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Am 13. November 1923 – vor einhundert Jahren – gründete sich die Reichsarbeitsgemeinschaft der Kinderfreunde. Bis 1933 organisierte die sozialistische Erziehungsorganisation tausende von Arbeiterkindern. Zu ihrem Höhepunkt 1932, kurz vor dem Verbot durch die Nationalsozialisten, zählten die Kinderfreunde 120.000 Kinder, hinzukamen 10.000 Helfer*innen und 70.000 Eltern im angeschlossenen Elternverband. Die Kinderfreunde waren eingebettet in die sozialdemokratische Solidaritätsgemeinschaft; mehrere große sozialdemokratische Organisationen waren an der Gründung beteiligt und hatten einen Sitz im Reichsvorstand. Dazu gehörten unter anderem die Sozialistische Arbeiterjugend, die Arbeiterwohlfahrt und die Sozialdemokratische Partei Deutschlands (SPD) selbst mit ihrem Zentralbildungssekreteriat. Durch die Zugehörigkeit zum sozialdemokratischen Milieu gewannen die Kinderfreunde sowohl materielle Unterstützung wie auch neue Mitglieder (Kinder und Helfer*innen). Die Kinderfreundebewegung war jedoch keine reine Parteigliederung, sondern eine selbstständige Organisation mit einer eigenen Programmatik.
Den neuen Menschen zu erziehen, dieser sozialistischen Utopie folgte die Kinderfreundebewegung wie viele andere politisch-kulturelle Bewegungen der 1920er Jahre. Dabei setzten sie bei den Kindern, genauer gesagt: den Arbeiterkindern an. Von ihnen erhofften sie sich, dass sie als Erwachsene den Sozialismus gestalten würden. Der Vorsitzende der Kinderfreunde Kurt Löwenstein und weitere Bildungspolitiker*innen prägten die Programmatik. Die sozialistische Erziehung sollte im Alltag der Kinder ansetzen. Grundpfeiler dieser Pädagogik waren: Gemeinschaftserziehung, Arbeitserziehung und Friedenserziehung. Als Werte sollten Solidarität, Ordnung und Freundschaft (der Ruf und Gruß der Kinderfreundebewegung) vermittelt werden. Nicht nur untereinander, sondern auch nach außen sollten diese gelebt werden. Dabei folgten die Kinderfreunde dem reformpädagogischen Ansatz, Kinder nicht zu instrumentalisieren. Doch im Gegensatz zur Reformpädagogik begriffen sie Kinder nicht als Wesen, die ohne Konfrontation mit politischen Themen aufwachsen müssten, sondern verstanden die Auseinandersetzung mit der (patriarchalen Klassen-)Gesellschaft als einen zentralen Punkt in der Vermittlung von sozialistischem Bewusstsein.
Die Gruppe war das Fundament der sozialistischen Erziehung. Die gesamte pädagogische Arbeit fand in festen Gruppen statt, die sich das Jahr über regelmäßig trafen. In ihr wurden Jungen und Mädchen gemeinsam organisiert. Die Gemeinschaft hatte zwar einen höheren Stellenwert als das Individuum, dennoch sollte die Persönlichkeit des einzelnen Kindes gefördert werden, schon allein damit dieses mit gut ausgebildeten Fähigkeiten in den Dienst der Gemeinschaft treten könne.
Ein Ziel der Kinderfreunde war es, die Kindergemeinschaften, unterstützt durch Helfer*innen, möglichst selbstverwaltet handeln zu lassen. Dies bedeutete, dass die Kindergruppen demokratische Prozesse einüben sollten. Die Kinder könnten so Fähigkeiten erlernen, die sie in die Gestaltung der kommenden Gesellschaft einbringen sollten.
Als Werkzeuge für den Aufbau der sozialistischen Gesellschaft planten die Kinderfreunde, Arbeiterkindern Geschick im demokratischen Aushandeln und Beherrschung der parlamentarischen Strukturen zu vermitteln. Ab 1927 entstanden die sogenannten Kinderrepubliken, mehrwöchige Sommerzeltlager, die großes öffentliches Interesse erhielten: Mit bis zu zweitausend Kindern bauten die Kinderfreunde Kinderparlamente und Zeltlager-Zeitungen auf, um eine möglichst breite Selbstverwaltung zu entwickeln, an der sich die Kinder tatkräftig beteiligen sollten.
