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Aufbruch – Modernisierung – Krise: Der rot-grüne Zeitenwechsel vor 25 Jahren

Vor 25 Jahren, am 27. Oktober 1998, übernehmen SPD und Grüne die Macht. Es ist ein Zeitenwechsel. Die Ära Kohl geht nach 16 Jahren zu Ende. Mit wichtigen politischen Weichenstellungen modernisiert die rot-grüne Bundesregierung die deutsche Gesellschaft. Doch in die rot-grünen Jahre fällt auch eine tiefgreifende sozialpolitische Zäsur und der Beginn schwerer Zeiten für die Sozialdemokratie.

Bild: Vereidigung des neuen Kabinetts Schröder, 27.10.1998; Rechte: Frank und Marc Darchinger [6/FJHD009630].

Im Jahr 1998 herrscht ein Klima des Aufbruchs. Nach 16 Jahren wirkt die Regierung Helmut Kohls ausgebrannt und uninspiriert. Begriffe wie „Reformstau“ und „bleierne Zeiten“ machen die Runde und bestärken die Wahrnehmung, längst überfällige Maßnahmen zur Modernisierung des Landes seien zu lange ausgeblieben. Im Wahlkampf zur Bundestagswahl präsentiert sich die Sozialdemokratie als Partei der Erneuerung. Parteichef Oskar Lafontaine steht für eine linke Volkspartei, während Gerhard Schröder als Spitzenkandidat in die „Neue Mitte“ drängt. Zentrales Thema des Wahlkampfs ist die hohe Arbeitslosigkeit, die die SPD mit einer Politik der Modernisierung bekämpfen will. Es geht um „Innovation“ und „Fortschritt“, sozial gerecht gestaltet, und die SPD ist entschlossen, die CDU/CSU diesmal – nach vier gescheiterten Versuchen – endlich zu überflügeln und mit den Grünen ein Regierungsbündnis zu bilden.

Wechselstimmung nach Jahren der Erstarrung

Die Zeichen stehen klar auf Wechsel, der schließlich Realität wird: Die SPD erzielt 40,9 Prozent der Stimmen, ca. 5 Prozent mehr als die Union, die Grünen erreichen 6,7 Prozent. Nach Willy Brandt und Helmut Schmidt stellt die SPD mit Gerhard Schröder zum dritten Mal den Kanzler. Neuartig ist die Konstellation des Machtwechsels: Erstmals bilden zwei Parteien aus der Opposition heraus eine neue Regierung. Und ebenso neu: Das Regierungsbündnis besteht aus zwei Parteien, die sich links der Mitte verorten. Mit diesem Novum in der Geschichte der Bundesrepublik sind große Ambitionen und mindestens ebenso große Erwartungen verbunden. Es folgen sieben turbulente rot-grüne Jahre. Wie sind diese nach nunmehr 25 Jahren einzuordnen?

Eintritt ins 21. Jahrhundert

Die Herausforderungen, die nach politischen Antworten verlangen, sind riesig: sozioökonomischer Strukturwandel und Globalisierung, die Auswirkungen der digitalen Revolution, die um Jahre hinterherhängende Modernisierung der Wirtschaft. Fast zehn Jahre nach Ende des Kalten Krieges und der deutschen Einheit stellt sich die Frage nach der Rolle Deutschlands in der Welt neu. In der Innenpolitik sind gleichstellungspolitische Fragen genauso ungeklärt wie der Umgang mit Zuwanderung. Ökologische Nachhaltigkeit und Klimawandel sind längst als zentrale Zukunftsfragen identifiziert, aber die Politik ist weit entfernt davon, ihrer politischen Beantwortung den entsprechenden Stellenwert beizumessen. Kurz: Es ist die rot-grüne Regierung, die erstmals mit den großen Fragen des 21. Jahrhunderts konfrontiert ist. Es gelingt bei weitem nicht alles, aber in zentralen Politikfeldern setzen Sozialdemokratie und Grüne politische Maßnahmen um, die weiter fortwirken und Deutschland heute innen- wie außenpolitisch definieren.

Weichenstellungen für fortschrittliche Politik

Mit dem Ausstieg aus der Kernenergie, dem Erneuerbare-Energien-Gesetz (EEG) und der ökologischen Steuerreform vollzieht die rot-grüne Koalition einen umweltpolitischen Paradigmenwechsel. Für die Grünen ist der Atomausstieg ein Herzensprojekt, doch auch die Sozialdemokratie hatte sich schon seit Mitte der 1970er-Jahre mit Alternativen zur Kernenergie auseinandergesetzt und konkrete Ausstiegskonzepte entwickelt. Auf ihrem Nürnberger Parteitag 1986 forderte sie die „Änderung des Atomgesetzes mit dem Ziel der Stilllegung aller Atomkraftwerke“. Der nun verwirklichte Ausstieg stellt also den erfolgreichen Endpunkt eines längeren politischen Aushandlungsprozesses auch innerhalb der SPD dar. Zudem hatte die SPD in den 1980er-Jahren intensiv an einer programmatischen Auflösung der Spannungsfelder „Arbeit und Umwelt“ gearbeitet. Die Energiewende der frühen 2000er-Jahre, die auf dieser Vorarbeit aufbaut, macht Deutschland zum Vorreiter in der Förderung regenerativer Energien. Heute sind Ökologie und Klimawandel die alles überragenden Zukunftsfragen und die von Rot-Grün vor 25 Jahren vorgenommenen Weichenstellungen bleiben von wegweisender Bedeutung.

