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Mit einem Text von Vladyslav Starodubtsev über die Ukrainische Volksrepublik von 1917 bis 1921 setzen wir unsere Reihe über die ukrainische Geschichte fort. Dies ist der zweite von vier Teilen.
Den ersten Teil finden Sie hier.
Die ukrainische Revolution entstand in den Gebieten des Russischen Reiches und der österreichisch-ungarischen Doppelmonarchie unter Bedingungen großer nationaler Unterdrückung und Assimilierung. Die Ukrainer:innen waren in beiden Ländern eine große Minderheit und gehörten zu den Ärmsten. Gleichzeitig war die ukrainische Nation von den Städten und von jeder Art von sozialer Elite isoliert, die aus landbesitzenden und kapitalistischen Wirtschaftsgruppen bestand. Im Gegensatz zu diesen Gruppen war die Ukraine durch und durch eine Nation von Landlosen und Kleinbauern. Die ukrainische städtische Arbeiterklasse war winzig, die ukrainische Mittel- und Oberschicht waren noch kleiner. Die Städte waren Instrumente der Assimilierung und "Inseln" der russischen oder polnischen Herrschaft im ukrainischen Land. Für die meisten Ukrainer:innen war soziale Mobilität in den Städten entweder nicht möglich oder sie war mit Assimilation verbunden. Im Jahr 1919 setzte sich die Bevölkerung von Kyjiw, der Hauptstadt der Republik, aus 43 % russischen, 23 % ukrainischen und 21 % jüdischen Einwohner:innen zusammen. In den anderen Städten auf dem Gebiet der Ukraine war die Situation ähnlich. Das machte die Städte politisch schwer kontrollierbar und gleichzeitig umkämpft. Die Städte waren Orte mit einer unverhältnismäßig hohen Machtkonzentration. Sie wurden als Instrument zur Unterdrückung der ukrainischen Mehrheit genutzt, was die Gründung der Ukrainischen Volksrepublik zu einem schwierigen Unterfangen machte.
Die einzigartigen ukrainischen Bedingungen (die auch in anderen osteuropäischen Ländern wie dem Baltikum galten) bedeuteten, dass soziale und nationale Unterdrückung sehr eng miteinander verbunden war. Es gab keine "ukrainischen Kapitalisten" oder "ukrainischen Landbesitzer", da das Ukrainischsein an sich als antikapitalistische und landbesitzfeindliche Identität angesehen wurde. In gewisser Weise stellte das Ukrainischsein nicht nur eine nationale, sondern auch eine soziale Identität dar. Dies ist einer der wichtigsten Faktoren für die enorme Popularität der sozialistischen Parteien. Sie waren nicht nur die Parteien, die konsequent für nationale Rechte kämpften, sondern auch diejenigen, die die sozialen Bestrebungen der Ukrainer:innen vertraten. Die Geschichte der Ukraine als Ganzes ist eine miteinander verwobene Geschichte sozialen und nationalen Widerstands.
Im Jahr 1917 war die Ukraine ein Frontgebiet, das stark unter dem Krieg litt. Sie war geteilt und sah sich mit dem Zerfall der russischen Armee, Binnenmigration, Epidemien, drohender Hungersnot und Anarchie konfrontiert. Es war die Region, die am stärksten vom Ersten Weltkrieg betroffen war. Unter diesen Bedingungen fand die ukrainische Revolution statt.
