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Versöhnen statt spalten: Eine immerwährende Aufgabe für jede Demokratie

Der ehemalige Bundespräsident Johannes Rau wäre am 16. Januar 2021 90 Jahre alt geworden. Zum Jubiläum erinnern wir an ihn in unserem Blog.

Am 16. Januar wäre Johannes Rau 90 Jahre alt geworden. Der SPD-Politiker wusste: Wenn die Fähigkeit verloren geht, sich gegenseitig zuzuhören und einen respektvollen Diskurs zu führen, ist Demokratie in Gefahr. 1987 stellte Johannes Rau den Leitgedanken „Versöhnen statt spalten“ ins Zentrum seiner Kanzlerkandidatur und damit eine immerwährende Aufgabe für jede demokratische Gesellschaft. Gerade vor dem Hintergrund des derzeitigen politisch polarisierten Klimas in Deutschland, in Europa und den USA erscheint sie aktueller denn je. Um als Politiker_in mit einer solchen Botschaft in den Wahlkampf zu ziehen, darf sie kein Lippenbekenntnis sein, birgt sie doch mit jeder Wiederholung das Risiko, ins Floskelhafte abzudriften. Auch gilt Durchsetzungsfähigkeit als Rezept für politischen Erfolg mitunter mehr als Aufrufe zu Solidarität, Rücksichtnahme und Mitgefühl.

Johannes Rau Leben und politisches Wirken zeigen die Ernsthaftigkeit und Authentizität, durch die er seinen Leitgedanken zum politischem Prinzip erhoben hat, als bekennender Christ, als Jungsozialist in Wuppertal; als Abgeordneter im Landtag Nordrhein-Westfalens; als NRW-Wissenschaftsminister und Ministerpräsident; und schließlich während seiner Jahre als Bundespräsident.

Die historische Verantwortung der Deutschen annehmen

1931 in Wuppertal-Barmen als Sohn eines Predigers geboren, engagierte sich Johannes Rau als Gymnasiast in der Bekennenden Kirche und übernahm deren Maxime „Ich halte stand, weil ich gehalten werde“. Seine Erfahrungen der nationalsozialistischen Diktatur, vor allem die Auseinandersetzung mit dem Zivilisationsbruch des Holocaust, haben ihn tief berührt und nachhaltig geprägt.

Bereits kurz nach dem Ende des Kriegs setzte sich Rau für die Förderung des christlich-jüdischen Dialogs und die entschiedene Bekämpfung antisemitischer Tendenzen in der Nachkriegsbevölkerung ein. So erklärte er als Reaktion auf antisemitische Schmierereien an den Wänden des Wuppertaler Theaters in seiner Funktion als 1. Vorsitzender der Jungsozialisten im SPD-Unterbezirk Wuppertal öffentlich: „Mit Empörung und Beschämung haben wir Jungsozialisten zur Kenntnis genommen, daß auch in Wuppertal antisemitische Strömungen leben und daß sie sich in unverschämter Weise äußern. Das beschmierte Plakat der Wuppertaler Bühnen, mit dem der Name Anne Franks herabgezogen werden soll, hat in diesen Tagen Zeugnis von diesem Ungeist gegeben. Wir möchten deutlich sagen, daß wir als junge Menschen nichts gemein haben möchten mit solchen Meinungen und Erzeugnissen irre geleiteten und verderblichen Geistes. Als alle die Dinge geschahen, die mit der Ermordung von fünf Millionen Juden durch Deutsche und mit dem Schicksal des Mädchens Anne Frank zusammenhängen, waren wir noch Kinder. Umso mehr möchten wir darauf achten, daß solcher Ungeist nicht wieder lebendig wird. Deshalb erklären wir uns solidarisch mit allen, denen die deutsch-jüdische Freundschaft wichtig ist“. (Rau/Wuppertal/1958)

Die historische Verantwortung der Deutschen anzunehmen und das Bewusstsein dafür wachzuhalten – gegenüber den Opfern des Holocaust und gegenüber den Nachbarn im Westen und Osten – blieb Johannes Rau ein dauerhaftes Anliegen. Auch Jahrzehnte später, nach der friedlichen Revolution in der DDR und der Wiedervereinigung im Jahr darauf, mahnte er, gerade jetzt dürfe die besondere Verpflichtung Deutschlands nicht in Vergessenheit geraten.

