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Ohne airbnb, ohne Flugzeug oder Interrail, mit wenig Geld aber viel Idealismus treffen sich im Sommer 1929 etwa 50.000 junge Menschen aus ganz Europa für drei Tage in Wien. Hier findet das zweite Internationale Sozialistische Jugendtreffen statt - das größte in der Geschichte der sozialistischen Bewegung.
Bild: Sozialistisches Jugendtreffen 1929 von FES-Bibliothek Buch zum Internationalen Jugendtreffen 1929
Die "nahestehenden" Zeitungen übertreffen sich gegenseitig mit bewundernden wie anfeuernden Titeln: "Der Marsch der roten Jugend: das hohe Lied der Arbeitersolidarität in Wien" (Der Abend, Berlin, 15. Juli 1929), "Die rote Jugend im roten Wien" (Arbeiter-Zeitung, Wien, 12. Juli 1929), "Die Jugend beherrscht Wien" (Arbeiter-Zeitung, Wien, 13. Juli 2019), "Die Jugend marschiert: der strahlendste Festzug, den Wien je gesehen hat" (Arbeiter-Zeitung, Wien, 15. Juli 1929) und - na klar - "Die Zukunft gehört dem Sozialismus" (Jugend-Vorwärts, Berlin, 30. Juli 1929).
Das Pathos der Texte erscheint dem Leser heute befremdlich: "Marsch", "Aufmarsch" oder "Heerschau" erwecken eher zwiespältige Assoziationen. Aber in der Tat: Das, was sich in Wien abspielt, ist die machtvolle Kundgebung einer Jugendbewegung, die sich rund 10 Jahre nach dem Desaster des Ersten Weltkriegs zur Demokratie, zum Völkerfrieden und zum Sozialismus bekennt. Und die österreichische Hauptstadt ist der richtige Ort dafür: Das sozialdemokratisch regierte "Rote Wien" mit seiner revolutionären Wohnungsbaupolitik setzt in den 1920er Jahren neue Maßstäbe in der Sozial- und Kommunalpolitik der jungen Demokratien in Europa.
So etablierte die Wiener Sozialdemokratie systematisch eine kommunale Kinder- und Jugendfürsorge (statt der bisherigen kirchlichen oder privaten Wohlfahrtseinrichtungen) - ein Netzwerk von städtischen Beratungsstellen, Kinderübernahmestellen, Jugendämtern und Jugendheimen, Kindergärten etc., um die sozialen Lebensverhältnisse insbesondere kinderreicher Arbeiterfamilien zu verbessern.
Neue pädagogische Konzepte und eine Schulreform wurden dem übergroßen Einfluss der Kirche auf die schulische Bildung entgegengesetzt. Praktische sozialistische Erziehungsarbeit leisteten die "Kinderfreunde", deren pädagogisches, emanzipatorisches Konzept als Gegenentwurf zur bisherigen autoritären Erziehung in Schule und Elternhaus wirken sollte. In den sommerlichen "Kinderrepubliken" wurden demokratische Selbstverwaltung und solidarisches Zusammenleben in der Gruppe eingeübt.
Regelungen zum Arbeitsschutz, etwa ein Verbot der Nachtarbeit für Jugendliche oder Anspruch auf bezahlten Urlaub, waren eingeführt worden. Mit den Regelungen des Hausgehilfengesetzes hatte man versucht, die prekäre Situation insbesondere der Hausbediensteten zu verbessern: Festschreibung von Ruhezeiten, Recht auf Sonntagsausgang sowie Anspruch auf einen verschließbaren(!) Schlafraum.
Das Jugendfest wird auf dem Heldenplatz vom Wiener Bürgermeister Seitz feierlich eröffnet. Der deutsche Reichstagsabgeordnete Crispien ruft die Teilnehmenden auf: "Sozialistische Jugend, trage die rote Fahne allen Unterdrückten voran, zum Kampf gegen den Aufruhr der Kapitalisten, für die Menschenrechte … für Völkerfrieden und Freiheit!"
Die Jugend-Internationale sieht sich "tatkräftig, zukunftsfreudig, kampfbereit". Der Glaube an die Revolution ist groß: unter den Veranstaltungen gibt es eine Revolutionsfeier, Revolutionsgedichte, Chorwerke und ein Volksstück "1848".
Das Programm umfasst Vorträge und Führungen zum alten und neuen Wien, Theateraufführungen, Konzerte, ein Sportfest, einen abendlichen Fackelzug. Höhepunkt und Abschluss ist ein kilometerlanger Festzug über die Ringstraße. Im Anschluss bieten die Naturfreunde größere Wanderungen im Salzkammergut oder Glockner-Gebiet an.
Die sozialistische Jugend feiert sich selbst und ist davon überzeugt: "Auf uns kommt es an!" "Freundschaft!" ist Gruß und allumfassende Parole. Ein neuer Krieg, der Sieg des Faschismus - undenkbar. Dennoch werden die Träume von einer besseren, weil sozialistischen Zukunft zerstört. Die prägenden Politiker des Roten Wiens werden ab 1934 verhaftet, flüchten ins Exil oder bezahlen ihre Überzeugung mit dem Tod. Ähnlich ergeht es vielen der Teilnehmer des Jugendtreffens in ihren Heimatländern: so flüchtet Erich Ollenhauer, 1929 als Sekretär der Sozialistischen Jugendinternationale dabei, mit dem SPD-Parteivorstand 1933 ins Exil. Koos Vorrink, Vorsitzender der niederländischen Arbeiterjugendzentrale, geht nach der Besetzung der Niederlande zunächst in den Untergrund, wird aber 1943 verhaftet und überlebt das KZ Sachsenhausen. Otto Felix Kanitz, Hauptorganisator des Jugendtreffens, engagiert bei der österreichischen Sozialistischen Arbeiterjugend und den Kinderfreunden, stirbt 1940 im KZ Buchenwald.
90 Jahre nach dem zweiten internationalen Sozialistischen Jugendtreffen erinnert das Museum "Das Rote Wien im Waschsalon Karl-Marx-Hof" an dieses Jugendfest und seinen Organisator Otto Felix Kanitz.Das Wien-Museum zeigt bis zum 19. Januar 2020 die Ausstellung "Das Rote Wien 1919-1934".Die Bibliothek der Friedrich-Ebert-Stiftung hält eine Vielzahl von Veröffentlichungen z. B. zur Sozialistischen Jugendinternationale bereit.Im Portal "Historische Presse der deutschen Sozialdemokratie online" können Sie zur Berichterstattung über das sozialistische Jugendtreffen in sozialdemokratischen Zeitungen wie dem Vorwärts recherchieren.