Im Februar 1917 (julianischer Kalender) brach die Revolution auf dem Gebiet des Russischen Reiches aus und die Ukrainer:innen gehörten zu den ersten, die den revolutionären Wandel unterstützten - sowohl die ukrainischen Soldaten in Petrograd als auch andere Ukrainer:innen in Russland und der Ukraine. Zwanzigtausend Ukrainer:innen gingen in Petrograd auf die Straße, um zum Gedenken an Taras Schewtschenko zu demonstrieren. In allen größeren Städten der Ukraine fanden unzählige Proteste statt. Demonstrationen am Todestag oder am Geburtstag von Taras Schewtschenko (9. und 10. März, gregor. Kalender) hatten eine lange Tradition und waren zentrale Daten der ukrainischen Proteste am Ende des 19. und zu Beginn des 20. Jahrhunderts. 1914 berichtete der Chef der Kyjiwer Provinzgendarmerie, Oberst Schredel, an seine Vorgesetzten in St. Petersburg: "Die Führer der ukrainischen Bewegung schlossen sich mit anderen regierungsfeindlichen Organisationen zusammen und begannen, einen Plan für die Organisation von Straßendemonstrationen am 25. und 26. Februar auszuarbeiten, wobei sie alle ihre Bemühungen darauf richteten, Kyjiwer Studenten für diese aktiven Proteste zu gewinnen. [...] Zur Organisation solcher Reden wurde unter den Studenten ein spezielles zeitweiliges Komitee gebildet, dem auch Vertreter ausländischer Gemeinschaften (Polen, Georgier, Armenier usw.) angehörten und [...] mit der Vorbereitung von Proklamationen begannen." [1]
Die revolutionäre Stimmung veranlasste ukrainische politische Vertreter, Gemeindevorsteher, Untergrundrevolutionäre und kulturelle Organisationen zur Gründung der ukrainischen Zentralna Rada. Die Gesellschaft der ukrainischen Progressiven, eine bereits vor 1917 existierende überparteiliche Organisation, beschloss nach langen Diskussionen die Organisierung eines revolutionären Gremiums, um so die ukrainischen Kräfte zu koordinieren und das Selbstbestimmungsrecht in die Praxis umzusetzen. Diese Gesellschaft wurde von liberal gesinnten Politikern dominiert und es gab nur wenige Marxisten und nicht-marxistische Sozialisten. Die liberale Mehrheit vertrat eine ausgrenzende und gemäßigte Position: Das neue ukrainische revolutionäre Gremium sollte nur der Entwicklung der kulturellen, nicht aber der politischen Autonomie dienen, und es sollte nur von den Mitgliedern der Gesellschaft organisiert werden. Sie wurden sofort von den Sozialisten überrannt, die für einpartizipatives politisches Gremium plädierten, das alle Ukrainer repräsentieren sollte - die Zentralna Rada. Die Initiative wurde also von der Linken ergriffen und erhielt einen volksnahen und inklusiven Charakter.
Die ukrainische Zentralna Rada wurde im März 1917 gegründet. Die Zentralna Rada war jedoch kein gewähltes Parlament, da es mitten in der Revolution keine Möglichkeit gab, Wahlen zu organisieren. Sie war eine nationale Versammlung, die sich aus Delegierten der wichtigsten ukrainischen Parteien und Organisationen zusammensetzte. Die größten dieser Organisationen, die in der Zentralna Rada vertreten waren, waren die Bauern-, Arbeiter- und Soldatenräte (die als eine Art Sowjetregierung fungierten); zu den anderen Gruppen gehörten die größten sozialistischen Parteien, die Organisationen der nationalen Minderheiten, Berufsgruppen wie Gewerkschaften, Studentenorganisationen usw., Kommunal-, Kultur-, Sport- und Frauenorganisationen sowie Delegierte der lokalen Verwaltung. Mehr als die Hälfte der Delegierten waren Vertreter der Räteorganisationen. Massive Demonstrationen und andere Zeichen der Unterstützung für die Zentralna Rada durch diese Organisationen folgten in den nächsten Monaten ihres Bestehens. Aufgrund ihrer Zusammensetzung - die Bildung und die Sitzungen der verschiedenen Rätekongresse und der Minderheitenorganisationen nahmen einige Zeit in Anspruch - hatte sich die Zahl der Delegierten in der Zentralna Rada seit der ersten Sitzung verzehnfacht. In diesem Sinne war die ukrainische Zentralna Rada kein Parlament, sondern eine Institution der partizipativen, revolutionären Demokratie. Ihre Hauptziele waren der Kampf für die ukrainische Autonomie(dies betraf auch den Zentralismus und Imperialismus der "großrussischen" Provisorischen Regierung in Petrograd), die Organisation der Ukrainer:innen, die Vorbereitung der ukrainischen Verfassungsgebenden Versammlung und die Durchführung der Landreform. Später sollte die Zentrale Rada durch ein gewähltes Parlament ersetzt werden. Die Zentrale Rada wurde somit zu einer provisorischen ukrainischen Regierung.