Im Bildband „Die rote Kinderrepublik. Ein Buch von Arbeiterkindern für Arbeiterkinder“, herausgegeben vom Kieler Kinderfreund Andreas Gayk, werden aus der Sicht einer Teilnehmerin diese demokratischen Strukturen in der Kinderrepublik beschrieben:
„Ich bin Obmann geworden! Das ist eine große Ehre, denn es wird immer der Obmann, zu dem die Zeltgemeinschaft das größte Vertrauen hat. Ein Zeltobmann hat eine große Verantwortung. Er muß achtgeben, daß im Zelt und in der Gemeinschaft alles in Ordnung ist. Wir haben nämlich Selbstverwaltung, wir brauchen uns nicht von den Helfern kommandieren zu lassen. […] Am Ende der Woche zausen sie mich, das heißt, sie sagen mir alles, was ich schlecht gemacht habe. Sie können mich auch absetzen.“ (Andreas Gayk, Die rote Kinderrepublik. Ein Buch von Arbeiterkindern für Arbeiterkinder, Kiel 1928, S. 6.)
Auch in den Ortsgruppen etablierten die Kinderfreunde Demokratieformen wie die Falkenparlamente, in denen gemeinsame Beschlüsse gefasst wurden. Die Kindergemeinschaften innerhalb dieser Ortsgruppen stellten den eigentlichen Ort der pädagogischen Praxis dar und enthielten ebenfalls demokratische Elemente: Die Kinder wählten zum Beispiel Kinder in unterschiedliche Ämter, etwa als Vertrauenspersonen. In sogenannten „Zausestunden“ bekamen die Kinder die Möglichkeit, sich gegenseitig, insbesondere Amtsinhaber*innen, aber auch Helfer*innen zu kritisieren. So sollte Transparenz im Selbstverwaltungsprozess gefördert, eine offene Kommunikation angestrebt und das Verbreiten von Gerüchten vermieden werden. Es gibt allerdings auch Beispiele dieses gegenseitigen „Zausens“, die nicht solidarisch, sondern strafend klangen.
Entgegen dem kommunistischen Kinderverband um Edwin Hoernle planten die Kinderfreunde keine Erziehung durch Klassenkampf. Sie lehnten es ab, Kinder in die politischen Auseinandersetzungen der Erwachsenen mit einzubeziehen. Stattdessen sollte die sozialistische Erziehung stufenweise erfolgen: kleinere Kinder, die sogenannten „Nestfalken“ (6-9 Jahre) und „Jungfalken“ (10-12 Jahre) sollten zum sozialistischen Fühlen erzogen werden. Die älteren Kinder, die „Roten Falken“ (12-14 Jahre), sollten auch das sozialistische Denken erlernen. Die Nestfalken sollten die Arbeiter*innenbewegung und ihre Führer*innen schätzen lernen, die Jungfalken die Arbeiter*innenbewegung und ihre Einrichtungen kennen lernen und die Roten Falken eigene Vorstellungen darüber bilden, was in der Arbeiter*innenbewegung geschehe. Die sozialistische Erziehung sollte sich über die Gefühlsebene und gemeinsame Erlebnisse zum kollektiven Handeln entfalten.
Durch kulturelle Angebote versuchten die Kinderfreunde emotionale Bindung an die Arbeiter*innenbewegung und die kollektiven Erfahrungen der Kinder zu stärken. Von Symbolen wie der roten Fahne, dem Blauhemd und dem gemeinsamen Gruß und Marschieren als Repräsentation des Politischen über Bastelnachmittage, die immer am kollektiven Nutzen ausgerichtet sein sollten, zu verschiedensten Festen und Feiern, all das prägte den Kindergruppenalltag der Kinderfreunde.
