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von Jakob Kapeller
Europas ökonomische Divergenz
Die Sicherung und der Ausbau von Frieden, Freiheit und Wohlstand für alle Europäer_innen bildet den ideellen Kern des europäischen Integrationsprozesses, der wiederum auf dem Versprechen eines harmonischen und geeinten Europas beruht. Im Kontrast zum utopischen Potenzial dieses Versprechens steht eine ganze Reihe aktueller Herausforderungen. Sie lassen sich in zwei Gruppen unterteilen. Zum einen bestehen exogeneHerausforderungen wie Klimawandel, Automatisierung, steigende globale Ungleichheit oder Digitalisierung. Zum anderen existieren aber auch endogeneHerausforderungen, Fehlentwicklungen also, die zumindest teilweise aus dem bestehenden europäischen Institutionengefüge resultieren. Sie schränken die politischen und wirtschaftlichen Handlungsmöglichkeiten Europas so stark ein, dass exogenen Herausforderungen nicht mehr die nötige politische Aufmerksamkeit zukommt.
Zu diesen endogenen Problemen zählt ein Prozess ökonomischer Polarisierung, der dem Konvergenzversprechen diametral entgegensteht: Anstelle der erhofften Angleichung der Lebensstandards innerhalb der Eurozone und Europas beobachten wir eine zunehmende ökonomische Divergenz unter den Mitgliedstaaten, in deren Rahmen ökonomisch schwächere Staaten relativ gesehen zusehends ärmer, ökonomisch stärkere Staaten aber zusehends reicher werden. Davon ausgehend zeigt sich bei genauerer Analyse dreierlei: (1) die ökonomische Polarisierung unter den Mitgliedstaaten spiegelt sich auch auf der Ebene technologischer Kapazitäten wider; (2) mit hoher Wahrscheinlichkeit trägt eine solche technologische Polarisierung langfristig zu einer weiteren Divergenz der Lebensstandards bei; (3) die Umkehrung dieser technologischen Polarisierung bedarf einer umfassenden und gezielten politischen Intervention.
Die ökonomische Polarisierung der Eurozone und Europas steht in engem Zusammenhang mit einem innereuropäischen Standortwettbewerb, der wiederum durch den grundsätzlichen Vorrang der vier ökonomischen Grundfreiheiten sowie den engen geld- und fiskalpolitischen Rahmen der Union bedingt ist. Letztlich hat dieser Wettbewerb zur Herausbildung unterschiedlicher Wachstumsmodelle in Europa beigetragen, die entweder auf überlegener Technologie (Nord- und Mitteleuropa), niedrigen Lohnkosten (Teile von Osteuropa) oder finanzieller Deregulierung und niedrigen Gewinnsteuersätzen (z. B. Irland, Luxemburg, die Niederlande) beruhen und ökonomisch unterschiedlich erfolgreich sind. Jene Länder, die in diesem europäischen Standortwettbewerb mit keinem dieser Vorteile aufwarten können, haben in den allermeisten Fällen mit ökonomischer Stagnation zu kämpfen, die mittelfristig jedes Vertrauen in das europäische Konvergenzversprechen untergraben muss. Letzteres ist insbesondere für die Ökonomien Südeuropas der Fall.
Die Rolle der Technologie
Der Prozess der ökonomischen Polarisierung in Europa lässt sich auf verschiedenen Ebenen beschreiben, etwa durch die Betrachtung von Wachstums- und Einkommensunterschieden, die Analyse auseinanderdriftender Leistungsbilanzsalden (insbesondere vor der Finanzkrise), die Auseinandersetzung mit innereuropäischen Migrationsbewegungen oder die Beobachtung wirtschaftspolitischer Konfliktlinien zwischen den Mitgliedstaaten. Über diese Betrachtungen hinaus lässt sich aber auch fragen, bis zu welchem Grad der ökonomische Polarisierungsprozess mit steigender technologischer Polarisierung einhergeht. Genau darum geht es in diesem Beitrag.
Für ein tieferes Verständnis des ökonomischen Desintegrationsprozesses in Europa ist diese Fragestellung aus zweierlei Gründen relevant. Einerseits besteht auf Länderebene eine relativ stabile Korrelation zwischen technologischen Kapazitäten und Einkommensniveau, die nahelegt, dass sich eine ansteigende technologische Polarisierung mittelfristig in noch höhere Einkommensunterschiede übersetzen wird. Andererseits bietet insbesondere die Phase nach der Finanzkrise 2008/09 Gelegenheit zu analysieren, ob sich die durch die Finanzkrise ausgelöste (relative) ökonomische Stagnation Südeuropas auf die (relative) Entwicklung technologischer Fähigkeiten ausgewirkt hat. Dies würde auf eine Wechselwirkung zwischen Technologieentwicklung und Wirtschaftsleistung und damit auf die Möglichkeit einer Pfadabhängigkeit hindeuten, die ohne politische Steuerung prädestiniert ist, persistente ökonomische Polarisierung in die europäische Wirtschaftsentwicklung einzuschreiben.