Um funktionsfähig zu werden, bildete die Zentrale Rada einen Ausschuss namens Mala Rada (Kleiner Rat). Er repräsentierte von seiner Zusammensetzung her in etwa die Zentralna Rada und bereitete zwischen den Sitzungen Gesetze vor, über die später in der Zentralen Rada abgestimmt und diskutiert wurde. Von 58 Mitgliedern der Mala Rada waren 18 Vertreter der Minderheiten. Über der Mala Rada gab es ein Generalsekretariat, das als Kollegialorgan mit der höchsten Exekutivgewalt fungierte. Mit dem Vierten Universal im Januar 1918 – einen Gesetzesakt des Zentralna Rada – wurde es um die Ministerien für jüdische, russische und polnische Angelegenheiten erweitert.
Wenn die Menschen als Gemeinschaft mit den Werkzeugen der Produktion arbeiten, dann müssen sie das gesamte Arbeitsprodukt als Gemeinschaft erhalten. Was sie von diesem Produkt für die öffentlichen Angelegenheiten abgeben, bleibt ihnen überlassen. Es darf nicht sein, dass, wenn ein Eigentümer oder eine Gruppe von Eigentümern nicht arbeitet, der größte Teil des von ihnen nicht produzierten Produkts weggenommen wird. Sowohl in der bäuerlichen Arbeitswirtschaft als auch in der Industrie ist es notwendig, dafür zu sorgen, dass der Herr und der Arbeiter eine Person sind, damit die Arbeiter Herren im Kollektiv sind. Die Beseitigung dieses Widerspruchs [des Kapitalismus] wird bedeuten, dass die Klasse der Industriellen zerstört wird: die Organisatoren der Industrie, die Eigentümer, und die Arbeiter werden dieselben Personen sein, die das Unternehmen leiten, organisiert als Demokratie. Die Arbeiterdemokratie in der Industrie ist ein Novum. Als nächstes muss der Austausch von Produkten ("Handel") durch die Zusammenarbeit der Verbraucher organisiert werden. In ihrer ersten Form wird die Arbeit selbst nichts anderes sein als eine Produktionskooperation. Die kulturellen Angelegenheiten (Schulen, Verlage, Zeitungen, Zeitschriften, Forschungseinrichtungen, Kunstbetriebe usw.) müssen ebenfalls kooperativ organisiert werden. Die Verwaltung der Wirtschaft und der kulturellen Arbeit sollte von den Dorf- und Stadtgemeinschaften und ihren Verbänden und Zentren auf demokratischer Grundlage organisiert werden. Die politische Organisation der Gesellschaft (der "Staat") hätte demgegenüber nur den äußeren und inneren Frieden zu wahren. Wir schließen uns nicht der Meinung der Bolschewiki an, die alle wirtschaftlichen und kulturellen Funktionen der Gesellschaft in den Händen des "Staates" konzentrierten. Der bolschewistische Staat ist zu einem Eigentümerkapitalisten geworden, der die gesamte Gesellschaft mit allen Mitteln der Gewalt zwingt, für sich zu arbeiten. Der Staatskapitalismus ist die schlimmste Form des Kapitalismus im Allgemeinen. Die Vergesellschaftung des Bodeneigentums wird diejenigen begünstigen, die in der Nähe des Bodens arbeiten wollen, die Industrie mit der Landwirtschaft verschmelzen und die Kluft zwischen dem Land und der Stadt beseitigen, indem sie die Landwirtschaft mit der Industrie vereint. Dadurch werden auch die kulturellen Unterschiede zwischen dem Dorf und der Stadt verschwinden. Wir nennen dieses System der Arbeitsdemokratie Sozialismus oder, wie Drahomaniv sagte, Hromadivstvo (Kommunismus). [2]
Mykyta Schapowal, 1927
Schapowal (1882-1932), Dezember 1918-Februar 1919 Landminister, zuvor Minister für Telegrafie der Ukrainischen Volksrepublik, einer der Hauptorganisatoren des Direktoriumsaufstands, Führer und Theoretiker der Ukrainischen Sozialrevolutionären Partei (Hauptströmung) und Anhänger einer sowjetischen Plattform; im Exil Mitbegründer der Sozialistischen Liga des Neuen Ostens.