Im geeinten Deutschland warb er für eine bessere Art des Umgangs miteinander, dafür, den Andersdenkenden und das Andersartige auszuhalten und einen respektvollen Umgang miteinander zu pflegen.

Gräben und Gegensätze überwinden

„Versöhnen statt spalten“: Dass diese Botschaft nie alle erreichen und für eine offene, friedliche und respektvolle Gesellschaft gewinnen würde können, wurde Rau schmerzlich im Jahr 1993 bewusst: Am 29. Mai dieses Jahres starben fünf Menschen bei einem rassistisch motivierten Brandanschlag. 17 weitere wurden zum Teil lebensgefährlich verletzt. Damals äußerte der NRW-Ministerpräsident offen Selbstzweifel, ob politische Kultur durch politische und moralische Vorbildlichkeit beeinflussbar ist: „Es lohnt sich alles nicht, du kannst die Welt nicht verändern“. Er entschied aber für sich selbst, dass dies in der Demokratie möglich ist und dass es der nötigen Festigkeit in der Botschaft bedarf. Auch als Bundespräsident plädierte er in seinen Berliner Reden immer wieder für mehr Miteinander, mehr Sachlichkeit und Toleranz  zwischen allen gesellschaftlichen Gruppen, für den Abbau deutsch-deutscher Vorurteile, denen zwischen gläubigen und nicht-gläubigen Menschen, zwischen einheimisch-deutscher und Einwanderer-Kultur: „Wir müssen Realitätsblindheit und Illusionen überwinden, notwendige Entscheidungen anpacken und neue Wege gehen. Wir brauchen eine neue Anstrengung für das Zusammenleben aller Menschen in Deutschland - ohne Angst und ohne Träumereien.“ (Rau, Berlin, 2000).

Der ehemalige Vorsitzende der SPD Hans-Jochen Vogel würdigte Johannes Rau nach dessen Tod im Januar 2006 als einen Menschen, der den „Versuchungen der Macht widerstand“, der seinen Mitmenschen „im guten Sinne des Wortes diente“ und der „jeden einzelnen Menschen ernst nahm“. Rau hätte „in jeder Hinsicht den heute weit verbreiteten Klischees über das Tun und Lassen von Politikern“ widersprochen, „bei dem Reden und Tun übereinstimmten und der deshalb den Lebenden und den kommenden Generationen ein Vorbild sein kann“. (Vogel, Berlin, 7.2.2006)

Sicher ist: Jede Generation ist aufgerufen, Demokratie lebendig zu halten und den Dialog über den Konflikt zu stellen. Nicht nur in Deutschland. Wenn in Amerika heute gefordert wird, die Wunden zu heilen, die Spaltung zu überwinden und aufeinander zuzugehen, lohnt sich der Blick in die Biografie und die Reden des Sozialdemokraten Johannes Rau. Überlassen wir das Schlusswort also passenderweise dem ehemaligen Bundespräsidenten selbst: „Die Demokratie lebt vom geregelten Konflikt und von der Bereitschaft zur Verständigung, zum Konsens. Konflikt und Konsens gehören zusammen. Wir dürfen die Politik der Parteien kritisieren, aber wir dürfen die parlamentarische Demokratie nicht diffamieren.“ (Rau, Leipzig, 4.10.2003)

Sabine Kneib


Der Nachlass von Johannes Rau ist im Archiv der sozialen Demokratie in Bonn einsehbar.

Quellen, Schriften und Literatur zu Johannes Rau finden Sie hier


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