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Vorwärtsstürmende Jugend – zurück in der SPD-Parteibibliothek!

Die Friedrich-Ebert-Stiftung als Bewahrerin des erhaltenen Teils der alten, auf die Initiative von August Bebel zurückgehenden SPD-Parteibibliothek begrüßt einen „Neuzugang“: Das Kriminologische Seminar der Universität Bonn hat ihr einen schmalen Band übergeben, dessen Herkunft aus der Bibliothek der SPD, beglaubigt durch einen Katalogeintrag und einen schwachen Abdruck des Bibliotheksstempels, jüngst entdeckt worden war. Da das Buch auch den Besitzstempel des Instituts für Staatsforschung trägt, das es im Geschäftsjahr 1943/44 inventarisierte, kann es leicht als NS-Raubgut eingestuft werden.

Bei dem restituierten Buch handelt es sich um ein Exemplar der Schrift „Die Aufgabe des Staates gegenüber dem Verbrecherthume nach den Grundsätzen des Materialismus“ von Alfred Martin Cleß, erschienen 1875 im Verlag der Schabelitz’schen Buchhandlung in Zürich. Sowohl was die Publikation an sich als auch was das Exemplar betrifft, zeigt sich bei näherer Betrachtung manches Bemerkenswerte.

Alfred Cleß wurde 1852 in Stuttgart geboren. Als „Die Aufgabe des Staates …“, wohl seine erste Veröffentlichung, erschien, stand er im 23. Lebensjahr. Er war noch Student der Rechte, sein Referendarexamen sollte er erst im Juni 1876 ablegen. Jedoch mangelte es ihm nicht an Selbstvertrauen. Völlig selbständig sei er, schrieb er in seinem Vorwort, auf den Gedanken gekommen, „die Naturwissenschaft“ - statt der „Philosophie“ - „zur Grundlage des Strafrechts zu machen“. Ohne Vor- oder Mitkämpfer habe er den Gedanken zu einem vollen System entwickelt. Cleß‘ Anspruch war es, ausgehend vom Materialismus zu Wahrheiten zu gelangen und diese Wahrheiten durchzusetzen. Er wünschte sich Anhänger dieser Wahrheiten, „die für dieselben zu leben und zu sterben wissen“. Die Demutsformel, die Cleß konventionshalber in das Vorwort flocht, fiel so sehr aus dem Duktus, dass der Leser unseres Exemplars sie als auffällige Stelle unterstrich.

Cleß wählte nicht den nächstbesten Verlag, bei Schabelitz publizierten auch August Bebel und Friedrich Engels. Und er bat den seinerzeit berühmten Ludwig Büchner, der mit seinem 1855 erschienenen, vielfach neu aufgelegten und übersetzten Werk „Kraft und Stoff“ zu einer der Galionsfiguren des Materialismus geworden war, um ein Vorwort zu seiner Schrift. Büchner erfüllte den Wunsch, ließ dabei aber eine gewisse Reserve gegenüber der Schrift erkennen, indem er sie zweimal als „Werkchen“ bezeichnete und die enthaltenen Radikalismen mit der Jugend des Autors entschuldigte. Cleß in seinem Sturm und Drang wird es kaum gestört haben. Ob Gleiches für den eindeutigen Verriss galt, der seiner Abhandlung im März 1876 im „Literarischen Centralblatt“ zuteil wurde? Immerhin stammte die harsche Kritik („ ganz werthlose[s] Schriftchen“) von keinem Geringeren als Karl Binding, der sie in seinem 1877 abgeschlossenen großen Werk „Die Normen und ihre Übertretung“ wiederholte, dabei jedoch Cleß‘ Wahrheits- und Humanitätsstreben Anerkennung zollte.

Cleß absolvierte im November 1877 die Assessorprüfung und wurde Hilfsrichter in Geislingen. Schon nach wenigen Monaten suchte er jedoch um Entlassung aus dem Justizdienst nach, um sich in Stuttgart als Anwalt niederzulassen. Auf dem Umschlag unseres Exemplars findet dies seinen Niederschlag in einer handschriftlichen Notiz beim Verfassernamen: „jetzt 1878 Advokat in Stuttgardt“. Interessanter noch ist eine weitere Notiz von gleicher Hand, ebenfalls auf dem Umschlag: „1878 hat mir selbst gegenüber den Inhalt desavouirt“. Es liegt nahe, dass diese Notizen sowie die gelegentlichen An- und Unterstreichungen sowie Anmerkungen im Buch von Julius Motteler stammen, dessen Nachlassstempel sich im Innendeckel findet. Motteler war wie Cleß gebürtiger Württemberger, das mag den persönlichen Kontakt erklären.