Die Ukrainische Partei der Sozialrevolutionären (UPSR, ukrain. Ukraїns’ka partija socialistiv-revoljucioneriv/USPR) war die mit Abstand größte und radikalste Partei in der ukrainischen Zentralna Rada. Sie wurde kurz nach der Revolution gegründet und wuchs rasch, wobei ganze Dörfer auf einmal der Organisation beitraten. Die Partei vertrat eine radikale Haltung gegenüber der Landfrage und in der Frage der ukrainischen Unabhängigkeit. Die UPSR war eine Bauernpartei und ihre ideologische Plattform bestand aus einen nicht-marxistischen, pluralistischen, radikalen Sozialismus. Sie lehnte die marxistische Theorie von der Arbeiterklasse als einziger revolutionärer Klasse ab und vertrat das Konzept der "werktätigen Klassen" (Bauern, Landwirte, Arbeiter und Arbeiterintelligenz), die beim Aufbau des Sozialismus gleichermaßen wichtig waren.
Die Partei durchlief eine Entwicklung und Radikalisierung. Trat sie anfangs für die "Vergesellschaftung der Produktionsmittel" und die radikale Dezentralisierung der Regierung im Rahmen einer umfassenden parlamentarischen Demokratie ein, so stand sie später auf dem Boden des Syndikalismus und der Rätedemokratie. In der Spätphase der ukrainischen Revolution spaltete sich die Partei in den radikalen Flügel der Borotbysten, der fast anarchistische Ansichten vertrat, und die „Hauptströmung“, welche die Idee eines Rätesystems vertrat (allerdings nicht im bolschewistischen Sinne, wo das Räte- bzw. Sowjetsystem von einem Einparteienstaat kontrolliert wurde).
Die Sozialrevolutionäre waren die größte Partei in der Zentralna Rada. Allerdings fehlte es ihr an Erfahrung, so dass die Partei die meiste Zeit über an zweiter Stelle hinter der viel kleineren Sozialdemokratie stand.
Die USDAP (Ukraїns’ka social-demokratyčna robitnyča partija/USDRP) war eine marxistische Partei, die sich auf das Erfurter Programm der Sozialdemokratischen Partei Deutschlands (SPD) von 1891 stützte und stark von Kautsky, Bernstein und anderen linken SPD-Führern beeinflusst war. In der ukrainischen Politik wurden marxistische Parteien als sozialdemokratisch bezeichnet, während nicht-marxistische sozialistische Parteien einfach als sozialistisch bezeichnet wurden. Die USDAP war eine Partei mit viel Erfahrung aus der Revolution von 1905 und brachte diese in der Revolution von 1917 ein. Sie war eine starke intellektuelle Kraft, wenn auch recht dogmatisch. Die USDAP übernahm die führende Rolle in der Revolution.
Die gemäßigten Mitglieder der Gesellschaft der ukrainischen Progressiven organisierten sich in einer sozialistisch-föderalistischen Partei, die nur dem Namen nach sozialistisch war, in Wirklichkeit aber eine sozialliberale Partei, die sich auf die Ideale der lokalen Selbstverwaltung, der sozialen Sicherheit und der kommunalen Autonomie stützte. Die Ukrainische Partei der Sozialisten-Föderalisten war auch die gemäßigtste in Bezug auf die nationalen Forderungen und verfolgte eine Politik der Beschwichtigung gegenüber der russischen Provisorischen Regierung. Sie war eine marginale Kraft, aber die Partei bestand dennoch aus hochtalentierten Persönlichkeiten wie dem späteren Leiter des Außenministeriums der Ukrainischen Volksrepublik, Oleksander Shulgin.
Der Kongress der versklavten Völker Russlands tagte vom 8. bis 15. September 1917 auf Initiative der Zentralna Rada in Kyjiw. 92 Delegierte von Ukrainern, Georgiern, Polen, Letten, Litauern, Esten, Juden, Weißrussen, Moldawiern, Kosaken,[3] Burjaten, Tataren, Krimtataren, türkischen und muslimischen Organisationen und dem Rat der Sozialistischen Parteien Russlands waren anwesend. Andere Nationen, die nicht teilnehmen konnten, übermittelten ihre Grüße und unterstützten die Initiative. Ziel des Kongresses war es, eine Zusammenarbeit zwischen den versklavten Völkern des Russischen Reiches herzustellen und eine neue republikanische, dezentralisierte Realität zu schaffen. Zum Vorsitzenden des Kongresses wurde Mychajlo Hruschewskyj gewählt. Der Kongress fand wenig Unterstützung bei den zentralistischen gesamtrussischen Parteien wie den russischen Konstitutionellen Demokraten, den Menschewiki und den Bolschewiki. Gemäß ihren Theorien und ihrem russischen Nationalismus strebten dieser eher einen Einheitsstaat oder eine Pseudoföderation an.
