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Weshalb unsere unklare Erwartungshaltung und die allgemeine Unschärfe darüber, was Europa ist und leisten kann, ursächlich für Europas gegenwärtige Schieflage sind.
Bild: Businessman Bild: Businessman Urheber: Pascal Lizenz: CC0 1.0 Universal (CC0 1.0)
Sie haben es wirklich getan – spätestens seit dem richtungsweisenden Ergebnis des 23. Junis beleuchten Medien und Öffentlichkeit mit leicht wohligem Schaudern das Leave-Votum des britischen Volkes aus jeder erdenklichen Perspektive. Dabei wird man das Gefühl nicht los, alles sei von irgend wem irgend wo schon einmal gesagt oder geschrieben worden. Die Erregungsmaschine läuft auf Hochtouren und hat dabei genüsslich bereits die nächste Euro-Krise ausgemacht. Meist schwankt die gängige Lesart zwischen Unglauben und der Überbetonung britischer Besonderheiten. Unter dem Strich steht dann wahlweise ein Sieg der Provinz über die aufgeschlossene, multikulturelle Großstadtgesellschaft, ein Triumph der alten, in ihrer nationalen Tradition verwurzelten Generation über die junge, weltoffene. Denn sie wussten nicht, was sie taten! Und überhaupt, jetzt müsse die EU doch bitte Härte zeigen, um Nachahmern und Trittbrettfahrern die Anreize zu nehmen.
Weshalb brauchen wir Europa?
So verständlich dieses Bedürfnis nach Einordnung ist und so berechtigt die meisten der Einwürfe auch sein mögen, sie gehen am eigentlichen Problem vorbei. Dass sich die britische Bevölkerung nach Spielregeln, die sicherlich Fragen aufwerfen, gegen eine Mitgliedschaft in der europäischen Union ausgesprochen hat, ist nicht nur ihr gutes Recht, sondern auch nicht mehr als der äußerst bedauerliche Sonderweg eines einzelnen, zugegeben wichtigen Mitglieds der Gemeinschaft. Erst im gesellschaftlichen Kontext der übrigen EU-Mitgliedsstaaten wird daraus die Erzählung einer existenziellen Krise. Dies gilt es zu hinterfragen.
Eine mangelnde Vorstellung der europäischen Zusammenarbeit ist mitnichten auf eine Mehrheit der Briten beschränkt. Auch in weiten Teilen der übrigen Mitgliedsstaaten herrscht ein seltsam diffuses und unbestimmtes Verhältnis zu ihr. Europa ist wie die kauzige Großtante, die immer zu den rauschenden Familienfesten einlädt, gefühlt schon immer da war und von der man deshalb annimmt, dass es wohl schlecht wäre, wenn sie fehlen würde. Der einfache Wähler, dem zurzeit so gerne Irrationalität nachgesagt wird, hat im Allgemeinen ein sehr feines Gespür dafür, ob eine Position – in dem Fall die pro-europäische – konsistent aus innerer Überzeugung heraus oder aus politischer Opportunität vertreten wird. Warum Raunen wir ängstlich von einem Dominoeffekt und dem drohenden Ende der Europäischen Union anstatt mit gelassenem Selbstbewusstsein darauf zu verweisen, dass die freie britische Entscheidung sich für das Vereinigte Königreich in Zukunft mit Sicherheit als falsch herausstellen wird? Oder anders gefragt, wann und warum haben Verfechter der europäischen Idee eigentlich aufgehört, von der Richtigkeit ihres Ansatzes überzeugt zu sein und auf dessen ureigene, in Jahrzehnten bewiesene Strahlkraft zu vertrauen? Es lohnt sich, kurz innezuhalten und das Brexit-Referendum zu prüfen auf generalisierbare Erkenntnisse abzuklopfen. Zwei Befunde fallen ins Auge:
Von der Kunst des immerwährenden Interessenausgleichs …
