratischen Arbeiter_innenbewegungen zum Krieg

Gegen diesen kriegerisch-nationalen Machtfuror gab es politischen Widerstand – und er ging von der sozialistisch-demokratischen Arbeiter_innenbewegung aus. Aber so einfach war das mit dem Widerstand gar nicht. Denn auch an der Basis der Organisationen und unter den Arbeiter_innen war das oben beschriebene nationale Bewusstsein verankert. Das eigene Land gegen einen angeblichen Aggressor im Stich zu lassen – das kam für die Arbeiter_innenschaft nicht in Frage.

Hinzu kam, dass die Arbeiter_innenbewegung noch immer in zwei unterschiedliche Parteirichtungen gespalten war. Auf der einen Seite stand der von Ferdinand Lassalle gegründete Allgemeine deutsche Arbeiterverein (ADAV). Auf der anderen Seite die Sozialdemokratische Arbeiterpartei (SDAP). Beide Strömungen traten für die Interessen der Arbeiter_innen ein. Doch daneben gab es auch gravierende Unterschiede. Zu ihnen zählte die Haltung gegenüber einem künftigen Nationalstaat. Während der ADAV für einen deutschen Staat ohne den deutschsprachigen Teils Österreich-Ungarns eintrat, gab es in der SDAP viele Preußen-Gegner, die sich ein Deutschland mit Österreich als Gegengewicht zu Preußen wünschten.

Diese unterschiedlichen Haltungen blieben auch bei Kriegsausbruch im Sommer 1870 akut. Der ADAV vertrat die Idee, dass erst durch, mit und nach der nationalen Einheit die Arbeiter_innenschaft ihre Freiheit erringen könne. Außerdem sah der ADAV sich in einem Verteidigungskrieg gegen Frankreich. Deshalb stimmten die ADAV-Abgeordneten im Norddeutschen Reichstag den Kriegskrediten am 21. Juli 1870 zu.

Komplizierter gestaltete sich die Situation in der SDAP, die mühsam einen Kompromiss fand. Auf der einen Seite konnte die Partei die Kriegskredite nicht bewilligen. Das wäre ein „Vertrauensvotum für die preußische Regierung“ gewesen. Andererseits konnte die SDAP die Gelder auch nicht verweigern. Dann würde man Deutschland dem französischen Angreifer ausliefern. Folglich entschieden sich August Bebel und Wilhelm Liebknecht für eine Stimmenthaltung.

Als Preußen-Deutschland nach dem Sieg von Sedan Friedensverhandlungen verweigerte und stattdessen den Krieg gegen die soeben ausgerufene französische Republik fortsetzte, um ihre Herrschaft über Elsass und Lothringen abzusichern, schlug am 26. November 1870 Bebels Stunde im Reichstag.

Der 30-jährige Abgeordnete ging in seiner Rede vom Selbstbestimmungsrecht der Völker aus. Er meinte, Elsässer und Lothringer hätten kein Bedürfnis, in den deutschen Staat einzutreten. Wenn Deutschland „heute das Selbstbestimmungsrecht mit Füßen treten“ würde, könne es eines Tages selbst Opfer einer solchen Annexionspolitik werden. Außerdem werde die Annexion die Feindseligkeit zwischen Deutschland und Frankreich zementieren. Das Festhalten an einem „reaktionären Nationalitätsprincip“, wie Bebel den Nationalismus nannte, führe letztendlich dazu, dass Kriege in Europa kein Ende nähmen. Stattdessen müsste es in der Innen- wie Außenpolitik darum gehen, den inneren Frieden herzustellen und den Nationen ihr Selbstbestimmungsrecht zu gewähren.

Was in unseren Ohren höchst modern und fortschrittlich klingt und angesichts der Ereignisse in der Ukraine hochaktuell ist, war am Beginn des deutschen Kaiserreichs in den Augen des Bürgertums und der politischen Eliten Verrat der „vaterlandslosen Gesellen“ – wie man von nun an die sozialdemokratische Arbeiter_innenbewegung beschimpfte. Dabei hatte Bebel eingangs seiner Rede vom November 1870 noch versichert, „ein ebenso guter Deutscher und ein ebenso guter Patriot zu sein“ wie seine Vorredner.

Schließlich warf Bebel den anderen Abgeordneten auch noch vor, über die Kriegskredite den einfachen Leuten finanzielle Opfer im Namen des „Patriotismus“ abzuverlangen. Sie selbst aber würden einfach abwarten, dass „ihnen die Procente aus den Kriegskrediten in die Tasche fallen“. Da kochte der Plenarsaal dann über: „Allgemeine Mißbilligung, Zischen, Ruf: Pfui! Hinaus! Hinaus mit ihm!“, hielt der Protokollant die Stimmung fest.

Bebels Auftritt stellte eine Sternstunde seines parlamentarischen Engagements dar. Obwohl er einer geschlossenen Front gegenüberstand, hielt er mutig an seiner ablehnenden Haltung fest. Bebel sah die künftigen strukturellen Probleme im deutsch-französischen Verhältnis voraus, forderte völkerrechtliche Standards ein und entwarf die Vision eines friedlichen Europas jenseits von Nationalitätenhass.