Der Kongress war ein großes und symbolträchtiges Ereignis, das nicht nur die Zusammenarbeit zwischen den nicht-russischen Nationen bestätigte, sondern auch verschiedene Nationalitäten motivierte, für ihre Autonomie zu kämpfen. Die Ukraine ging mit "gutem Beispiel" voran und bereitete der Provisorischen Regierung entsprechende Probleme. Die russische Provisorische Regierung hatte einen imperialistischen Charakter und lehnte die ukrainische Autonomie ab. Die Haltung der russischen Intelligenz war noch schlimmer. Die Provisorische Regierung sah in der Eindämmung der ukrainischen Bewegung ein Mittel, um andere nationale Bewegungen zu stoppen, die das zentralisierte, "eine und unteilbare" Russland bedrohten.
Die ukrainische Genossenschaftsbewegung spielte eine entscheidende Rolle in der ukrainischen Revolution. Sie bemühte sich nicht nur um das wirtschaftliche Wohlergehen ihrer Gemeinschaften, sondern auch um die Eröffnung von Schulen und Museen, die Organisation kultureller Aktivitäten und sogar um die Finanzierung von Stipendien. Es handelte sich um eine große, gut organisierte und prinzipientreue Bewegung. Mit der Revolution weitete sich die Genossenschaftsbewegung aus. Sie bildete Gremien heraus und entwickelte Regularien, mit denen sie demokratische Grundsätze und Mitwirkungsrechte absicherte. Sie wandte sich gegen sogenannte Pseudo-Kooperationen, verteidigte Arbeitnehmer:innenrechte in den Genossenschaften und trat für harmonische und nicht spekulativen Marktwirtschaft ein. Die Genossenschaftsbewegung basierte auf den Grundsätzen der nationalen Befreiung (sie wurden als Instrument im Kampf für Selbstbestimmung gesehen), der "Selbstverteidigung" gegen Ausbeutung und unvorhergesehene wirtschaftliche Bedingungen. Sie trat für Demokratie ein, engagierte sich für die Gemeinde und sorgte sich um die moralische Entwicklung der Arbeiter:innen. Die Genossenschaften wollten ihre Mitglieder befähigen, als Bürger:innen aktiv die Gesellschaft zu gestalten. Arbeit sollte nicht mehr entfremdete Tätigkeit sein. Der Genossenschaftskongress tagte vom 27. bis 29. März 1917 und wählte den Leiter der Zentralna Rada, Mychajlo Hruschewskyj, zum Ehrenvorsitzenden des Kongresses. Der proto-keynesianischer Ökonom und Theoretiker des genossenschaftlichen Sozialismus Michajlo Tuhan-Baranovskyj wurde zum Vorsitzenden des Kongresses gewählt und das Mitglied des Zentralkomitees der Sozialrevolutionäre P. Chrystjuk zum Sekretär. Der Kongress endete mit einer Erklärung zur vollen Unterstützung der Zentralna Rada, und Forderungen nach Schaffung der ukrainischen Autonomie, einer größeren Rolle der Genossenschaftsbewegung, die Einführung der ukrainischen Sprache in allen Lebensbereichen und einer Polizeireform.