Über die Erlebnisse in den Kindergruppen berichteten die Kinder in ihren Gruppenbüchern. Die Leipziger Kinderfreundegruppe „Kurt und Frieda“ beschrieb 1928 einen gemeinsamen Ausflug:
„Auch mit den anderen Kinderfreunden trafen wir uns in der Sandgrube. Die Zeit haben wir genau eingehalten. ‚Ihr Bummler‘, so war das Empfangswort für uns. Völkerball wurde gespielt. Hilde fing mit großer Gewandtheit die Bälle auf. Das war eine Lust. Das zweite Spiel machte [sic!] Rudi und ich nicht mit, weil uns der Fußball zum Spiel reizte. Gemeinsam wanderten wir wieder den engen Gassen der Großstadt zu. Mit einem kräftigen Freundschaft trennten wir uns.“ (Auszug aus einem Bericht vom 05.02.1928 aus dem Gruppenbuch der Leipziger Kinderfreundegruppe „Kurt und Frieda“, Archiv Arbeiterjugendbewegung (AAJB) KF L 22/2.)
Zu den regelmäßig veranstalteten Festakten gehörten die Verfassungsfeier, die feierliche Inszenierung des Antikriegstags und Auftritte am 1. Mai. Hinzu kamen viele kleine, individuell gestaltete Feste in den lokalen Ortsgruppen. Diese Veranstaltungen sollten die emotionale Verbundenheit der Mitglieder fördern und sie politisch orientieren. Eine solche Orientierung gab auch das Puppenspiel, mit dem das Ehepaar Felix und Irma Fechenbach in die Kinderfreundebewegung wirkte und das viele Helfer*innen aufgriffen: Der rote Kasper vermittelte sozialistische Werte in Abgrenzung zu den bürgerlichen Werten des ‚anderen‘ Kaspers. Er verzichtete auf Gewalt und raue Worte, stattdessen präsentierte er sich als Helfer der Unterdrückten und als Kinderfreund.
Zu dem kulturellen Programm der Kinderfreundebewegung gehörten weiterhin auch Volkstanzabende und Neigungsgruppen, in denen die Kinder verschiedene Fertigkeiten wie Nähen oder Singen erlernen konnten. Mit Begeisterung, so hielten die Kinder es in ihren Gruppenbüchern fest, führten sie Erlerntes später auf. Falkengruppen berichten von ihren Gruppentreffen und Fahrten, wo sie regelmäßig Arbeiterlieder sangen und Märchen vorgelesen wurden. Hinzu kamen das gemeinsame Planen von Unternehmungen, Wanderungen, kleinere Diskussionsrunden und am präsentesten: das Spiel; ob langfristig geplant oder spontan entstehend wie Völker- und Fußball oder das freie Spiel im Wald und auf Wiesen. Einige der Angebote waren in ähnlicher Form auch in der bürgerlichen Jugendbewegung zu finden, andere tradierten sich aus der Kultur der Arbeiter*innenbewegung. Die Kinderfreunde führten sie, mit sozialistischen Idealen versehen, in der sozialistischen Erziehung zusammen.
Das kulturelle Programm der Kinderfreunde stärkte das Gruppengefühl und regte eine Identifizierung mit der Arbeiter*innen- und Kinderfreundebewegung an. Dabei zeichnete die Organisation im Spiel Bilder politischer Gegner*innen, wie die der NSDAP. Dazu propagierte die Kinderfreundebewegung sozialistische Ideale wie Solidarität, Pazifismus und Freundschaft und bereitete den Kindern Spaß im Spiel mit Gleichaltrigen, selbstbestimmt und frei in der Bewegung außerhalb beengter Wohnverhältnisse. Das kulturelle Angebot sollte den Stolz der Kinder fördern, damit sie aus ihrer vereinzelten Position gelöst in einem Kollektiv ihre Heimat finden können. Kombiniert mit der demokratischen Selbstverwaltung entstand eine Inszenierung des sozialistischen Kindes, das sowohl agitierend auf die Kinder wirkte und gleichzeitig zur Selbsttätigkeit ermunterte.
