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Wie kann Opfern von häuslicher Gewalt während der COVID-19 Pandemie geholfen werden? Ein Beitrag von Mari Davtyan.
Bild: woman von Kristina Paukshtite / Pexels lizenziert unter CC0
Auf dem ganzen Planeten sind Menschen derzeit in ihren Häusern eingesperrt. Um die Weiterverbreitung des Virus einzudämmen, haben auch in Russland die Behörden in allen Regionen wegen der Infizierungsgefahr ein sogenanntes „Regime der erhöhten Bereitschaft“ eingeführt: Die meisten Betriebe sind geschlossen. Menschen begeben sich in Quarantäne bzw. Selbstisolierung. Die Quarantäne- und Isolationsmaßnahmen erhöhen häusliche Gewalt einerseits, und andererseits erschweren sie die Reaktions- bzw. Fluchtmöglichkeiten für Opfer häuslicher Gewalt dramatisch.
Russland ist das letzte Mitgliedsland des Europarates, das immer noch kein Gesetz gegen häusliche Gewalt besitzt und dafür wiederholt von der internationalen Gemeinschaft stark kritisiert wird. Neben dem Gesetz fehlt es an wirksamer Prävention im Alltag sowie an Unterstützungsangeboten für Opfer häuslicher Gewalt. Von Gewalt betroffene Personen können nur wenig auf einen Schutz durch den Staat bauen.
Wie stark das Ausmaß häuslicher Gewalt in der Corona-Pandemie zunehmen wird, ist momentan schwer vorherzusagen. Offizielle Statistiken zu häuslicher Gewalt sind in Russland kaum vorhanden oder unvollständig. Russische NGOs stellen allerdings schon fest, dass die Zahl von Hilferufen wegen häuslicher Gewalt zugenommen hat. Das Zentrum „Anna“ hat beispielsweise bei der Inanspruchnahme des russlandweiten Hilfetelefons für von Gewalt betroffene Frauen im Vergleich zu Februar 2020 im März 2020 einen Anstieg von 24 Prozent registriert. Das Frauen-Krisenzentrum „Kitesch“ erhielt um 15 Prozent mehr Hilferufe. Ein weiteres Anwachsen ist wahrscheinlich. Obwohl die jetzige Situation eigentlich keine Präzedenzfälle kennt, hilft ein Blick auf die Bedingungen, unter denen bislang häusliche Gewalt verstärkt auftrat: Das sind verlängerte Wochenenden und Feiertage. Häufig ist das eine Zeit, in der vergleichsweise viel Alkohol konsumiert wird und viele Frauen die Zeit fast ausschließlich mit ihren Partnern verbringen. Die aktuelle Corona-„Normalität“ gleicht hinsichtlich der häuslichen Isolation verlängerten Wochenenden.
Zusätzlich zur gegenwärtig sogar erzwungenen Isolation, die zudem über die Länge verlängerter Wochenenden hinaus geht und deren Ende offen ist, mehren sich häusliche Gewaltfälle und werden aggressiver auch deshalb, weil der Aggressor sich die ganze Zeit im gemeinsamen Haushalt mit seinem Opfer befindet und es fast vollständig kontrollieren kann. Dadurch haben Gewaltopfer in der Regel keine Möglichkeit, sich Hilfe zu holen, beispielswiese durch einen Anruf oder einen Besuch bei Verwandtschaft oder Freunden. Gewöhnlich können die Opfer nur in der Zeit, wo der Aggressor nicht zu Hause ist, Schutzmaßnahmen für sich ergreifen, wie beispielsweise die gemeinsame Wohnung zu verlassen. Von Gewalt betroffene Frauen kommen aktuell aber auch schwieriger vom Ort der Gewalt weg, weil in vielen Regionen die Benutzung der öffentlichen Nahverkehrsmittel eingeschränkt ist und der Taxiservice nicht funktioniert.
Selbst, wenn die Flucht gelingt, nehmen in vielen Regionen die Polizeibeamt_innen keine Bürger_innenbeschwerden mehr entgegen; sie folgen der Anweisung, keine kleineren Delikte zu untersuchen. Viele medizinische Einrichtungen sind ausschließlich auf die Behandlung von Corona-Kranken umgestellt worden. Der Kampf gegen die Pandemie ist gegenwärtig die Hauptaufgabe aller Hilfeinstanzen. Gleichzeitig schaffen die Maßnahmen, die die russischen Behörden zur Sicherung des Lockdown-Regimes ergreifen – digitale Passierscheine, Geldstrafen usw. – eine zusätzliche soziale Verunsicherung und Anspannung. Die gewöhnlichen Barrieren von gewaltbetroffenen Frauen – wie die Angst, noch mehr Aggression zu provozieren, und allgemeine Zukunftsängste – werden durch die gegenwärtige Angst sich anzustecken verstärkt, oder aufgrund von Ansteckung in Quarantäne zu müssen.
Russland kämpft seit Jahren mit dem großen Mangel an Krisenzentren und Asyl für Frauen, die unter häuslicher Gewalt leiden. Die ergriffenen COVID-Maßnahmen führen dazu, dass sich diese ohnehin unbefriedigende Lage noch dramatisch verschlimmert. Zahlreiche Krisenzentren mussten schließen oder können nur begrenzt Opfer aufnehmen, denn es fehlt an Schutzmasken, an Desinfektionsmitteln – und an Budget. Dazu kommt, dass die Lebensmittelpreisestark gewachsen sind und gleichzeitig Geld für zusätzliche medizinische Artikel verwendet werden muss. Wenn die Situation sich nicht schnell ändert, werden auch die letzten Zufluchtsorte schließen müssen.
An Ideen, wie Opfer von häuslicher Gewalt in der COVID-Krise unterstützt werden können, mangelt es nicht. Der Staat muss sie nur hören und umsetzen: Mit dem Aufruf, Krisenzentren und Opfer häuslicher Gewalt stärker zu unterstützen, wandten sich neun russische NGOs öffentlich an die Regierung Russlands. Zu ihren Vorschlägen zählen: ein Koordinierungszentrum in jeder Region mit ausreichend Plätzen sowie gezielte mediale Unterstützung, damit Betroffene die Anlaufstelle kennen. Dort, wo das nicht möglich ist, könnten provisorische Asyle eingerichtet werden zum Beispiel in Hotels. Regionale Behörden müssen Polizeibeamt_innen und anderes Fachpersonal (z.B. in Krankenhäusern) anweisen, auf Beschwerden häuslicher Gewalt sofort zu reagieren und die Sicherheit der Betroffenen zu gewährleisten. Die Bekämpfung der Pandemie darf von Gewalt betroffene Frauen nicht noch zusätzlich bestrafen. Stattdessen müssen sie endlich in den Fokus der Debatten und der politischen Unterstützung kommen. Der Nachholbedarf ist in Russland besonders groß.
Autorin:
Mari Davtyan ist praktizierende Anwältin. Seit 2010 ist sie Expertin für Schutz von Frauenrechten beim Zusammenschluss russischer NGOs zum Schutz der Frauenrecht Frauen-Nichtregierungsorganisationen. Mari ist Mitglied in der Arbeitsgruppe der Staatsdumas der Russischen Föderation, die das föderale Gesetz „Zur Vorbeugung von häuslicher Gewalt“ ausarbeitet.
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