Die Genossenschaftsbewegung vereinte Millionen von Menschen und war wirtschaftliche Grundlage für das ukrainische Volk. [4]
Der Sowjetkongress wurde von den Bolschewiki einberufen und war unübersehbar ein Versuch, die ukrainische Regierung zu stürzen. Obwohl die Bolschewiki nur schwach vertreten waren - etwa 60 der mehr als 2000 Delegierten waren Bolschewiki[5] - versuchten sie, ihre Agenda durchzusetzen: den Sturz der Zentralna Rada. Der erste Punkt war die Wahl des Präsidiums, war aber mit einer klaren Niederlage für die Bolschewiki endete: Neun Präsidiumsmitglieder entsandten die ukrainischen Sozialrevolutionäre und drei die ukrainischen Sozialdemokraten, während die gesamtrussischen Menschewiki, die Vertreter der Südwestfront, des Baltikums und des Schwarzen Meeres nur je ein Mitglied stellen konnten. Sieben weitere Mitglieder entstammten anderer russischen Fraktionen und nur vier den Bolschewiki. Zum Ehrenvorsitzenden des Kongresses wurde Hruschewskyj, der Leiter der Zentralna Rada, gewählt.[6] Der Sowjetkongress befürwortete zwar im Allgemeinen die bolschewistische Propaganda und betrachtete die bolschewistische Partei als fortschrittliche revolutionäre Kraft, aber die bolschewistische Partei war dennoch eine absolute Minderheit. Auch das Datum des Kongresses hätte für die ukrainischen Bolschewiki nicht schlechter gewählt werden können. Am Tag zuvor hatte die russische Sowjetregierung der Ukrainischen Volksrepublik ein Ultimatum gestellt und mit Krieg gedroht; ein Faktum, das selbst den ukrainischen Bolschewiki nicht bekannt war.[7] Damit war die Sache erledigt - die Arbeiterdelegierten, von denen viele russische Staatsangehörige waren, sowie andere Vertreter der Sowjets verurteilten das Ultimatum. Es wurde betont, dass das bolschewistische Ultimatum die zentralistische und chauvinistische Politik des Zarismus und der früheren Kerenski-Regierung des „einen und unteilbaren Russlands“ fortsetzte. Die Ukrainische Zentralna Rada erhielt eine überwältigende Unterstützung und festigte ihre Autorität bei den Sowjets, Die bolschewistische Fraktion verließ daraufhin den Kongress und zog nach Charkiw, um eine Gegenregierung zu organisieren.[8] Nach Angaben der Bolschewiki sprachen sich 124 Delegierte für den Austritt aus dem Kongress aus. Die Zahl ist jedoch umstritten.
Eine Zeit lang arbeiteten die ukrainischen Sozialisten mit den Bolschewiki auf der Grundlage einer scheinbar ähnlichen Ideologie zusammen, da der autoritäre und imperialistische Charakter des Bolschewismus noch nicht klar war. Ein wichtiger Faktor war der gemeinsame Hass auf die Provisorische Regierung, die eine Militäroffensive gegen die Zentralna Rada vorbereitete. Um sich vor einer Konterrevolution zu schützen, verhinderte die Zentralna Rada, dass die Truppen Kerenskis nach Petrograd zogen.
Diese Zusammenarbeit war jedoch nur von kurzer Dauer, da die Bolschewiki selbst versuchten, einen Staatsstreich gegen die Zentralna Rada zu organisieren. Die ukrainischen Behörden entdeckten jedoch die Vorbereitung des Staatsstreichs und entwaffneten rund 7.000 bolschewistische Soldaten in Kyjiw. Ein weiteres bolschewistisches Bataillon sollte mit der Eisenbahn in Kyjiw eintreffen, wurde jedoch abgefangen und ebenfalls entwaffnet. Am 27. November 1917 begann die sowjetische Regierung, ihre Streitkräfte in der Grenzregion zu stationieren. Am 30. November versuchten bolschewistische Truppen in Odesa, die ukrainische Regierung zu stürzen, was nach zweitägigen Scharmützeln mit einem ukrainischen Sieg und einem Waffenstillstand endete.
Am 4. Dezember (dem Tag des Sowjetkongresses) richtete der Rat der Volkskommissare (Sowjetregierung) ein Ultimatum an die Zentralna Rada. Die Bolschewiki forderten von der Ukraine Maßnahmen, die die Souveränität der Volksrepublik praktisch einschränken würden, dazu zählten die Forderungen nach Aufrechterhaltung einer gemeinsamen Front mit Russland und die Wiederbewaffnung der Roten Garde in der Ukraine. Die Aktionen vor und nach dem Ultimatum, der vorherrschende Parteizentralismus und die weit verbreitete Meinung in der bolschewistischen Partei, dass die Ukraine ein untrennbarer Teil Russlands sei, sowie die späteren Einmärsche in die Volksrepublik Krim, in Lettland, Estland, Litauen, Polen, Georgien und andere belegen, dass imperialistische Motive der Grund für den Einmarsch in die Ukraine war.
