Mit Sicherheit zum Wahlerfolg?

Sicherheit, Frieden, Demokratie – rauf und runter. Noch nie waren Wahlkämpfe um das Europaparlament so sicherheitszentriert wie dieses Mal. Die Zeitenwende, so scheint es, wirft bisherige „Wahlkampfgewissheiten“ über den Haufen.

In diesem Europawahlkampf scheint „Sicherheit“ nicht nur für die deutsche Sozialdemokratie ein „magisches Wort“ zu sein. Das europäische Nachrichtenportal „Euractiv“ erhebt es gleich zur Gesamtstrategie der europäischen Sozialdemokratie. Insbesondere in Frankreich punkten die Sozialisten im Wahlkampf mit diesem Thema und ernten Zuspruch wie lange nicht mehr. Angesichts der vielfältigen internationalen Krisen und Konflikte ist die Frage nach der Sicherheit Europas so präsent wie nie zuvor.


Längst ist deutlich, dass es beim Thema einer starken gemeinsamen Sicherheitspolitik zudem Gemeinsamkeiten in den außen- und sicherheitspolitischen Vorstellungen der europäischen Konservativen, Liberalen und Sozialdemokrat_innen gibt. Hier könnte es angesichts der Befürchtungen eines europaweiten Rechtsruckes ums Ganze gehen. Gelingt es den demokratischen Parteien am 9. Juni ihre Mehrheit im Europäischen Parlament gegen rechte Kräfte und Euroskeptiker zu verteidigen, kann das EU-Parlament weiterhin ein Motor für gemeinsame europäische Ansätze bleiben. Ideen für das neue Amt eines oder einer Verteidigungskommissar_in, einer prominenteren Rolle des Parlaments sowie der Stärkung der europäischen Verteidigungsindustrie könnten somit auch in Zukunft an Gestalt gewinnen.


Dabei haben Putins Krieg gegen die Ukraine und die Zunahme internationaler Konflikte bereits in den letzten Jahren dazu geführt, dass die EU in Sachen Sicherheit Initiativen ergriffen hat, die noch vor Kurzem unvorstellbar schienen. Dazu gehören die finanziellen Hilfen für die Ukraine aus dem EU-Budget, der zusätzliche Fonds Europäische Friedensfazilität (EFF) zur Finanzierung außenpolitischer Maßnahmen mit militärischen oder verteidigungspolitischen Bezügen bis hin zur Strategie für die europäische Verteidigungsindustrie. Debattiert wird längst auch über Cybersicherheit, Terrorismusbekämpfung, wirtschaftliche Sicherheit und den Schutz demokratischer Institutionen. In Brüssel und Straßburg bemüht man sich stets auch um die demokratische Legitimation und Kontrolle und ringt dort um Ansätze zur Stärkung der Rolle des Europäischen Parlaments.

Das dies Themen der nationalen EU-Wahlkämpfe geworden sind, grenzt dennoch an ein Wunder. Galt in den Wahlkampagnen doch bislang stets außenpolitische Zurückhaltung als das beste Rezept. Und nun: Sicherheit, Frieden, Demokratie, rauf und runter. Noch nie waren Wahlkämpfe um das Europaparlament so Sicherheits-zentriert wie dieses Mal. Die Zeitenwende, so scheint es, wirft Wahlkampfgewissheiten über den Haufen.


Der französische Spitzenkandidat der sozialistischen Liste „Reveiller l’Europe“ (Europa Wachrütteln), Raphaël Glucksmann, verkörpert diesen Wandel geradezu idealtypisch. Dieser Kurs beschert den Sozialisten ungeahnte Spitzenwerte mit bis zu 15 Prozent Zustimmung in den jüngsten Umfragen. Damit steuert die progressive Liste in Frankreich auf den dritten Platz hinter dem rechtsextremen Rassemblement National (RN) und der Liste von Präsident Emmanuel Macron zu. Diesen Erfolg verdankt Glucksmann vor allem, das zeigen Analysen, seinem expliziten Fokus auf die Sicherheitspolitik.


Für Glucksmann besteht kein Zweifel, dass angesichts der Kriege in der Ukraine und in Gaza sowie zunehmender geopolitischer Spannungen ein starkes Europa das zentrale Thema des künftigen Europäischen Parlaments sein muss. Die französischen Sozialisten fordern mit ihm einen 100-Milliarden-Euro-Fonds für Europas Verteidigung, nach dem Vorbild des Corona-Wiederaufbaufonds - ein in Frankreich populäres Anliegen. Weiterhin stehen Europas strategische Autonomie, die Verringerung wirtschaftlicher Abhängigkeiten und der Ausbau von europäischen Kapazitäten in der Rüstung und bei erneuerbaren Energien im Zentrum der Kampagne.  