Verhaftung und Prozess

Diese aus der Rückschau zukunftsweisende Perspektive stellte aber für die maßgeblichen Akteure jener Zeit Landesverrat im Angesicht des Kriegs dar. Deshalb wurden August Bebel, Wilhelm Liebknecht und der Journalist Adolf Hepner im Dezember 1870 verhaftet und saßen bis zum März 1871 in Untersuchungshaft. Hepner kam in Haft, weil er als Redakteur der Parteizeitung „Der Volksstaat“ die Meinungen und Haltungen der beiden veröffentlicht hatte. Verhaftet werden konnten die beiden Abgeordneten, weil der Schutz der Immunität nur für die Zeit der Sitzungsperioden des norddeutschen Reichstags galt. Allein dieser rechtliche Schachzug wie überhaupt der gesamte Hochverratsprozess von Leipzig, der im März 1872 unter großem öffentlichem Interesse vor dem Leipziger Bezirks-Geschworenengericht stattfand, zeigen, dass es um den Versuch der Zerschlagung der Arbeiter_innenbewegung ging.

Den Vorwurf des Landesverrats konnte die Staatsanwaltschaft nach Kriegsende allerdings nicht mehr aufrechthalten. Stattdessen lautete die Anklage nun, dass Bebel, Liebknecht und Hepner durch ihre Schriften und Organisationen die marxistischen Lehren und den Klassenkampf unterstützten. Damit begingen sie aber Hochverrat. Selbst das weitgehend vergessene „Kommunistische Manifest“ holte die Anklage hervor, um die Umsturzgedanken der Sozialdemokratie zu beweisen. Der Effekt war, dass das Manifest nun ganz legal als Beweismittel in der Öffentlichkeit zirkulierte und in der Arbeiter_innenbewegung bekannt wurde. Der konstruierte Vorwurf des Hochverrats fand unter den Geschworenen eine Mehrheit. So wurden Bebel und Liebknecht am 26. März 1872 zu zwei Jahren Festungshaft verurteilt, Hepner dagegen freigesprochen.

Einordnung des Prozesses

Insgesamt ist der Leipziger Hochverratsprozess im Zusammenhang mit der deutschen Reichseinigung, einem zunehmenden Nationalismus und der Furcht des Bürgertums und der politischen Führung vor der erstarkenden Sozialdemokratie zu verorten. Gleichzeitig zeigen der Prozess sowie das Urteil die Widersprüchlichkeit des politischen Systems im Kaiserreich. Auf der einen Seite stand eine willkürlich konstruierte Anklage mit dem Ziel, drei führende Köpfe der Bewegung aus dem Verkehr zu ziehen. Auf der anderen Seite kam es zu einem Urteil, das angesichts des Vorwurfs des Hochverrats fast milde ausfiel. Jedenfalls ließ sich die Sozialdemokratie so nicht vernichten. Festungshaft galt nicht als ehrenrührig, die individuellen Bürger- und Wahlrechte wurden nicht außer Kraft gesetzt. Für die Gefangenen gab es Haftprivilegien, die Familien der beiden Gefangenen kamen regelmäßig zu Besuch. An der Basis löste das Urteil eine Welle der Solidarität aus. Bei einer Nachwahl in Bebels sächsischem Wahlkreis entfielen rund 10.000 Stimmen auf ihn – über 3.000 Stimmen mehr als bei der vorherigen Wahl.

Durch die großzügigen Haftbedingungen gelang es Bebel, auf die Parteiorganisation Einfluss zu nehmen. Er traf sich in der Haftanstalt mit dem Buchhalter des „Volksstaat“, um über die finanzielle Lage der Zeitung zu reden, schrieb einen Artikel nach dem anderen, die nach draußen geschmuggelt und anonym veröffentlicht wurden. Als Bebel nach fast zwei Jahren im Mai 1874 das Gefängnis verließ, war er nicht vergessen, sondern ein gefeierter Held.

Für die Anhänger_innen der sozialdemokratischen Bewegung stand die Verurteilung von Bebel und Liebknecht als weiterer Beweis für einen Klassenstaat, der ihre legitimen Interessen mit Füßen trat und sie ausgrenzte. Außerdem bewirkte der Hochverratsprozess das Gegenteil von dem, was er gewollt hatte. Die beiden bisher getrennten parteipolitischen Richtungen der Arbeiter_innenbewegungen fanden angesichts wachsender Verfolgung immer mehr zusammen und vereinigten sich 1875 in Gotha zur Sozialistischen Arbeiterpartei (SAP). Die beiden Verurteilten, Bebel und Liebknecht, wurden nicht gebrochen, sondern zu Führungsfiguren der Arbeiter_innenbewegung.

Jürgen Schmidt
 

Mehr zum Thema in aktuellen Folge des Podcast Geschichte Europas: "Der Leipziger Hochverratsprozess (1872), mit Dr. Jürgen Schmidt" [21. März 2022].

 

Literatur:

  • Jürgen Schmidt, August Bebel. Kaiser der Arbeiter. Eine Biografie, Zürich 2013.
  • Hugo Friedländer, Der Hochverratsprozeß gegen Liebknecht, Bebel und Hepner, vom 11. bis 26. März 1872 vor dem Leipziger Bezirks-Schwurgericht, Berlin 1911.

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