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Gastbeitrag von Robert Misik.
Bevor wir am 10.6. mit euch darüber sprechen, wie wir neue progressive Mehrheiten schaffen können, werfen wir in unserem FEShistory-Blog einen Blick auf "Identitätspolitik", die aktuell immer wieder als Schlagwort für eine als zerrissen wahrgenommene Gesellschaft herhalten muss.
Was „Identitätspolitik“ überhaupt sein sollte und ist – abgesehen von einem in dieser Saison gerade beliebten Kampfbegriff von Leuten, die sich einbilden, deren Gegner zu sein – ist bei näherer Betrachtung ja gar nicht so klar. Eine Politik, in der „das Persönliche“ groß geschrieben wird, gewissermaßen eine Politik in der ersten Person? Nun gut, insofern, als die sozialistische Linke immer schon die kollektive Befreiung nur als Vorbedingung zur individuellen Befreiung ansah (ja, die Linke ist die eigentlich historische Freiheitsbewegung), sollte daran nichts besonders neu sein. Schon Karl Marx formulierte als Ziel der Emanzipation, dass „die freie Entwicklung eines jeden die Bedingung für die freie Entwicklung aller ist“. Dennoch wurde der Begriff „Identität“ im Sinne von personaler Identität und Triebkraft für politisches Engagement erst seit den 1980er-Jahren gängig und zugleich auch kritisiert. Die Fixierung auf Identität, so verständlich sie sei, trage zur Fragmentierung bei, zu Ich-Fixierung, versimple und verstelle auch die Realität. Denn mit der Identität wird auch die Differenz hochgehalten, also weniger, was verbinde und kollektiv kampffähig mache, sondern mehr das, was unterscheide. Zudem werde auf spezielle vorgängige – also nicht gewählte – Identitätsmerkmale aller Ton gelegt, sei das „Hautfarbe“, „schwul“, „lesbisch“, „Teil einer ethnischen Minderheit“ oder gar Religion wie „muslim“, „jüdisch“ etc. Werden solche Identitätsmerkmale zentral, dann kann das auch etwas Obsessives gewinnen, da ja alle Menschen Mosaikidentitäten haben. Ein schwuler, männlicher Techniker mit Herkunft aus der Mittelklasse Frankreichs hat eine Identität, aber sie wird weder durch den Identitätsbestandteil „schwul“ noch „männlich“ noch „Franzose“ hinreichend bestimmt. Kurzum: Nachdenken über Identität greift zu kurz, wenn sie einzelne Persönlichkeitsmerkmale überbewertet. Zugleich aber sind sowohl personale als auch kollektive Identitäten eine Tatsache, und es gab nie eine politische Bewegung, bei der es in diesem Sinne nicht auch um „Identitätspolitik“ ging. In manchen Kreisen ist es beliebt geworden, darauf hinzuweisen, dass die politische Linke im Allgemeinen und die Sozialisten im Besonderen doch immer die „soziale Frage“ im Zentrum hatten. Dabei wird gerne vergessen, dass es bei den Kämpfen der arbeitenden Klassen nicht nur um Arbeitsplatzsicherheit, Rentensysteme, höhere Löhne und Höchstarbeitszeiten, wie etwa den Achtstundentag ging. All diese Bewegungen waren zugleich Kämpfe um Anerkennung, um Respekt. Die einfachen Leute wollten für ihre Leistungen gewürdigt werden, sie wollten Fairness, sie wollen nicht von oben herab behandelt und nicht kommandiert werden und sie wollten, dass ihre Werte zentral sind im Leben der Nation. Die arbeitenden Klassen wollten also „in ihrer Identität“ Achtung, mit allem, was da dazu gehört, etwa der Stolz auf die harte Arbeit, der Stolz, die eigene Familie ernähren zu können bis hin zu den kulturellen Stilen der Arbeiter_innenklassen und – nach deren allmählichen Aufstieg – der unteren Mittelklassen. Fish&Chips in England oder die Biergärten in Deutschland waren ebenso Teil einer Arbeiter_innenklassen-Kultur und -Identität wie das Fandom beim lokalen Fussballverein und der damit verbundene Lokalpatriotismus. Was sonst als Identitätspolitik ist das? Ja, selbst das Traditionale, das ein wenig Konventionelle war Teil der Arbeiter_innenklassen-Identität. Kurzum: Identitätspolitik, zu eng definiert, ist eine Sackgasse, Identitätspolitik, grundlegender verstanden, ist einfach eine historische Tatsache und Selbstverständlichkeit. Die „Arbeiter_innenklasse“ wollte in ihrer gesamten Identität „Respekt“ und „Achtung“, aber es war zugleich auch in der Geschichte immer umstritten und umkämpft, wer zu Solidaritätsgemeinschaft dazu gehört. Nur einheimische Männer? Oder auch zugewanderte Malocher, die sich natürlich nie der vollen Solidarität sicher sein konnten? Wenn Frauen eine vernehmbare Stimme einforderten, waren sie gleich einmal als „Emanzen“ oder „Flintenweiber“ verschrien, und zwar lang vor der Zeit, als „Feministin“ ein allgemein verständlicher Begriff war. Konflikte, die entstehen, wenn den tonangebenden Milieus der Unterdrückten durch neue Gruppen ein wenig „Konkurrenz“ gemacht wird, sind nicht wirklich neu. Nun ist es freilich immer leichter für Angehörige der Mehrheitskulturen die Gefahr der Fragmentierung zu beklagen und vor der Fixierung auf einzelne Identitätsmerkmale zu warnen. Denn wenn du im Bewusstsein aufwächst, zu jener Gruppe zu gehören, die als „gängig“, „selbstverständlich“, ja „normal“ angesehen wird, dann hast du wahrscheinlich einen lässigeren Zugang zu deiner „Identität“ als wenn dich immerzu das Bewusstsein der Differenz begleitet, das Bewusstsein „anders“ zu sein, „nicht ganz dazu zu gehören“. Es ist für Weiße in nahezu homogenen weißen Gesellschaften leicht und billig, Schwarzen zu raten, sie mögen sich nicht dauernd auf ihr Identitätsmerkmal Hautfarbe kaprizieren. Wenn es also an dem, was man heute so gerne polemisch „Identitätspolitik“ nennt, etwas zu kritisieren gibt, dann weniger die Thematiken, die sie stark macht, sondern allenfalls den Stil, den manche Protagonistinnen und Protagonisten pflegen, dieses gewisse Sektierertum, das jeden, der nicht hundert Prozent eines jeden Argumentes kauft, gleicht zum Todfeind erklärt, und auch eine Illiberalität, die völlig ausschließt, dass man manche Dinge marginal unterschiedlich sehen kann. Aber Sektierertum, Illiberalität, doktrinäre Spinner und die Buchstabengläubigkeit von Bücherwürmern hat es in der Geschichte der Linken immer gegeben, dafür brauchte es keine Identitätspolitik.
Robert Misik
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