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Universalistisches Denken, staatlich verbriefte Rechts- und Chancengleichheit sowie humanitäre Prinzipientreue bildeten die Eckpfeiler von Paul Nathans politischem Selbstverständnis. Als Journalist beantwortete er antisemitische Kampagnen mit gründlich recherchierten Hintergrundartikeln und „Faktenchecks“, der „Hilfsverein der deutschen Juden“ entstand aus seiner Initiative. Seine zutiefst demokratischen, sozialliberalen Überzeugungen waren für ihn wichtiger als die parteipolitische Zugehörigkeit.
Bild: Paul Nathan um 1897; Quelle: Ernst Feder: Politik und Humanität. Paul Nathan. Ein Lebensbild, Berlin 1929, S. 64.
Der in Berlin geborene Paul Nathan (1857–1927) entstammte einer verarmten deutsch-jüdischen Bankiersfamilie. Er war geprägt durch die „liberale Ära“ des prosperierenden Reichsgründungsjahrzehnts und definierte sich als patriotischer, deutscher Staatsbürger. Ab 1876 studierte er an der Berliner Universität Geschichte, Volkswirtschaft, Recht, Französisch und Englisch. Als Hörer bei Heinrich von Treitschke im Jahr 1879 wurde er zum Zeitzeugen der Entstehung einer modernen Form des Antisemitismus. Seine pro-jüdische Positionierung resultierte, wie er später gegenüber dem „Vorwärts“-Herausgeber Friedrich Stampfer betonte, persönlichen Erfahrungen und praktischen Erwägungen. Er erwähnte, dass er eigentlich gänzlich „ohne jüdische Tradition“ sei und sich für die Juden erst als Erwachsener interessiert habe, als er sah, „dass sie verfolgt wurden“. Neben Treitschke, der den verhängnisvollen Slogan „Die Juden sind unser Unglück“ erfand, trieben Anfang der 1880er-Jahre die sogenannten „Radau-Antisemiten“ auf den Straßen Berlins und in Preußen ihr Unwesen. Jüdische Deutsche wurden auf öffentlicher Straße angefeindet, beleidigt und geschlagen, in Pommern kam es zu Pogromen, die denen im Russländischen Reich in nichts nachstanden. Der radikale Antisemitismus der frühen 1880er-Jahre wollte die liberalen Errungenschaften und die Erfolge der jüdischen Emanzipation zurückdrehen und stellte deshalb eine ganz persönliche Bedrohung für Nathans eigene, staatsbürgerliche Integrität dar. In seinem Selbstverständnis bildeten Deutsch- und Jüdischsein keine Gegensätze, sondern eine Synthese. Die sogenannte „Judenfrage“ charakterisierte er nicht, wie die meisten seiner Zeitgenossen, als Nationalitäts- oder gar Rassenmerkmal, sondern als Religionszugehörigkeit oder als „Frage der sozialen Schichtung“.