Genau diese negative Wechselwirkung zeigt sich in empirischen Analysen. Gerade in den besonders stark und nachhaltig von der Finanzkrise 2008/09 betroffenen südeuropäischen Ländern sind die technologischen Kapazitäten seither weitgehend stagniert, während etwa Deutschland seine globale Vorreiterrolle hinsichtlich technologischer Standards ausbauen konnte. Eine schwächere Wirtschaftsentwicklung geht in diesem Sinne auch mit einer geringeren Innovationsneigung bzw. kleineren Produktivitätssteigerungen einher, wodurch langfristig die Position der betroffenen Länder weiter geschwächt wird.
Aktuelle Politiken als Verstärker technologischer Polarisierung
Dieser pfadabhängige Prozess kann als zentrale Triebkraft der europäischen Desintegration verstanden werden. Zumeist wird sie durch die Unterscheidung der schon benannten „Wachstumsmodelle“ charakterisiert, die jeweils unterschiedliche Entwicklungspfade repräsentieren. National mögen die von einzelnen Ländern verfolgten Strategien zur Vermeidung des Dilemmas der ökonomischen Polarisierung zwar stellenweise erfolgreich sein. Für eine gesamteuropäische Lösung lässt sich aus ihnen aber wenig gewinnen, da sie auf Standortfaktoren wie technologischer Weltmarktführerschaft (z.B. Deutschland) oder steuerpolitischer Attraktivität (z.B. Irland) beruhen, die nicht ohne weiteres auf andere Länder übertragbar sind.
Bleibt also die Frage, wie die aktuellen Politiken auf europäischer Ebene Einfluss auf diese Polarisierungstendenzen nehmen. Auch hier zeigt sich, dass diese eher verstärkend denn abschwächend wirken. Die restriktive fiskalpolitische Linie der EU und das gemeinsame Wettbewerbsrecht setzen der Umsetzung alternativer Strategien, die auf einer Ausweitung staatlicher Aktivitäten im Bereich der Konjunktursteuerung oder auf Innovations- und Industriepolitik beruhen, sehr enge Grenzen. Die Fiskalpolitik wirkt asymmetrisch und neigt dazu, die durch das Herausbilden unterschiedlicher Wachstumsmodelle entstandene pfadabhängige Divergenz weiter zu verstärken.
Ähnliches kann über andere europäisch geprägte Politikbereiche gesagt werden. So hat die gemeinsame europäische Geldpolitik klassische Instrumente der nationalen Geld- und Währungspolitik, wie etwa einseitige Wechselkursabwertungen, obsolet gemacht, sieht aber zugleich hohe Hürden für jene vor, welche versuchen, die technischen Potenziale einer europäischen Nationalbank für die Finanzierung konkreter Politiken – etwa für Investitionen in strukturschwache Regionen oder für solche zur Bewältigung des Klimawandels – nutzbar zu machen. Im Bereich der Arbeitsmarktpolitik zeichnen sich europäische Initiativen ebenfalls durch den einseitigen Fokus auf die fortschreitende Liberalisierung von Arbeitsverhältnissen aus und negieren, dass stabile Beschäftigungsverhältnisse sowohl konjunkturell hilfreich als auch innovationspolitisch förderlich sind. Auch die fehlende Ausweitung der europäischen Steuerpolitik in Richtung einer höheren Transparenz und Harmonisierung der Mindeststeuersätze ist ein Faktor, der den bestehenden Standortwettbewerb zwischen den EU-Mitgliedsländern weiter verstärkt.
Mit wenigen Ausnahmen ignorieren oder verstärken europäische Politiken bestehende Polarisierungstendenzen. Dazu passt leider die fehlende – oder verfehlte – Langfriststrategie in der europäischen Technologie- und Infrastrukturpolitik, die nach wie vor in viel zu geringem Maße versucht, Zukunftsbereiche wie Verkehrsinfrastruktur, klimafreundliche Technologien oder Nutzung neuer digitaler Spielräume in einem europäischen Sinne zu gestalten. Nirgendwo ist dies in Zeiten des Klimawandels so klar ersichtlich wie bei der Betrachtung des Fehlens einer transkontinentalen Schieneninfrastruktur, deren Aufbau in den vergangenen beiden Dekaden in beschämend hohem Maße an vermeintlich effiziente Marktmechanismen delegiert wurde.
Politik zur Förderung ökonomischer und technologischer Konvergenz
Die Umkehrung des ökonomischen Polarisierungsprozesses in Europa muss deshalb in ein Maßnahmenpaket eingebettet werden, das auch jene wirtschaftspolitischen Pfeiler der Eurozone kritisch befragt, die die bestehende Entwicklung zumindest teilweise mitverursacht haben. Sich aus der Falle endogener Fehlentwicklungen zu befreien ist Voraussetzung dafür, neu auftretenden exogenen Herausforderungen möglichst entschieden entgegentreten zu können.