Der erste ist die populistische Dimension des Referendums und die geht weit über die vielbeschworene Gefahr durch rechtspopulistische Parteien als Brandbeschleuniger hinaus. Man kann schwerlich verneinen, dass das Remain-Lager den Wettstreit um die Faktenlage klar für sich entscheiden konnte, weil die Brexit-Befürworter größtenteils erst gar nicht versucht haben, argumentativ eine Deutungshoheit im politischen Raum für sich zu schaffen oder eine klare ‚day-after‘-Strategie zu formulieren. Damit war nicht eine politisch-argumentative Abwägung im Kern der Entscheidung, sondern eine emotionale. Dies folgt unmittelbar aus einem rechtspopulistischen Politikstil, der in einem nationalen Bezugsrahmen auf die Bildung einfacher Gegensatzpaare von ‚wir‘ gegen ‚die‘, ‚Volk‘ gegen ‚Elite‘, ‚ja‘ und ‚nein‘ oder auch auf monokausale Argumentationsketten wie ‚wenn A‘ dann ‚zwingend B‘ abhebt. Diese Logik scheint offenbar bereits viel breiter akzeptiert zu sein als wir alle es für möglich gehalten haben. Beide Seiten der Kampagne, auch das Remain-Lager, haben unerträglich bis zur Unredlichkeit zugespitzt. Das darf und muss man sicherlich beklagen. Zielführender scheint allerdings, sich die Funktionslogik von populistischer Argumentation zu vergegenwärtigen. Auch wenn es Camerons Kardinalfehler war, aus innenpolitischen Erwägungen die Frage der EU-Mitgliedschaft überhaupt auf die Tagesordnung gesetzt zu haben; wirklich fatal war sein Versäumnis, die Debatte nicht mit einer klaren Benennungen von Defiziten in geordnete Bahnen gelenkt und stattdessen ein simplifizierendes ‚dafür‘ oder ‚dagegen‘ zugelassen zu haben. Damit war einer emotionalen Debatte ohne jeglichen Tiefgang Tür und Tor geöffnet, die den zu Beginn formulierten Anspruch, die europäische Zusammenarbeit verbessern zu wollen, ad absurdum geführt hat. Dass das auch anders möglich gewesen wäre, haben die EU-Beitrittsreferenden in den Nordischen Staaten Mitte der 1990er Jahre gezeigt.
Gleichwohl darf man nun keineswegs aus dem Verlauf des Brexit-Referendums ableiten, dass es kein Halten mehr gibt, sobald der populistische Geist aus der Flasche ist. Das Gegenteil ist der Fall: Die Schockwellen in der britischen Gesellschaft nach dem Votum beweisen eindrücklich, dass die Mär der Populisten, für die schweigende Mehrheit zu sprechen, eben genau das ist – ein Märchen. Mit ihrer Suche nach polarisierenden, emotionalisierbaren Gegensatzpaaren untergraben sie die Fähigkeit einer Gesellschaft zum Kompromiss. Alles Entgegenkommen wird als Verrat an der reinen Lehre dargestellt. Damit einher geht aber zugleich der Verlust des demokratischen Grundprinzips vom Interessenausgleich verschiedener Gruppen untereinander, was wiederum Mehrheitsentscheidungen die breite gesellschaftliche Akzeptanz kostet. Das gegenwärtige britische Chaos belegt dies eindrucksvoll. Wer nicht irgend wann einmal im Lager ‚der anderen‘ enden und gnadenlos überstimmt werden will, braucht also ein Gesellschaftsmodell, das die Abwägung von eigenen und fremden Interessen institutionalisiert. Genau das tut die europäische Idee! Sie ist zu aller erst als Politikstil ein Versprechen, den Anderen und seine Sicht der Lage zu achten und ernst zu nehmen, um gemeinsam, gleichberechtigt an einer besseren Zukunft zu arbeiten. Eben diese Frage nach der inklusiven Gestaltung der Zukunft ist der emotionale Hebel, der aus dem britischen Beispiel gewonnen werden kann. Um ihn zu nutzen, müssen wir uns aber im Klaren sein, dass die Akzeptanz einer komplexen Welt mit Interessengegensätzen untrennbar mit unserer Vorstellung von Zukunftsgestaltung verknüpft ist, für die die europäische Idee eine Antwort liefert. Wer hingegen der populistischen Versuchungen eines binären Weltbilds und dessen solidem Handwerkszeug erliegt, um eigene Ziele ohne Abstriche durchsetzen zu können, bereitet den Boden für die kommenden Erfolge von Populisten! Das sollte sich jeder Kommentator bewusst machen, der mit Blick auf das ‚europäische Geschacher‘ fragt, was ‚die da‘ in Brüssel eigentlich nun schon wieder im Schilde führen, wann es denn endlich in ‚die richtige Richtung‘ voran geht und warum nicht zur Abwechslung mal ‚mit einer Stimme‘ gesprochen wird.