Inspiriert von Eduard Lasker und mit Unterstützung seines Mentors Ludwig Bamberger gelangte der junge Nathan 1881 in die Kreise des aktiven Berliner Netzwerks linksliberaler Politiker, Journalisten und Intellektueller. Als Journalist schrieb er zunächst Artikel für die „Tribüne“ der linksgerichteten Liberalen Vereinigung. Von 1883 bis 1908 arbeitete er, anfangs als Redakteur, später neben Theodor Barth als Mitherausgeber, bei der linksliberalen Wochenzeitschrift „Die Nation“, eine der bedeutendsten politischen Zeitungen ihrer Zeit, in der u.a. Theodor Mommsen, Rudolf Virchow, Friedrich Naumann, Hugo Preuß, Maximilian Harden, Lujo Brentano und viele andere Persönlichkeiten von Rang und Namen publizierten. Früh entwickelte Nathan den für ihn charakteristischen journalistischen Stil, der akribische Recherchen und Wissenschaftlichkeit mit Aufklärung und einer nicht selten scharfzüngigen Ironie verband. Ein wichtiges Vorbild war ihm der Arzt und Sozialstatistiker Salomon Neumann. Schon Mitte der 1880er-Jahre hatte Nathan sich in Berlin und darüber hinaus einen Namen als Publizist gemacht, der als „unermüdlicher literarischer Kämpfer gegen antisemitische Tendenzlügen anschrieb“. Die pseudowissenschaftlichen Traktate und Hetzschriften der antisemitischen Bewegung beantwortete er mit gründlich recherchierten Hintergrundartikeln und „Faktenchecks“. Als einer der Ersten arbeitete Nathan die europäische Dimension des modernen Antisemitismus klar heraus. Seine Studie über den „Ritualmord“ im ungarischen Tiszaeszlár gehört bis heute zu den ausführlichsten Schilderungen über die Anfänge der modernen antisemitischen Bewegung. Häufig nutzte Nathan sein internationales Pressenetzwerk, um – selbst stets hinter den Kulissen agierend – Kampagnen oder Lobbyarbeit zugunsten humanitärer Projekte zu initiieren oder öffentliche Solidarität mit zu Unrecht Verfolgten zu mobilisieren. So intervenierte Nathan im Jahr 1901 etwa zugunsten der Rückkehr des im Exil lebenden Eduard Bernstein.
1901 agierte Paul Nathan als treibende Kraft hinter der Gründung und Etablierung des „Hilfsvereins der deutschen Juden“. Der Hilfsverein war der erste professionell agierende deutsche Dachverband, der die seit den 1880er-Jahren zunehmende jüdische Emigration aus Ost- und Südosteuropa in die USA und (ab 1907) nach Palästina koordinierte – namentlich den Transit der Emigrant_innen durch das Deutsche Reich. Diese von den Zeitgenossen als „Migrationsfürsorge“ bezeichnete Arbeit lag bis zur Gründung des Hilfsvereins in den Händen lokaler Honoratioren in den Grenz- und Transitorten und war eng verwoben mit der frühen jüdischen „Abwehr“ des Antisemitismus. Paul Nathan, der sich in beiden Bereichen bewegte und auskannte, organisierte als „Geschäftsführer im Ehrenamt“ den Aufbau und leitete den Verein bis zu seinem Tod. Für die gute Sache legte Nathan seine ganze Energie in die Waagschale. Er war ein Meister des Schmiedens pragmatischer Allianzen auch mit seinen Gegenspielern. Schon 1904 holte er die Zionistische Bewegung mit ins Boot, der er zwar negativ gegenüberstand, deren weitverzweigtes Netzwerk im Russländischen Reich und in Rumänien (sowie später auch in Palästina) jedoch unerlässlich für die Organisation des jüdischen Transits war. Die Mühen zahlten sich aus. Schätzungsweise 200.000 Jüdinnen und Juden aus Ost- und Südosteuropa emigrierten bis zum Vorabend des Ersten Weltkriegs mithilfe des Hilfsvereins.
