Wenzel Jaksch beschreibt die historische Situation am 9. November 1938 im Leitartikel der letzten Ausgabe des „Sozialdemokrat“ als „gewaltiges Schicksal“, das „uns auf verlorenen Posten gestellt“ hat. Wie ist das Leben von Jaksch verlaufen, nachdem er diesen ergreifenden Text geschrieben hatte? [Eine Transkription des Artikels finden Sie hier.]
Wenzel Jaksch wurde nach dem Ersten Weltkrieg zur großen Nachwuchshoffnung der sudetendeutschen Sozialdemokratie. Mit den beginnenden 1930er-Jahren stellte er sich zusehends gegen die Politik des damaligen Parteivorsitzenden und Ministers Ludwig Czech, dem er vorwarf, zu wenig die Nationalitätenfrage zu behandeln. Jaksch wollte eine Sozialdemokratie, die den Nazis mit einer demokratischen und profilierten Minderheitenpolitik den Wind aus den Segeln nimmt und die sich anderen Bevölkerungsgruppen öffnet. Man könnte Jaksch von daher als einen frühen Vertreter der Idee einer sozialdemokratischen Volkspartei betrachten. Noch 1938 wurde er zum Vorsitzenden der DSAP gewählt. Politisch konnte er aber nun nicht mehr allzu viel ausrichten. Nach dem Münchener Abkommen nutzte er seine internationalen Kontakte, um die Emigration der sudetendeutschen Sozialdemokratinnen und Sozialdemokraten zu ermöglichen. Beim Einmarsch der Wehrmacht in Prag flüchtete Jaksch in die britische Botschaft, verbrachte hier einige Nächte und floh dann als Handwerker verkleidet aus dem streng überwachten Gebäude. Getarnt als Skitourist, fuhr er mit dem Zug nach Osten und gelangte auf Skiern nach Polen. Von hier ging er über Schweden nach Großbritannien, wo er zum Kopf des sudetendeutschen sozialdemokratischen Exils wurde. In der Kriegszeit lieferte er sich große Auseinandersetzungen mit dem Präsidenten der tschechoslowakischen Exilregierung Edvard Beneš, der mit internationaler Billigung letztlich den übergroßen Teil der Sudetendeutschen nach Kriegsende aussiedeln wollte. In der Nachkriegszeit wurde Jaksch zu einem der bedeutendsten Vertriebenenpolitiker in der Bundesrepublik. Für die SPD saß er von 1953 bis zu seinem Tod 1966 im Bundestag und er gilt als einer der Vordenker der Neuen Ostpolitik Willy Brandts.
Der „Sozialdemokrat“ ist die erste Zeitung der sudetendeutschen Sozialdemokratie, die digital im Volltext vorliegt. Gibt es aus deiner Sicht ein Forschungsgebiet, dessen Bearbeitung mit Hilfe unseres digitalen Angebots besonders vielversprechend und wünschenswert wäre?
Die Digitalisierung des „Sozialdemokrat“ ist ein großer Sprung in der Forschung zur Geschichte der sudetendeutschen Antifaschistinnen und Antifaschisten. Diese Geschichte ist von großer Bedeutung für die heutigen deutsch-tschechischen Beziehungen, weil sie vom gemeinsamen Kampf für Freiheit und Demokratie und gegen den Nationalsozialismus erzählt. Aber auch fernab von dieser tschechoslowakischen Erzählung ist der „Sozialdemokratie“ eine extrem wichtige Quelle. Nach der Machtübernahme der Nationalsozialisten in Deutschland und der Errichtung des Ständestaats in Österreich war die sudetendeutsche Sozialdemokratie die letzte sozialdemokratische Partei, die noch unter demokratischen Verhältnissen arbeiten konnte. Im „Sozialdemokrat“ findet man von daher auch Diskussionen zum Aufstieg der Diktaturen. Man findet aber auch ganz viele Abhandlungen und Texte von geflohenen Sozialdemokratinnen und Sozialdemokraten. Die Geschichte der deutschen Demokratinnen und Demokraten spielte sich nach 1933 gerade auch in Prag ab und sie fand Abdruck im „Sozialdemokrat“, dem Kopfblatt der sudetendeutschen Sozialdemokratie.