Dennoch belegen die Aktionen vor und nach dem Ultimatum sowie das allgemeine Auftreten der Bolschewiki, dass das imperialistische Besatzungsmotiv im Vordergrund stand. Der vorherrschende Parteizentralismus und die in der bolschewistischen Partei weit verbreitete Meinung, dass die Ukraine ein untrennbarer Teil Russlands sei sind ebenso solche Belege wie die späteren Invasionen in die Volksrepublik Krim, in Lettland, Estland, Litauen, Polen oder Georgien. Wenn die Forderungen erfüllt worden wären, hätten sie wahrscheinlich als Mittel zum Sturz der "bürgerlichen" Zentralna Rada gedient. Der Krieg, den die Sowjetregierung auf Initiative von Lenin und Trotzki begonnen hatte, brachte Chaos und Zerstörung, Repressionen und Requisitionen in die Ukraine.
Die Ukrainische Republik wurde von den weißen und roten Truppen Russlands bedroht, aber auch von Polen und Rumänien, dem deutschen Einmarsch und Putsch, der französischen Intervention sowie den Wirtschaftssanktionen der Entente. Die Ukraine befand sich in einem internationalen Umfeld, das ihrer Selbstbestimmung äußerst feindlich gesinnt war. Ihr mangelte es zudem an organisierten staatlichen Strukturen, an Munition, an militärisch-industrieller Produktion sowie an verfügbaren Offizieren. Dies waren die äußerst ungünstigen Rahmenbedingungen der Ukrainischen Volksrepublik.
1: Dmytro Stefanovič: Juvilej T. H. Ševčenka i students'ki zavorušennja v Kyjevi 100 rokiv tomy, in: "Kyїvskyj politechnik", 9/2014, URL: https://kpi.ua/shevchenko-revolt. (zuletzt aufgerufen 16.05.2024)
2: Mykyta Šapoval: Velyka revoljucija i ukraїns'ka vizvol'na prohrama (Byklady v Ameryci), Praha, 1927, S. 38-39 (Übersetzung des Autors). Drahomanow war der "Vater" des ukrainischen Sozialismus, ein Kritiker von Marx und Autor der einzigartigen ukrainischen liberal-anarchistischen und ethisch-sozialistischen Tradition namens Hromadivstvo (Kommunalismus).
3: Die Bolschewiki betrachteten die Kosaken nicht als eigene Gemeinschaft oder Nationalität, die Ukrainer:innen hingegen schon. Je nach Klassifizierung konnte die sowjetische Politik der Entkosakisierung ab 1919 als ethnische Säuberung oder als Völkermord betrachtet werden (https://en.wikipedia.org/wiki/De-Cossackization). (zuletzt aufgerufen 16.05.2024)
4: Vsevolod Holubnychy/Illia Vytanovych: Kooperative Bewegung, in: Internet-Enzyklopädie der Ukraine, ed. Canadian Institute of Ukrainian Studies, 1984, URL: https://www.encyclopediaofukraine.com/display.asp?linkpath=pages%5CC%5CO%5CCo6operativemovement.htm. (zuletzt aufgerufen 16.05.2024)
5: Es ist wichtig zu erwähnen, dass es in der bolschewistischen Partei eine beträchtliche Anzahl von Ukrainer:innen gab, die eine unabhängige Ukraine oder zumindest föderative Beziehungen wollten. Da die bolschewistische Partei autoritär und zentralistisch war, wurde die Politik in der Regel in Petrograd entschieden. Es ist wichtig zu erwähnen, dass Leute wie der prominente Bolschewik Wasyl Schachraj wegen ihrer Haltung zur Unabhängigkeit der Ukraine von Russland aus der Partei geworfen wurden.