Auch auf anderen Feldern macht Rot-Grün fortschrittliche Politik, vor allem in der Zuwanderungs- und Gesellschaftspolitik. Im Jahr 2000 ist Deutschland defacto ein Einwanderungsland, doch Millionen dauerhaft hier lebende Migrant_innen haben keinen deutschen Pass, sie sind rechtlich Ausländer_innen. Mit der Reform des Staatsbürgerschaftsrechts wird die systematische Diskriminierung von Migrant_innen um einen wichtigen Schritt abgebaut. Das Zuwanderungsgesetz von 2005 legt erstmals klare Regelungen für die Einwanderung nach Deutschland fest. Mit dem Gesetz für „Eingetragene Lebenspartnerschaften“ werden gleichgeschlechtliche Partnerschaften rechtlich anerkannt und der Ehe zwischen Frau und Mann weitgehend gleichgestellt. Rot-Grün liberalisiert die Gesellschaft nachhaltig.

Die Frage von Krieg und Frieden

Während die Regierung in der Innen- und Gesellschaftspolitik Maßnahmen der im Koalitionsvertrag formulierten Reformagenda umsetzt, ist sie in der Außenpolitik weitaus weniger vorbereitet. Doch gerade auf diesem Gebiet ist sie gefordert: Gerade ein paar Monate im Amt, wird der Kosovo-Konflikt im Frühjahr 1999 zur Zerreißprobe für beide Parteien – die in pazifistischer Tradition stehenden Grünen drohen sogar zu zerbrechen. Erstmals seit Ende des Zweiten Weltkriegs beteiligt sich Deutschland an einem Krieg im Rahmen der militärischen Intervention der NATO, aber ohne UN-Mandat. Als die Terroranschläge vom 11. September zwei Jahre später die Welt verändern, wird die Bundeswehr in Afghanistan eingesetzt. 2003 weigert sich Deutschland jedoch, in die von George W. Bush geschmiedete „Koalition der Willigen“ einzusteigen, die wegen angeblicher Massenvernichtungswaffen eine Invasion im Irak startet. Das entschiedene „Nein“ zum völkerrechtswidrigen Irakkrieg bleibt ein Verdienst der von Schröder geführten Regierung. So schwierig sich die Frage von Krieg und Frieden für das rot-grüne Bündnis auch darstellt: Am Ende der rot-grünen Jahre hat Deutschland außenpolitisch an Eigenständigkeit, Selbstbewusstsein und Reputation gewonnen.

Orientierungskrise und Überwindung

Doch kein Rückblick auf Rot-Grün ohne die im Mittelpunkt der zweiten Legislaturperiode stehende Agenda 2010. Angesichts tiefgreifender Krisensymptome – Deutschland galt in jenen Jahren mit Blick auf Wachstums- und Arbeitslosenzahlen als „der kranke Mann auf dem Kontinent“ – bestand massiver Handlungsdruck, auf den die rot-grüne Regierung mit den grundlegendsten sozial- und arbeitsmarktpolitischen Reformen in der Geschichte der Bundesrepublik reagierte. Während diese im kollektiven Gedächtnis der Grünen heute kaum problembehaftet sind, bedeuten sie für die Sozialdemokratie ein schweres Erbe. Dabei wird die Agenda 2010 oftmals zu Unrecht mit schierem Sozialstaatsabbau gleichgesetzt – sie umfasste deutlich mehr Reformmaßnahmen als nur Hartz IV. Gleichwohl steht sie im Zusammenhang mit einer langen sozialdemokratischen Orientierungskrise. Das Fehlen eines sozialen Korrektivs führte zu weitreichenden Entsicherungsprozessen und zur Vergrößerung des Anteils prekärer Beschäftigung – eine Entwicklung, die sich auf eine Partei mit dem Markenkern soziale Gerechtigkeit negativ auswirken musste. Massenproteste, unzählige Parteiaustritte, eine Zerrüttung des Verhältnisses zu den Gewerkschaften und eine Neuformierung des Parteiensystems waren die unmittelbare Folge. Für eine stärker ausgleichende Politik wären eine zeitgemäße sozialdemokratische Fortschrittserzählung und ein auf gesellschaftlichen Zusammenhalt gerichtetes Narrativ politischer Krisenbewältigung notwendig gewesen – in einer Hochphase neoliberaler Begriffshegemonie fehlte damals beides. Die Kurskorrekturen der folgenden Jahre und ein neues Sozialstaatskonzept waren unumgänglich. Schließlich zielte die „Respekt“-Kampagne der gewonnenen Bundestagswahl 2021 nicht zuletzt auch auf die Rückgewinnung jener Wähler_innengruppen, die sich wegen der Sozial- und Arbeitsmarktpolitik der rot-grünen Jahre von der SPD abgewandt hatten. 

Peter Beule

 


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