Es gilt, neue Begriffe gesellschaftlichen Wohlstands zu finden, die mit einer sozial und ökologisch nachhaltigen Entwicklung tatsächlich kompatibel sind. Statt Konkurrenz der Standorte ist mehr wirtschaftspolitische Koordination sowie mehr europäische Solidarität gefordert. Wirtschaftlich starke Ökonomien müssen durch die Aufrechterhaltung hoher Lohn- und Sozialstandards, öffentliche Investitionsprogramme und eine größere innereuropäische Zahlungsbereitschaft aktiv in den europäischen Zusammenhalt investieren. Zugleich gilt es, die Regulierung der Finanzmärkte stärker voranzutreiben und die institutionelle Architektur der Wirtschafts- und Währungsunion zu reformieren – etwa durch eine problemadäquate Weiterentwicklung des fiskalpolitischen Regelwerkes oder die Etablierung einer substanziellen gemeinsamen fiskalischen Kapazität. Auf dieser Basis ließe sich auch das Mandat der EZB um Bereiche wie Arbeitsmarktstabilisierung, Spekulationsabwehr oder Finanzierung gesamteuropäisch relevanter Investitionen erweitern.
Darüber hinaus braucht es neue und innovative Strategien, die stärker auf eine grundlegende Repositionierung Europas als gestaltende Kraft in der globalen Wirtschaftsordnung abzielen. Menschen-, arbeits- und umweltrechtliche Anforderungen an europäische Handelspartner müssen aufgewertet und im Zweifelsfall mit Importsanktionen verknüpft werden. Damit könnten die ausgereiften wohlfahrtsstaatlichen Systeme Europas vom Standortnachteil im internationalen Wettbewerb (wieder) zu einem Vorbild für die globale gesellschaftliche Entwicklung werden. Das würde kurzfristig gerade den Industrien in Südeuropa stark nutzen, die sich, im Gegensatz zu vielen Industriezweigen Nord- und Mitteleuropas, in einem kaum zu gewinnenden Preiskampf um Marktanteile mit (süd)ost-asiatischen Herstellen befinden.
Eine zweite Säule dieser Repositionierung Europas könnte in einer gemeinsamen Infrastruktur-, Industrie- und Technologiepolitik liegen, die den durch technologische Veränderung induzierten sozioökonomischen Wandel zu gestalten sucht, um exogene Zukunftsherausforderungen gezielt zu adressieren. Diese gestaltende Funktion des Staates in spezifischen Bereichen – Grundlagenforschung beispielsweise, Basisinfrastruktur und soziale Daseinsvorsorge – würde die tragfähige Basis bilden für erfolgreiche politische Herangehensweisen an sektorale Problemstellungen, etwa im Bereich der transkontinentalen Verkehrsinfrastruktur, der Emissionsregulierung in der industriellen Produktion oder der wohlfahrtssteigernden Nutzung der Potenziale digitaler Technologien. Komplementieren könnte man eine derartige Herangehensweise mit einer gezielten Industriepolitik, die auf den Ausbau technologischer Kapazitäten in wirtschaftlich hinterherhinkenden Mitgliedsländern und damit auf einen regionalen Wohlstandsausgleich in Europa fokussiert.
Die Umsetzung einer solchen Politik braucht eine grundlegend neue Finanzierungsstrategie – alleine die zur Bewältigung der Herausforderung des Klimawandels nötigen Investitionen bewegen sich weit außerhalb der bisher auf europäischer Ebene üblichen Budgetdimensionen. Sie könnte als dritte Säule sowohl die Schaffung neuer Einnahmequellen als auch das Hinterfragen bisher etablierter Finanzierungsmodalitäten umfassen. Mit Bezug auf Ersteres wäre etwa eine Digitalsteuer, eine europäische Vermögens- bzw. Kapitalertragssteuer, eine Finanztransaktionssteuer oder ein direkter Verkauf von Emissionslizenzen anzudenken. Dabei geht es vor allem darum, Finanzierungssicherheiten für zentrale Zukunftsprojekte auch jenseits privater Kapitalquellen sicherzustellen – eine Anforderung, wie bereits angedeutet, auch dazu führen muss, die Grundausrichtung der EZB zumindest stellenweise zu überdenken.
Europa kann sich selbst aus seiner misslichen Lage befreien. Allerdings wird dies nur durch eine selbstbewusste Repositionierung im Sinne eines Europas gelingen, das sich den Zukunftsherausforderungen des 21. Jahrhunderts auch tatsächlich geeint stellt.
Jakob Kapeller (www.jakob-kapeller.org) ist Professor für Sozioökonomie an der Universität Duisburg-Essen und Leiter des Instituts für die Gesamtanalyse der Wirtschaft an der Johannes Kepler Universität Linz.
Die im Beitrag zum Ausdruck gebrachten Ansichten sind nicht notwendigerweise die der Friedrich-Ebert-Stiftung.
Bei dem Beitrag handelt es sich um eine gekürzte Vorabveröffentlichung. Die Langfassung des Textes ist als WISO direkt erschienen.
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