Er spricht sich klar für die Unterstützung und Westintegration der Ukraine aus und sieht die Volksrepublik China kritischer als Präsident Macron, der Peking immer wieder gerne Freundschaftsangebote macht. Damit gelingt es den Sozialisten nicht nur, von Macrons innenpolitischem Rechtsruck verprellte Wählerinnen und Wähler anzusprechen und sich deutlich als „vernünftige“ Mitte zu positionieren. Sie grenzen sich zudem erfolgreich von der linkspopulistischen La France Insoumise (LFI) Jean-Luc Mélenchons ab. Dieser propagiert einen russlandfreundlichen und europakritischen Kurs, bei dem er die NATO oder eine geopolitische EU ablehnt. Strategische Autonomie wird bei LFI gegen die USA definiert. Französische Nuklearwaffen sollen zudem der rein nationalen Abschreckung dienen. Während LFI damit in der Wähler_innen-Gunst stark abgestiegen ist und bei nur rund sechs Prozent liegt, punktet Glucksmann mit dem Fokus auf eine gemeinsame europäische Sicherheitspolitik. 


Doch bei allem Zuspruch für die progressive Liste in Frankreich – der rechtsextreme Rassemblement National (RN) wird die EU-Wahl in Frankreich höchstwahrscheinlich mit großem Vorsprung gewinnen. So bleibt sowohl für Paris als auch für Berlin der drohende Rechtsruck und die manifeste EU-Feindschaft das Damoklesschwert über dem europäischen Projekt. Die rechtsextremen Parteien lehnen die heutige Form der EU ab. Stattdessen fordern sie ein Europa der ‚souveränen‘ Nationalstaaten. Eine Vergemeinschaftung der Außen- und Sicherheitspolitik ist für sie nicht vorstellbar.  
 

Die Schwächung demokratischer Normen, eine bewusste Polarisierung und die Anbiederung an autoritäre Mächte sind zentrale Positionen für Parteien wie AfD und Rassemblement National. Ein Fakt, den auch Glucksmann in seiner Debatte mit RN-Spitzenkandidat Jordan Bardella machte. Sollten die Rechten nach den Wahlen so stark werden, wie befürchtet, könnten sie zentrale Vorhaben wie den „Green Deal“ oder die Unterstützung der Ukraine blockieren. Der Zusammenhalt in Europa wäre dann massiv gefährdet. 


Auch Präsident Macron hat erkannt, dass die Europawahlen von Sicherheitsfragen geprägt werden. So fordert auch seine Liste einen 100-Milliarden-Euro Fonds. Zusätzlich bringt der Präsident sich selbst zunehmend in den Wahlkampf ein und hielt am 25. April eine groß angekündigte Rede zur Zukunft Europas. Allerdings scheint er nicht mehr die politische Kraft zu haben seine Warnung wonach „Unser Europa sterben könnte“ mit konkreten Politikvorschlägen zu verhindern. Seine Rufe nach einer stärkeren Zusammenarbeit der europäischen Rüstungsindustrien oder strategischer Autonomie sind längst kein Alleinstellungsmerkmal mehr. Der Versuch „die strategische Ambiguität“ gegenüber Russland wiederherzustellen, indem er den Einsatz von Truppen in der Ukraine nicht ausschließt, scheint die Wählerschaft eher zu verschrecken. So droht er nach der Europawahl endgültig zu einer lahmen Ente zu werden: Zuhause ohne Mehrheit in der Nationalversammlung, gehemmt durch ein wachsendes Haushaltsdefizit und ohne starke Gruppe im EU-Parlament.

 

Felix Kösterke ist bis Februar 2024 Redakteur des Fokusportals Zeitenwende bei der Friedrich-Ebert-Stiftung in Berlin. Zuvor war er unter anderem bei Interpeace in Brüssel sowie im Abgeordnetenbüro eines Mitglieds des Verteidigungsausschusses im Deutschen Bundestag tätig. Er hat Politikwissenschaft und Kommunikation in Mainz und Straßburg studiert und befindet sich im letzten Semester seines Masterstudiums der Internationalen Sicherheit an der Sciences Po in Paris.  

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