Bis zu ihrem Verbot im Nationalsozialismus erreichten die Kinderfreunde hunderttausende an Kindern. Zu ihnen gehörten nicht nur diejenigen, die in den Kindergemeinschaften aktiv waren, sondern auch einige, die spontan an freien Angeboten teilnahmen. Doch die unmittelbare Wirkung der sozialistischen Erziehung auf die Kinder lässt sich nur schwer ermitteln. Der Nationalsozialismus durchkreuzte das Ziel, Kinder zum Aufbau einer sozialistischen Gesellschaft zu befähigen. Er zerstörte die Strukturen und materiellen Güter der Kinderfreunde, verbot die Teilnahme, verfolgte Funktionär*innen und prägte zugleich mit seiner Ideologie viele Kinder. Erst nach dem Ende des zweiten Weltkriegs bauten ehemalige Kinderfreunde-Helfer*innen, die aus dem Exil oder der inneren Emigration zurückkehrten und aus Konzentrationslagern befreit wurden, einen neuen sozialistischen Kinder- und Jugendverband auf. Die Sozialistische Jugend Deutschlands – Die Falken, als Nachfolgeorganisation der SAJ und der Kinderfreundebewegung, wurde in der DDR verboten, auch wenn die Jugendarbeit der SED einzelne Begriffe und Strukturen der Kinderfreundebewegung übernahm. In der BRD waren die Falken ein wichtiger Akteur der Kinder- und Jugendverbandsarbeit. Einige der Kinder und Helfer*innen, die in den 1920er Jahren bei den Kinderfreunden aktiv waren, brachten sich nach 1945 in der Sozialdemokratie ein. Sie engagierten sich in lokalen Gruppen oder machten in der SPD politische Karriere. Das prominenteste Beispiel ist Willy Brandt, der, damals noch als Herbert Frahm, bei den Kinderfreunden Mitglied war und als Helfer in Kinderrepubliken mitfuhr. Mittlerweile sind die Falken ein parteiunabhängiger Verband, der weiterhin demokratische Bildungsarbeit mit Kindern und Jugendlichen leistet und in dem der sozialistische Erziehungsgedanke weiterlebt.
Irmela Diedrichs
Brücher, Bodo, Die Selbstverwaltung im Erleben und Handeln der Kinderfreunde, in: Auf dem Weg zu einer sozialistischen Erziehung. Beiträge zur Vor- und Frühgeschichte der sozialdemokratischen „Kinderfreunde“ in der Weimarer Republik. Eine Festschrift für Heinrich Eppe, hg. von Roland Gröschel, Essen 2006, S. 121-135.
Brücher, Bodo, Kollektives Denken, Fühlen, Wollen und Handeln. Die Gruppe der Kinderfreunde, in: Mitteilungen des Archivs der Arbeiterjugendbewegung, Bd. 1 (2012), S. 19-24.
Diedrichs, Irmela, Darstellung und Vermittlung des sozialistischen Demokratiekonzepts. Die Kinderrepublik Seekamp 1927 der Reichsarbeitsgemeinschaft der Kinderfreunde, in: Bildung und Demokratie in der Weimarer Republik, hg. Von Andreas Braune, Sebastian Elsbach, Ronny Noak, in: Weimarer Schriften zur Republik, Bd. 19, Stuttgart 2022, S. 249-271.
Eppe, Heinrich, Die „Kinderfreunde“-Bewegung, in: Sozialistische Jugend im 20. Jahrhundert. Studien zur Entwicklung und politischer Praxis der Arbeiterjugendbewegung in Deutschland, hg. von Heinrich Eppe, Ulrich Herrmann, in: Materialien zur Historischen Jugendforschung, hg. von Ulrich Herrmann, München/Weinheim 2008, S. 160-188.
Löwenstein, Kurt, die Aufgaben der Kinderfreundebewegung, in: Sozialistische Monatshefte, (35) 1929, 12, S. 1116-1120.
Richartz, Nicolaus, Die Pädagogik der „Kinderfreunde“: Theorie und Praxis sozialdemokratischer Erziehungsarbeit in Osterreich und in der Weimarer Republik, Basel Weinheim 1981.
Schäfer, Ingrid, Irma Fechenbach-Fey. Jüdin, Sozialistin, Emigrantin 1895-1973, Detmold 2003.
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