Der schwarze Tod und die weiße Salbe

Am 10. August 1912 berichtet der „Vorwärts“ über ein katastrophales Grubenunglück auf der Zeche Lothringen in Bochum-Gerthe, bei dem über 100 Bergleute ums Leben kamen. Nur wenige Tage später ereignet sich ein weiterer, für viele Arbeiter tödlicher Unfall im Dortmunder Stahlwerk Hoesch.

Eine Gruppenfoto mit Bergarbeitern. Am unteren Rand eine Tafel mit der Aufschrift: "Glück auf Aachen 1910"

Bild: Glück auf! Bergarbeiter aus Aachen 1910 von Robert lizenziert unter CC BY-SA 2.0 Die hier abgebildeten Bergarbeiter lebten zwar in Aachen und nicht in Bochum oder Dortmund. Wir haben dennoch gerade dieses Bild gewählt, weil es sehr eindrücklich zeigt, wie die Arbeiter, um die es im Text geht, ausgesehen haben und auf welche Weise sie in Erinnerung bleiben wollten.

Wenn mit der voraussichtlich für das Jahr 2018 zu erwartenden Schließung des Bergwerkes „Prosper-Haniel“ das letzte Steinkohlebergwerk im Ruhrgebiet stillgelegt ist, beendet dies zugleich ein über 150 Jahre währendes Kapitel deutscher und insbesondere Ruhrgebietsgeschichte, die wiederum eng verknüpft ist mit der Geschichte der deutschen Sozialdemokratie. Denn ebenso wie die Arbeiter_innen in anderen Regionen und Industriezweigen zählten die Menschen im „Revier“, geprägt durch das oft harte und entbehrungsreiche Leben zwischen Zechen und Stahlwerken, zur sozialdemokratischen Kernklientel.

Das Ruhrgebiet der Gegenwart hat, zumindest in Teilen, nur noch wenig mit der Region zu tun, in der die Schwerindustrie ihre Arbeiter, die „Kumpel“ und Stahlwerker, vor teilweise extreme physische und psychische Herausforderungen stellte. Heute kann dies in vielen Museen, ehemaligen Zechen oder anderen früheren Industrieanlagen anschaulich nachvollzogen werden. Zahlreiche künstlerische oder literarische Darstellungen zeichnen die Lebenswirklichkeit im Ruhrgebiet und anderen Industrierevieren nach, wissenschaftliche Arbeiten analysieren die vielfältigen Aspekte der Lebens- und Arbeitswelten von Bergleuten und ihre Familien, beispielsweise in der Geschichte des deutschen Bergbaus, und immer noch können Menschen, die es selber erlebt oder von ihren Eltern erfahren haben, von den Risiken und Gefahren berichten, die das Leben im Industrierevier in spezieller Weise prägten. Neben solchen Erlebnisberichte sind es die Texte in Zeitungen, verfasst unter dem Eindruck der leider nicht seltenen Unglücke, die es möglich machen, die Dramatik der Ereignisse ebenso zu erfassen wie den Kampf der Arbeiter um halbwegs akzeptable Arbeitsbedingungen. Nicht zuletzt vor diesem Hintergrund fanden Meldungen über besonders schwere Unglücke auch Eingang in die Berichterstattung des überregionalen „Vorwärts“.

Unter der Überschrift „Der schwarze Tod und die weiße Salbe“ berichtet der "Vorwärts" vom 10. August 1912 über eines der schwersten Unglücke im Ruhrgebietsbergbau. Durch eine Schlagwetterexplosion kamen am 8. August 1912 auf der Zeche „Lothringen“ in Gerthe, einem heutigen Stadtteil Bochums, über 100 Bergleute ums Leben. Neben den Details der Katastrophe und der Darstellung ihrer wahrscheinlichen Ursache lässt der Artikel auch erahnen, wie schwierig es für Arbeiter und Gewerkschaften war, den Arbeitsschutz unter Tage zu verbessern und für bessere und menschenwürdige Arbeitsbedingungen zu sorgen. Zwar durften seit dem Jahr 1909 Sicherheitsmänner als von der Arbeiterschaft gewählte Vertreter die Sicherheits- und Gesundheitsstandards kontrollieren, nachdem lange Zeit eine solche Maßnahme von den Unternehmern und Bergbehörden bekämpft und verhindert worden war. Ihr Einfluss auf eine tatsächliche Verbesserung der Sicherheitsstandards war jedoch, das verdeutlicht der Bericht, weiterhin begrenzt, und schwere Unglücke prägten ebenso wie ein insgesamt mangelhafter Gesundheitsschutz die Arbeit an der Ruhr und den weiteren Bergbauregionen noch für viele weitere Jahre.

Dabei war das Leben der Arbeiter nicht nur unter Tage gefährdet. Nur fünf Tage nach der Katastrophe in Gerthe kam es auf dem Gelände des Dortmunder Stahlwerkes Hoesch zu einem weiteren Unglück. Viele Arbeiter wurden von einer abrutschenden Schlackenhalde verschüttet und dabei tödlich verletzt. So konstatierte der "Vorwärts" am 15. August 1912: „Der Tod hält auf dem Schlachtfelde der Arbeit gewaltig Ernte“, (), um im selben Text zu schlussfolgern: „Die Katastrophe auf Hoesch beleuchtet […]  einmal wieder die von Wilhelm II vor acht Tagen in Essen gepriesene Humanität und Arbeiterfreundlichkeit des großindustriellen Unternehmertums in der grellsten Weise. Beides besteht nur in der Theorie, in der Praxis gilt nur der Profit. In der Tat sind die Sünden des Kapitalismus himmelschreiend, das Maß der Schuld ist trotz der kaiserlichen Unkenntnis der Dinge bis zum Rande gefüllt.


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