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Bild: Sprachkurs für türkische Arbeitnehmer_innen, 1968; Rechte: Önder Ertogan, St. Augustin; Quelle: AWO-Bestand, AdsD.
Am 30. Oktober 2021 jährt sich der Abschluss des Anwerbeabkommens zwischen der Bundesrepublik Deutschland und der Türkei zum 60. Mal. Diese schlichte Übereinkunft brachte ab 1961 hunderttausende Menschen aus der Türkei als Arbeitskräfte nach Deutschland. Viele der gerufenen „Gastarbeiter“ blieben. Heute leben knapp 3 Millionen Türkeistämmige in Deutschland, in vielen Fällen geht ihre Familiengeschichte auf die „Gastarbeit“ zurück.
Dieser 60. Jahrestag steht besonders im Rampenlicht. Zahlreiche Reden, Veranstaltungen und Reportagen widmen sich diesem Anlass und würdigen die zentrale Rolle, die die Migration für die Gesellschaft in der zweiten Hälfte des 20. Jahrhunderts gespielt hat. Bundespräsident Frank-Walter Steinmeier schob in seinen gleich drei prominenten Reden zum deutsch-türkischen Anwerbeabkommen einen Paradigmenwechsel zur Betrachtung der post-migrantischen Gesellschaft Deutschlands an: In Deutschland lebten nicht „Menschen mit Migrationshintergrund“, vielmehr sei Deutschland ein ganzes „Land mit Migrationshintergrund“.
Diesen Perspektivwechsel sollte auch die historische Migrationsforschung verstärkt beherzigen und die handelnden Menschen und ihre Entscheidungen in der Gesellschaft ins Zentrum der Forschung rücken. Schon einmal ging eine solche Intervention eines Bundespräsidenten – in diesem Fall unmittelbar an die Historiker*innen des deutschsprachigen Raumes gerichtet – einer bemerkenswerten Fülle an Publikationen voraus: 2002 wandte sich der damalige Bundespräsident Johannes Rau mit folgendem Appell an den Historiker*innentag in Halle: „Gewiss hilft uns ein Blick auf die oft vergessene Geschichte der Migration in Deutschland – und der Auswanderung von Deutschen - eine lange Geschichte und letztlich auch eine sehr erfolgreiche Geschichte.“ Ohne der Rede Raus die Verantwortung für das Aufblühen eines Forschungszweigs zusprechen zu wollen, wurden in den unmittelbaren Folgejahren doch eine ganze Reihe von Qualifikationsschriften publiziert, die bis heute als Eckpfeiler für die Migrationsgeschichte Deutschlands im Allgemeinen und die Geschichte der Arbeitsmigration im Speziellen gelten müssen.
Bedauerlicherweise ebbte die Auseinandersetzung mit der Migration in einer historischen Perspektive dann wieder ab – auch aufgrund der archivischen Sperrfristen. Es war vor allem die kritische Migrationsforschung, deren Ursprung in erster Linie in der Soziologie und der Politikwissenschaft zu verorten ist, die den expliziten Appell erneut auf das Tableau brachte. „Die Migrationsforschung entmigrantisieren und die Gesellschaftsforschung migrantisieren“, forderte ein zentraler Debattenbeitrag der Forschungsrichtung 2014. Mit Blick auf die Geschichtswissenschaften sind unmittelbare Forschungsergebnisse, die sich diesem Ansatz verschreiben, jedoch ausgeblieben.
Mit Blick auf die aktuelle Forschungslandschaft sind jedoch zwei erfreuliche Entwicklungen auszumachen. Zum einen entstehen gerade zahlreiche Studien, die sich der (Arbeits-)Migration auch in ihren alltäglichen Bezügen widmen. Deutschlandweit setzen sich (vor allem junge) Historiker*innen mit post-migrantischen Entwicklungen der 1970er- und 1980er-Jahre auseinander, so etwa mit Blick auf die Entwicklungen in der Arbeitswelt, in Fragen von Bildung und Wohnen oder bezüglich ihrer Selbstorganisation und des Vereinswesens. In den kommenden Jahren wird die deutschsprachige Migrationsgeschichte deshalb auch in der zählbaren Währung einschlägiger Monografien einen erneuten Aufschwung verzeichnen.
Zum anderen haben die englischsprachigen German Studies die bundesrepublikanische Migrationsgeschichte für sich entdeckt. In den vergangenen Jahren verteidigte eine erstaunliche Zahl junger Historiker*innen einschlägige Studien an US-amerikanischen Universitäten. Auch hier erwartet die Forschungslandschaft in der kommenden Zeit – bedingt durch das langwierige akademische Publikationsverfahren von Qualifikationsarbeiten – einen breiten Publikationsoutput. Das ermöglicht der deutschsprachigen Geschichtswissenschaft, die eigenen Perspektiven zu reflektieren und Forschungsleistungen zur transnationalen historischen Migrationsbewegungen auch in einem transnationalen, polyglotten Expert*innenkontext zu diskutieren und zu vertiefen – eine (nicht nur) in diesem Themenfeld mehr als angebrachte Möglichkeit der Blickweitung.
Es besteht deshalb Grund zur Hoffnung und Annahme, dass sich die besondere Aufmerksamkeit für die (deutsch-türkische) Arbeitsmigration an diesem 60. Jahrestag auch mittel- und langfristig in einer wissenschaftlichen Auseinandersetzung mit der Migration als historischem Normalfall und Grundlage für unsere moderne, post-migrantische Gesellschaft niederschlagen wird.
Stefan Zeppenfeld
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