1899 ergänzte Paul Nathan sein vielfältiges Engagement um einen Sitz in der Berliner Stadtverordnetenversammlung, der er bis 1919 angehörte. Stadtverordneter blieb das einzige und höchste politische Amt, das er in seinem Leben ausübte. Zusammen mit Hugo Preuß bildete er die Spitze der „sozialfortschrittlichen“ Fraktion – deren wichtigster Vertreter im Reichstag war Theodor Barth, der Mitherausgeber der „Nation“. Die Sozialfortschrittler um Nathan bekannten sich zum „kommunalen Sozialliberalismus“ und wiesen deutlich weniger Berührungsängste mit der Sozialdemokratie auf als Vertreter anderer liberaler Fraktionen. Nathan war ein erklärter Gegner des Sozialistengesetzes, das er als undemokratisch und ungerecht ansah. Programmatisch gab es mit der SPD Überschneidungspunkte und pragmatische Allianzen bei Abstimmungen, etwa im Bereich der Volksbildung oder der städtischen Kinderbetreuung. Zunehmend erkannte Nathan, dass progressive Fortschritte und grundlegend demokratische Reformen nicht ohne die SPD oder an ihr vorbei möglich waren. Dies lag, vor allem auf der Reichsebene, zu einem großen Teil an der Schwäche oder der Uneinigkeit der liberalen Parteien. Nathans zutiefst demokratische Grundüberzeugungen deckten sich in vielen Bereichen mit denen der Sozialdemokratie. Er befürwortete das „soziale Emporkommen“ der Arbeiterbevölkerung, um eine „Versöhnung und Annäherung“ und schließlich die Überwindung aller Klassenunterschiede zu erreichen. Schon 1890 hatte er eine vielgelesene Schrift über die „Bestrebungen der Berliner Baugenossenschaft“ herausgegeben und darin menschenwürdiges Wohnen für die Arbeiterschaft als zentrale kommunale Aufgabe angemahnt. Jedoch war, wie bei seiner Allianz mit den Zionisten im Hilfsverein, die inhaltliche Nähe zur SPD mehr auf pragmatische Vernunft als auf wirkliche Zuneigung zurückzuführen. Vieles passte ihm an der SPD nicht. Besonders ambivalente Gefühle hegte er etwa gegenüber „radikalen“, orthodox-marxistisch argumentierenden Personen. Mit Begriffen wie „Klassenpolitik“ und mit fruchtlosen ideologischen Grundsatzdebatten konnte er nichts anfangen.
In der Weimarer Republik war Nathan 1919 Gründungsmitglied der linksliberalen Deutschen Demokratischen Partei (DDP) unter Friedrich Naumann. Ein wenig herablassend meinte er, dass nur die „Macht der Tatsachen“, die er beim politischen Linksliberalismus verortete, die „Erziehung der Sozialdemokratie“ vollenden könne. Nur ein Jahr später sah er jedoch kaum noch politisches Potenzial für die schwächelnde DDP, während die Sozialdemokratie sich als Garant der demokratischen Verfassung etablierte. Als die DDP 1921 begann, mit der Deutschen Volkspartei anzubändeln, zog Nathan die Konsequenz und trat zur SPD über. Dadurch wechselte er jedoch nicht seinen politischen Glauben, wie seine liberalen Weggefährten beim „Berliner Tagesspiegel“ meinten, sondern, wie Christoph Jahr treffend zusammenfasst, verlagerte er „lediglich sein Gewicht vom rechten auf den linken Fuß“. Nathan selbst beschrieb seinen Wechsel mit den Worten, er wolle dort wieder anknüpfen, wo er „als junger Student gestanden habe, im Lager der Sozialdemokratie“.
Universalistisches Denken, staatlich verbriefte Rechts- und Chancengleichheit sowie humanitäre Prinzipientreue bildeten die Eckpfeiler von Nathans politischem Selbstverständnis. Gesellschaftlicher Fortschritt bedeutete für ihn die Überwindung sozialer und klassenbedingter Ungleichheit, die Förderung demokratischer Mitbestimmung und parlamentarischer Partizipationsprozesse, die Beseitigung von Unterdrückung und Ungerechtigkeit und die grundsätzliche, konsequente Einhaltung von Menschenrechten. Diese Grundsätze hatten stets einen höheren Stellenwert als eine Parteizugehörigkeit. Nathans sozialpolitisches Verantwortungsgefühl zeigte sich vor allem in seinen Bemühungen um Volks- und publizistische Bildung und Aufklärung sowie in seiner mitunter aufreibenden humanitären Arbeit im Hilfsverein der deutschen Juden.
David Hamann, freiberuflicher Historiker, Recherche-Dienste
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