6: Ivan V. Chmil': Vceukraїns'kyj z'їsd rad seljans'kych, rob. i soldat. Deputativ 1917 r., in: NAN Ukraїny (red.): Encyklopedija istoriї Ukraїny (elektronnyj resurs), [Kyїv 2003] URL: http://resource.history.org.ua/cgi-bin/eiu/history.exe?&I21DBN=EIU&P21DBN=EIU&S21STN=1&S21REF=10&S21FMT=eiu_all&C21COM=S&S21CNR=20&S21P01=0&S21P02=0&S21P03=TRN=&S21COLORTERMS=0&S21STR=Vseukrainskyj_zizd_Ra (zuletzt aufgerufen 16.05.2024)
7: "Wie groß waren unsere Überraschung, Bitterkeit und Empörung, als Petljura plötzlich das Radnarkkom-Telegramm über die Kriegserklärung an die Ukraine verkündete? Hier wurde deutlich, dass wir verloren haben, und es gab für uns auf dem Kongress nichts mehr zu tun. Auf Petljuras Ruf antwortete der Saal mit einem bedrohlichen ‘Raus mit den Moskowitern aus der Ukraine!’ - bezeugt E. Bosh. "Ja, die Erklärung löste bei der Kongressmehrheit große Empörung aus und brachte uns in eine sehr schwierige Lage, weil wir den Text des Telegramms noch nicht kannten und auf einen solchen Schritt der Petrograder Genossen noch nicht vorbereitet waren", - schreibt H. Lapchynsky. Vgl. Andrij Zdorov: Ukraїnc'kyj Žovten'. Robitnyčo-seljans'ka revoljucija v Ukraїni (listopad 1917 - ljutyj 1918 rr.), Odesa, 2007, S. 147-154 (Übersetzung durch den Autor).
8: Bis die russisch-bolschewistische Armee das Territorium der Ukraine betrat, war die sowjetische Regierung in hohem Maße demokratisch und der bolschewistischen Partei in der Ukraine selbst fehlte es an Autorität, da die örtlichen Sowjets ohne Parteikommando entschieden. Der Regierung in Charkiw schlossen sich sogar einige Linksradikale aus der ukrainischen Sozialdemokratie an, die versuchten, eine pro-ukrainische Politik zu verfolgen. Man könnte spekulieren, dass es sich entweder um eine Strategie handelte, um Unterstützung zu gewinnen, oder um einen ehrlichen Versuch der ukrainischen Bolschewiki, eine sowjetische Demokratie zu organisieren - eine Demokratie, die mit der zunehmenden Zentralisierung und dem Autoritarismus in Petrograd nicht zu vergleichen ist.
In unserer Wahrnehmung der Ukraine und ihrer Geschichte ist nach wie vor die russische Perspektive dominant und trotz wachsender Aufmerksamkeit kommen…
Mit einem Text von Vladyslav Starodubtsev über die Ukrainische Volksrepublik von 1917 bis 1921 setzen wir unsere Reihe über die ukrainische Geschichte…
Das AdsD hat kürzlich den Teilnachlass Elfriede Eilers erschlossen. Aus diesem Anlass widmen wir uns in unserem aktuellen Blogbeitrag der sozialdemokratischen Politikerin und dem bei uns verwahrten Bestand.
Die Erfahrungen im Umgang mit den Republikanern zeigen, warum es in liberalen Demokratien so schwierig ist, rechtsextreme Parteien zu beobachten und zu verbieten. Der Historiker Moritz Fischer argumentiert in einem Gastbeitrag, warum die Bewertung durch den Verfassungsschutz oft ein Teil des Problems ist.
Ein Exemplar des seltenen Katalogs der SPD-Parteibibliothek – ein brauner Halblederband im Quartformat mit 412 Seiten – erhielt sich im Besitz des Instituts für Sozialforschung (IfS) in Frankfurt a. M. und wurde im Jahr 1992 an die Bibliothek der Friedrich-Ebert-Stiftung übergeben. Nils Lehnhäuser (Bibliothek des IfS) und Olaf Guercke (Bibliothek…
Am 23. Oktober 1974 wurde im Presse-Dienst des DGB-Landesbezirkes Saar die Schaffung eines Interregionalen Gewerkschaftsrats (IGR) für den deutsch-französisch-luxemburgischen Grenzraum als „ein Modell im Rahmen der Europäischen Regionalpolitik der EG“ auf den Weg gebracht. Vor 50 Jahren wurde so ein System gewerkschaftlicher Kooperation in…