… und der Einsicht, nicht allein der Gunst des Homo oeconomicus verpflichtet zu sein
Wer jetzt aber – und das ist die zweite ernstzunehmende Erkenntnis aus dem Brexis-Referendum – die entstandenen Verwerfungen als Kommunikations- und Marketingproblem der EU abtut, tappt in eine gedankliche Falle, die uns eine jahrzehntelange Fixierung auf neoliberale Logik mit ihrer Geschichte der alternativlosen Entwicklung gestellt hat. Der gesellschaftliche Gegensatz zwischen den so genannten Globalisierungsgewinnern und –verlierern in Großbritannien ist real und ähnlich auch in anderen Mitgliedsstaaten nachweisbar (Studie EU vor Bewährungsprobe - Was erwarten, worum sorgen sich die Bürger?). Die oft bemühte plakative Forderung, es genüge, der europäischen Zusammenarbeit einen neuen Narrativ zu verpassen, verkennt völlig den Scheideweg, an dem die Europäische Union – nicht unbedingt die europäische Idee als Ganzes – nun steht. Zentrale Begriffe des traditionellen europäischen Narratives sind Frieden, also im erweiterten Sinne gewalt- und zwangloser Interessenausgleich, und Wohlstand, also die positive Gestaltung von Zukunft. Was bitteschön soll denn ein substanziell neuer Narrativ zum Inhalt haben?
Das Versprechen des Friedens hat sich nachweislich, auch für Großbritannien mit Blick auf Nordirland, erfüllt. Das Versprechen der positiven Zukunftsgestaltung aber, und das sollte nachdenklich stimmen, konnte für breite Bevölkerungsschichten in den letzten Jahren nicht mehr eingelöst werden. Die Unterstellung, viele Abgehängte in Großbritannien hätten die wirtschaftlichen Folgen schlicht nicht überblickt oder sich nicht dafür interessiert, ist bestenfalls arrogant. Wahrscheinlicher scheint, dass diese Menschen trotzdem gegen die EU-Mitgliedschaft votiert haben, weil sie nichts zu verlieren glaubten und Brüsseler Politik eben nicht mit einer besseren Zukunftsgestaltung verbunden haben, die ihre eigenen Interessen gleichberechtigt neben anderen abwägt. Für die meisten Brexit-Wähler stachen Befürchtungen über Migration schlicht wirtschaftliche Erwägungen aus. Es ist daher an der Zeit, sich der ursprünglichen Werte der europäischen Gründerväter zu erinnern: Die Europäische Gemeinschaft für Kohle und Stahl nutzte Wirtschaft als Mittel zum Zweck für gegenseitige Rüstungskontrolle, um Vertrauen zu bilden. Wirtschaftliche Prosperität ist in diesem Verständnis zwar die Grundvoraussetzung für eine positive Zukunftsgestaltung, muss aber zugleich zwingend Teil der Interessenabwägung sein, zu der beispielsweise auch Arbeitnehmer- und Verbraucherrechte ebenso gehören müssen wie gesellschaftliche Umverteilung und grenzüberschreitende Solidarität. Das ist es, was sich hinter der abstrakten Forderung der Sichtbarkeit und Bürgernähe Europas verbirgt.
Zurück in die Zukunft – ein Plädoyer für den Wert des Kompromiss
Das Brexit-Votum des britischen Volkes ist ein krachender Ruf nach Sinn und Zukunft der europäischen Zusammenarbeit. Die Antworten darauf sind – so langweilig und banal dies auch klingen mag – diegleichen wie vor zehn, zwanzig und sechzig Jahren. Der reflexhafte Ruf nach einem Mehr an Europa kann indes nur dann von Erfolg gekrönt sein, wenn Europa nicht als Selbstzweck begriffen wird, sondern wenn man versucht alle Interessen gleichberechtigt einzubeziehen. Das heißt konkret, wer nun einen Themenbereich für ein gemeinsames europäisches Projekt auf den Tisch bringt, sollte auch neuerlich willens und in der Lage sein, von eigenen Idealvorstellungen und Nutzen abweichende Ergebnisse als Erfolg zu akzeptieren. Natürlich ist das langwierig, mühselig, im Ergebnis oftmals nicht perfekt und es wäre viel schöner, wenn es vernünftig demokratisch legitimiert wäre. Aber so ehrenwert es auch ist, die Kür der demokratischen Verantwortlichkeit anzustreben, die Pflicht – und damit der erste Schritt – ist es, den Wert des Ausgleichs an sich wieder zu erkennen. Den gilt es dann in der Tat wieder selbstbewusst als europäischen Mehrwert darzustellen. Oder, um im Bild zu bleiben, die Gefahr ist real, dass sich keiner findet für die Einladungen zu den rauschenden Familienfesten, wenn die Großtante Europa einmal nicht mehr da ist. Was Europa daher jetzt braucht, ist eine Selbstvergewisserung, und – frei nach Friedrich Ebert – Europa braucht Europäer. Denn sie erkennen den Wert des Kompromisses: Es ist der Preis, den wir alle zahlen müssen, wenn wir nicht plötzlich morgen bei ‚den Anderen‘ aufwachen wollen.
48 Prozent der Briten wollten den Brexit nicht und werden jetzt von keiner relevanten Partei mehr vertreten.
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