Der Inhalt von Cleß‘ Schrift stellte sich aufs Äußerste gerafft und befreit von aller Polemik gegen Philosophen und Theologen so dar: In einer Gesellschaft, deren Mitglieder über echte Bildung verfügen, ist Verbrechertum unmöglich. Ursache allen Verbrechertums ist das Bildungsversagen von Staat und Gesellschaft. Nichtsdestoweniger müssen die Bürger vom Staat vor den Verbrechern geschützt werden. Deren Unschädlichmachung ist die - einzige - Rechtfertigung des Strafrechts. Legitime Strafe ist allein die einfache Freiheitsentziehung, die an der Begehung weiterer Verbrechen hindert. Verschärfungen wie Zuchthaus oder Nebenstrafen wie etwa Ehrenstrafen sind abzulehnen, ebenso die Ausbeutung der Arbeitskraft des Gefangenen. Im Anschluss an die Entwicklung der eigenen Thesen und Schlussfolgerungen handelte Cleß die bestehenden Straftheorien ab und befand sie sämtlich für völlig haltlos.

Dass Cleß seine Theorie alsbald fallen gelassen hat, ist nicht feststellbar. 1888 ließ er einen Vortrag „Über das Wesen der Strafe“ drucken. Zwar gedachte er hierin seiner 13 Jahre zurückliegenden Veröffentlichung nicht, sondern verwies stattdessen auf eine Schrift mit dem Titel „Privatökonomie und Sozialökonomie“, die er 1886 anonym hatte erscheinen lassen (wiederum bei Schabelitz) und zu der er sich nunmehr bekannte. Cleß‘ Positionen waren jedoch 1888 nicht wesentlich andere als 1875: In erster Linie hat die Strafe die Funktion, den Verbrecher unschädlich zu machen. Abschreckung und Besserung wird eine Nebenrolle zugestanden. Der Strafvollzug muss human sein. Die These, letztlich sei die Gesellschaft Urheberin der Verbrechen, mutet Cleß seinem Vortragspublikum nicht zu; man kann sie jedoch hinter der Zurückweisung der Ansicht erahnen, die Verbrechen nähmen zu, weil Strafen und Strafvollzug nicht hart genug seien.

Wirklicher Erfolg scheint Cleß weder als Schriftsteller noch als Jurist beschieden gewesen zu sein. Er kehrte noch einmal in den württembergischen Justizdienst zurück - als Amtsrichter in Balingen - und schied wieder aus. „Privatökonomie und Sozialökonomie“ wurde 1887 in „Die Neue Zeit“ nicht ungünstig besprochen, der anonyme Rezensent lobte dessen Verschiedenheit von den neuerdings so zahlreichen „sozialreformatorischen“ Abhandlungen. Die Rezension einer weiteren Cleß-Schrift (Ein Zukunftsbild der Menschheit, Zürich 1893) in „Die Neue Zeit“ war dagegen unverkennbar spöttisch gefärbt. Für den Rezensenten „bn“, vermutlich Eduard Bernstein, war Cleß ein Schwärmer, von dem im Kampf für die politischen, sozialen und ökonomischen Interessen der Arbeiterklasse keine Hilfe zu erwarten war. Diese Einschätzung war wohl nicht falsch. Cleß wanderte kurze Zeit später in die USA aus und ließ sich in Kalifornien nieder. Er schrieb dort Zeitungsartikel, die er 1898 gesammelt unter dem Titel „Theoretischer Anarchismus“ als Buch veröffentlichte. Eine amerikanische Zeitung stellte ihn 1895 als vermögenden Deutschen dar, der die Scheidung seiner Ehe betrieb. Mehr als ein weiteres Jahrzehnt lang publizierte Cleß über „natürliche Ökonomie“, „Individualismus“, „die Lösung der sozialen Frage“. Widerhall fanden diese Publikationen, obgleich sie im angesehenen Dresdener Verlag Pierson erschienen, nicht mehr.

Man ist geneigt, für den Misserfolg von Cleß‘ Schriften seinen Doktrinarismus und seinen brachial-polemischen Stil verantwortlich zu machen, von denen er nicht abließ. Mit Geduld und Geschick für seine Position zu werben, war ihm offenbar nicht gegeben; seine Methode war das verbale Einschlagen auf die Gegner. Hätte Cleß die Humanisierung des Strafwesens, für die er eintrat, mit dem von ihm herausgearbeiteten Dilemma des Staates - dieser hat das Verbrechertum durch Versäumnisse verschuldet, muss ihm aber mit dem Strafrecht begegnen - theoretisch untermauert, hätte ihm sicher mancher folgen können. Doch trotz Büchner, trotz Binding: Cleß‘ Erstlingsschrift erscheint zugleich als seine stärkste. Über die Übertreibungen lässt sich hier am leichtesten hinwegsehen. Bei der Lektüre begegnet eine Fülle fortschrittlicher Gedanken. Cleß plädiert für gewaltfreie Erziehung, Bildung für Arm und Reich (deshalb kostenlos bis hinauf zur Hochschule) und für beide Geschlechter, Gefangenenrechte, Gleichbehandlung der Gefangenen. Am Ende einer Fußnote, die das Wesen des Notstandes und die aus ihm folgende Straflosigkeit behandelt, wird sogar ausgesprochen, dass Diebstähle häufig Notstandshandlungen seien. Darum hat dieses Buch - und das restituierte Exemplar sowieso - seinen rechtmäßigen Platz im Archiv der sozialen Demokratie.

Carl Erich Kesper

Weitere Informationen zum "Projekt Provenienzforschung" der Bibliothek finden Sie hier.


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